Familienessen

Eine gefühlte Ewigkeit später stand Ria unentschlossen vor ihrem Schrank. Hier hingen viele schöne Kleider, doch keines war zum Kämpfen geeignet.

„Es gibt viele Arten von Kampf." Angezogen trat Eleasar neben seine Frau. Sie musterte seine lockere Stoffhose und das eng geschnittene Hemd. Beides stand ihm verdammt gut.

„Schon. Nur ist es nicht mein Ding, mich mit Intrigen abzugeben."

Ihr die Entscheidung abnehmend zog er ein dunkelrotes knöchellanges Kleid aus dem Schrank. „Das sollst du auch nicht. Beim Mittagessen sind nur meine Eltern und Geschwister, sowie Aram und Adele anwesend. Das verpassen wir gleich übrigens, wenn du dich nicht langsam anziehst."

Am liebsten hätte Ria sich unters Bett und dort in die hinterste, entlegenste Ecke verkrochen. Ihr knurrender Magen machte ihr da allerdings einen Strich durch die Rechnung. Nach dem Duschen hatte er ihr eröffnet, dass seine Familie im Unterschoss auf sie wartete, um das neue Familienmitglied kennenzulernen. Seufzend griff sie nach dem Kleid, das er ihr hinhielt und zog es sich über. „Immerhin behindert es mich nicht beim Gehen."

Ein wenig unzufrieden betrachtete Eleasar sie. Sie sah unglaublich aus. „Vielleicht solltest du doch etwas anderes anziehen." Er wollte nicht, dass die anderen sahen, was er in ihr sah.

Finster starrte sie ihn an. „Nie im Leben. Da gehe ich lieber nackt." Für heute hatte sie genug Kleider angezogen.

„Lass dich von niemandem anmachen. Nicht einmal von Kilian." Seufzend wandte er sich ab. Es war schwer zu ertragen, dass sie sich in solchen Sachen unter die Leute begab. Ihre Schönheit sollte nur für ihn allein zu sehen sein.

Ria stutze, schien dann zu begreifen und lief ihm breit grinsend hinterher, zurück ins Schlafzimmer. „Eifersüchtig?"

Er warf ihr einen strengen Blick zu. „Besser, du sprichst mich nicht mehr darauf an, bis wir mit dem Essen fertig sind."

Sie sagte zwar nichts mehr, trotzdem war ihr glückliches Grinsen aussagekräftig genug. Er war ganz froh darüber, dass ihr der Hunger dieses zufriedene Grinsen wenigstens ein bisschen aus dem Gesicht wischte. Angespannt berührte er eines der unsichtbaren Felder, woraufhin sich ein kleiner Wandschrank öffnete. „Hier."

Begeistert betrachtete sie die flachen, sandfarbenen Schuhe, die er ihr hinhielt. Die roten Bänder, die er ihr zusätzlich reichte, legte sie desinteressiert beiseite. Sie wollte ihre Haare nicht zusammenbinden. „Kein Absatz?" Die Schuhe ließen sich fast wie Socken überziehen. Leider war der Schaft zu weit, als dass sie so hielten. Nach kurzem Herumexperimentieren hatte sie herausgefunden, wie sie das zum Kleid passende dunkelrote Band wickeln musste, damit sie die Schuhe unterwegs nicht verlor. Der Stoff fühlte sich himmlisch leicht an und musste demnach ein Vermögen gekostet haben. Aber was hatte Adele gesagt? Eleasar war verdammt reich.

Eben dieser verdammt reiche Mann beobachtete sie schweigend von der Tür aus, bis sie sich mit ihrer improvisierten Schnürtechnik angefreundet hatte. Lächelnd hielt er ihr die Türe auf.

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Begeistert lief sie auf den weiten Flur hinaus und sah sich neugierig um. „Wo geht's lang?" Von plötzlicher Aufregung erfasst, begannen ihre Augen von innen heraus zu leuchten.

Nur mit Mühe konnte er den Impuls unterdrücken, sie im Schlafzimmer einzusperren. Gleichzeitig ärgerte er sich über sich selbst und darüber, dass er ihr so hoffnungslos ausgeliefert war. Dass es sich andersrum ebenso verhielt, war nur ein schwacher Trost. Besitzergreifend verschränkte er seine Finger mit ihren. „Hier entlang."

Er führte sie die Treppe hinunter und durch die edel anmutende Eingangshalle, auf die sie gestern schon einen Blick hatte werfen können, in einen weiteren ausladenden Flur. Auch hier schrie alles nach kühler Eleganz. Sie fragte sich, ob das Eleasars Handschrift war oder es einfach zum guten Ton gehörte, so viel Prunkt wie möglich und so wenig wie nötig zur Schau zu stellen. Es passte an sich gar nicht zu dem Bild des bescheidenen Mannes, das sie von ihm hatte.

Vor einer kunstvoll gearbeiteten, dunkelbraunen Tür blieb er stehen. Ist Ragnarök bei dir?

Mehr überrascht als erschrocken zuckte sie zusammen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie ihre Verwunderung überwunden hatte und ihm antwortete. Ja, seit vorhin auf der Treppe.

Lächelnd strich er ihr eine Strähne hinters Ohr. Du gewöhnst dich dran. Mit seinen Worten bezog er sich die mentale Kommunikation.

Irgendwie habe ich das Gefühl, ich verrate dir mehr als nur das, was ich dir sagen will.

Mit einem leichten Nicken öffnete er die vor ihnen liegende Tür. Irgendwie schon.

Zu seiner Rettung waren bereits alle anwesend. Er wusste nicht, wie er ihr beibringen sollte, dass sie nichts vor ihm verheimlichen konnte - sofern er unbedingt wissen wollte, was in ihr vorging.

Adele sprang auf, sobald sie Ria sah. „Ria."

Ria selbst war in Gedanken noch viel zu sehr bei seiner nicht besonders eindeutigen Antwort. Sie bemerkte ihre Freundin erst, als diese sie so fest an sich drückte, dass sie nach Luft schnappen musste. „Du machst nicht heimlich Muskelaufbautraining, oder?"

Fragend sah Adele sie an. „Ich? Dann kriege ich ja Muskeln! Nein."

Stirnrunzelnd legte Ria ihren Kopf schief. „Erzähl mir nichts."

„Das ist vermutlich meine Schuld." Aram trat hinter seine Frau und zog sie einen Schritt zurück. „Hallo Ria. Hast du die Reise gut überstanden?"

Ihr kurzer, finsterer Seitenblick auf Eleasar sprach Bände. Der legte eine Hand in ihr Kreuz und schob sie zum Tisch. Saras helles Lachen zog Rias Aufmerksamkeit auf sich. Sie saß neben der jungen Frau, die sie schon einmal bei Marjan gesehen hatte. Das musste Talisha sein. „Mein lieber Sohn, da wirst du dich in Zukunft dran gewöhnen müssen."

Eleasar warf seiner Mutter einen vernichtenden Blick zu. „Schön, dich zu sehen." Schnell lenkte er Rias Aufmerksamkeit der Reihe nach auf seine Geschwister und deren Begleitung. „Talisha hast du ja schon kennengelernt. Neben ihr sitzt ihr Mann Krish. Kilian kennst du auch schon, er ist ohne Begleitung."

Kilian grinste Ria herausfordernd an. „Schickes Kleid."

„Findest du?" Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie an sich herunter. „Ein wenig gewagt, findest du nicht? Diese Farbe ist genauso mädchenhaft, wie die deiner Haare."

Eleasar stand zwischen ihnen, bevor Kilian auch nur ein Wort sagen konnte. „Du hast deinen Spaß bereits gehabt." Innerlich aufseufzend deutete er auf die restlichen Gäste. „Mein Bruder Daniel und seine Freundin Sophie. Vater kennst du ja."

Rias Blick blieb fasziniert an Sophies Haaren hängen. Diese hellgrünen Strähnen in dem blauen Haar faszinierten sie. „Ist das Natur?" Auf Sophies Nicken hin, hockte sie sich begeistert neben sie. „Wirklich? Ich wollte auch einmal grüne Haare haben, aber irgendwie ist das total schief gegangen. Einen Monat lang musste ich mit pinken Haaren durch die Gegend rennen, bevor mein Ziehvater sich erbarmt hat."

Überrascht lächelte Sophie sie an. „Wirklich? Hat sich das nicht mit deiner Augenfarbe gebissen?"

Verständnislos sah Ria sie an. „Pink und braun beißen sich nicht."

„Also ich weiß wirklich nicht, wen von euch ich eher bemitleiden soll", bemerkte Daniel munter. „Es freut mich auf jeden Fall deine Bekanntschaft zu machen, Ria."

Ehrlich erfreut lächelte sie ihn an. „Danke, gleichfalls. Aber du solltest eher deinen Bruder bemitleiden. Er macht gerade eine wirklich schwere Zeit durch." Dann fiel ihr Blick auf Marjan und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Wie es aussieht, hast du deinen Willen doch noch gekriegt. Aber, alter Mann, denk bloß nicht, ich würde nach deiner Nase tanzen."

Marjan lächelte sie schwach an. „Ich fürchte, ich hänge an meinem Leben."

Eleasar konnte die Fragezeichen über ihrem Kopf geradezu auftauchen sehen. Ich habe ihm verständlich gemacht, dass du mir gehörst. Reine Besitzgier schwang in seiner Botschaft mit.

Schulterzuckend ließ Ria sich auf den freien Stuhl neben Adele sinken. „Ich bin so froh, dass du da bist", flüsterte sie ihrer engsten Freundin zu. „Dann bin ich wenigstens nicht ganz so allein."

„Aber Eleasar ist doch da." Begütigend tätschelte die Blonde ihre Hand. „Oder bist du tatsächlich einmal nervös?"

„Das ist gar kein Ausdruck", murmelte sie mürrisch. Sie hatte das Gefühl, auf glühenden Kohlen zu sitzen.

„Was ist eigentlich mit deinen Augen los?"

Aram stieß Adele leicht in die Seite. „Ria war nie ein Mensch. Dass sie sich jetzt verändert, ist nur natürlich."

Ria glaubte ihm keinen Augenblick. Sie schickte ihrem Mann die Frage, was erst Sophie und jetzt auch Adele meinte. Nur zögerlich erhielt sie eine Antwort. Deine Augenfarbe wird heller. Als ich dich das erste Mal traf, warst du zu sehr in der menschlichen Welt verankert. Da waren deine Augen noch hellbraun. Je länger du hier warst, desto häufiger kam deine eigentliche Augenfarbe zum Vorschein. Deine Augen sind fast orange.

Ungläubig starrte sie ihn an. Das kann doch nicht dein Ernst sein.

Sieh dich nachher im Spiegel an. Mit einem Nicken zu einem der bereitstehenden Bediensteten setzte er sich neben sie.

Kurz darauf wurde das Essen aufgetragen. Die Vampire erhielten ausschließlich Blut. Adele stürzte sich begeistert auf das Essen, während Ria skeptisch in dem suppenähnlichen Gebräu herumrührte. Unbekanntes war ihr zuerst suspekt. Vor allem, wenn es ums Essen ging.

Probier's. Aufmunternd nickte Eleasar ihr zu.

Tapfer nippte sie an der Speise. Ihr Mann würde sie schon nicht vergiften. Sie hörte sein entspanntes Lachen in ihrem Kopf. Es beruhigte sie ein wenig und gab ihr den nötigen Halt, die unbekannten Speisen zu kosten. Es schmeckte wirklich gut.

Der Hauptgang wurde gerade abgetragen und alle waren in Gespräche vertieft, da sagte Kilian unüberhörbar: „Ich hätte nie gedacht, dass du einer Schattenseele begegnest, ohne sie zu töten."

Die muntere Stimmung gefror. Ria spürte, dass Eleasar sich nur schwer davon abhalten konnte, ihm an die Gurgel zu gehen.

Das Geräusch des zurückgeschoben werdenden Stuhls kratzte unnatürlich laut ihn Ihren Ohren. Langsam ging sie zu Kilian und lehnte sich zu ihm vor. „Das letzte Mal habe ich dich wohl nicht heftig genug erwischt. Denkst du wirklich, du könntest einen Keil zwischen uns treiben? Aber verrat mir doch eins, Rotlöckchen. Warum hüllst du dich in Missgunst?"

Eleasar bemerkte, dass sie seinetwegen kurz davor war, Kilian eine runter zu hauen. Die Drohung, die in ihrer zu ruhigen Haltung mitschwang war unübersehbar.

Allerdings schien Kilian das Gefühl dafür abhanden gekommen zu sein. „Nun ja, die letzte Schattenseele, die seinen Weg gekreuzt hat, hat er kaltblütig ermordet. Wäre doch zu schade, wenn du auch zu den Opfern seiner Vergangenheit zählst."

Ria kämpfte den Drang herunter, Eleasar sofort zur Rede zu stellen. „Nun ja", äffte sie ihn kalt lächelnd nach, „ich lebe noch. Ich weiß mit Sicherheit, dass es zig andere Dinge gibt, die er lieber mit mir anstellen würde, als mir den Hals umzudrehen."

Sie spürte, dass der Vampir kurz davor war, etwas Unüberlegtes zu tun. Schnell wandte sie sich an Ragnarök und bat ihn um Hilfe. Bei Marjan hatte sie gelernt, Vampiren die Kraft aus dem Blut, das sie zu sich genommen hatten, zu ziehen. Das war vermutlich die einzige Möglichkeit, die Situation am Eskalieren zu hindern.

Kilians feindselige Haltung wich einem mehr als nur überraschten Blick, als er spürte, wie seine Energie sich in Luft aufzulösen schien. Er versuchte nach Rias Nacken zu greifen, doch sie war schneller aus seiner Reichweite verschwunden als er erwartet hatte.

„Wenn du hier Gast sein willst, solltest du den Gastgebern gegenüber freundlicher sein", mahnte sie ihn belehrend. „Du siehst blass aus. Trink doch noch etwas."

Unter Kilians feindseligem Blick kehrte sie zu ihrem Platz zurück. Eleasar warf ihr einen langen, undefinierbaren Blick zu.

„Ich wüsste zu gerne, wie du das gemacht hast."

Alle Blicke richteten sich auf Marjan, der Ria interessiert musterte, die ihn ihrerseits fragend ansah. „Was habe ich denn getan?"

Lächelnd nahm der König einen Schluck roter Flüssigkeit zu sich. „Er war kurz davor, dich anzugreifen, konnte sich aber nicht bewegen."

„Das muss an meinem umwerfenden Aussehen liegen", entgegnete sie eisern. Auf keinen Fall wollte sie preisgeben, was sie getan hatte.

„Jungs." Talisha stand auf. „Muss das wirklich sein? Jeder hat seine Talente. Kilian. Es war unnötig, das Thema auf den Tisch zu bringen. Man könnte meinen, du bist noch immer grün hinter den Ohren." Lächelnd wandte sie sich an Ria. „Verzeih den Jungs ihre Feindseligkeit. Bei denen ist das hoffnungslos."

Ria antwortete ihr mit einem dankbaren Lächeln. „Sag mal, du und dein Mann. Seid ihr auch so... verbunden?"

Eleasars Schwester zwinkerte ihr vergnügt zu. „Ja. Du hast einen wirklich langen Weg vor dir. Aber Lea ist süß. Du musst ihm nur Zeit lassen, das zu zeigen."

„Lea?" Abwartend sah sie zwischen den beiden Geschwistern hin und her. „Und du murrst, weil ich dich Elea nenne? Ich bitte dich."

Seufzend legte er einen Arm um ihre Schulter. „Du hast nicht die Ausrede, meine ältere Schwester zu sein."

Hilfe suchend schaute Ria zu Aram. „Wie nennst du ihn denn? Ihr seid doch eng befreundet."

Abwehrend hob Aram die Hände. „Eleasar. Ganz einfach."

„Komm, er muss doch einen Spitznamen haben."

„Adele und ich haben auch keinen. Genauso wenig wie du", versuchte er erfolglos zu argumentieren.

„Jetzt komm schon. Ich sorge auch dafür, dass du den Tag überlebst."

Das schien ihn nicht wirklich zu überzeugen. „Eleasar ist nachtragend."

Eleasar räusperte sich. „Seid ihr jetzt fertig?" Es passte ihm gar nicht, dass so über ihn geredet wurde.

Der Nachtisch wurde aufgetragen und unterbrach das Herumgeplänkel.

Es war Daniel, der das nächste, unverfängliche Thema ansprach. „Schon aufgeregt auf die ganzen wichtigen Persönlichkeiten, denen du nachher begegnest?"

Mit einem Mal war Ria ihr Appetit vergangen. „Hör bitte auf. Würde Elea mich nicht notfalls dorthin tragen, würde ich mich in der entlegensten Ecke des Hauses verstecken."

Talisha und Sara lachten munter. „Er würde dich finden, Ria." Erklärend tippte Talisha sich an den Kopf. „Das ist einer der Nachteile. Krish war auch fürchterlich aufgeregt, als wir unseren Bund gefeiert haben. Das ist normal."

Ria sagt nichts, sondern konzentrierte sich darauf, ihren Nachtisch hinunter zu schlucken. Sie war nicht nur furchtbar nervös, sie hatte auch Angst, alles falsch zu machen. Schließlich kannte sie sich mit den hiesigen Bräuchen nicht aus. Irgendwann wurde es ihr zu viel. Sie legte das Besteck beiseite und stand auf. „Entschuldigt mich."

Nachdenklich sah Eleasar ihr hinterher. Er spürte ihre große Unsicherheit und die daraus resultierenden, für sie so untypischen Zweifel.

Auch Adele legte ihr Besteck auf den Teller. „Ich geh nach ihr sehen."

„Bleib hier." Entschieden bedeutete er ihr, sich wieder hinzusetzten. „Du findest sie nicht."


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top