Eine Geschichte

„Ria, du bist wieder da, Kleine." Kommissar Alwin Müller eilte auf das schwarzhaarige Mädchen zu, das soeben durch die Tür in das Büro getreten war.

„Hallo." Schwach lächelte sie ihn an. „Ist dein Boss da? Er wollte eine Aussage zu meinem Verbleib."

„Leider nicht, aber warum machst du deine Aussage nicht bei mir? Ich bin ebenso dazu befugt sie aufzunehmen, wie Dunn." Noch während er das sagte, schob er sie an seinen Schreibtisch.

Ria war es nur recht, wenn sie Aleix noch eine Weile aus dem Weg gehen konnte. Also setzte sie sich so gefasst wie möglich auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch.

„Also", Al öffnete an seinem Computer ein neues Protokoll und sah sie fragend an. „Was ist passiert?"

Ria dachte einen Augenblick lang nach. Am besten, sie blieb mit ihrer Geschichte so nah wie möglich an der Wahrheit. „Ich war mit einer Freundin verabredet. Ich sollte sie von ihrem Freund abholen und sie dann mit zu mir nehmen. Mädelsabend." Sie erzählte ihm eine abenteuerliche Geschichte, in der sie auf dem Rückweg zum Wagen verschleppt wurden und irgendwo im Nirgendwo wieder zu sich kamen. Dank ihrer Kampferfahrung gelang es ihnen zu fliehen. „Die meiste Zeit waren wir bemüht, wieder nach Hause zu finden. Ich kann dir nicht sagen wo, aber irgendwann war Adele, also Marlen, nicht mehr da. Ich habe nach ihr gesucht, konnte sie aber nirgends finden." An dieser Stelle kam ihr ihre bedrückte Stimmung zur Hilfe. Zwar war Adele nicht der Grund, doch das konnte der Polizist nicht wissen.

„Hast du einen Anhaltspunkt, wo das war?"

Langsam schüttelte sie ihren Kopf. „Auf dem Meer. Keine Ahnung, mehr kann ich wirklich nicht sagen." Seine restlichen Fragen beantwortete sie so knapp wie möglich.

„Gut", Al scrollte noch einmal durch die Datei. „Bist du verletzt? Brauchst du einen Arzt?"

Entschieden schüttelte sie ihren Kopf. „Nein, ich bin körperlich unversehrt. Kann ich jetzt gehen?"

„Natürlich. Wir melden uns, sollten wir noch Fragen zu deiner Aussage haben." Galant hielt er ihr die Tür auf. Sie tat ihm leid, wie sie ziemlich mitgenommen durch die Türen schlurfte. Am besten konnte er ihr helfen, indem er die Mistkerle fand, die ihr das angetan hatten.

„War das Ria?" Mit gerunzelter Stirn trat seine Kollegin Lea auf den Flur. Mit ihrem 1.70 Metern war sie nur geringfügig kleiner als er und musste nicht allzu weit zu ihm auf sehen. Graubraune Augen blickten sie durch eine große schwarzgerahmte Brille hindurch fragend an. „Sie sieht ziemlich mitgenommen aus, die Arme."

„Wenn auch nur ein Teil ihrer Aussage stimmt, hat sie einiges durchmachen müssen." Nachdenklich starrte er auf die sich langsam hinter dem Mädchen schließende Tür. „Immerhin stimmt der Teil, dass sie ohne ihre Freundin wieder aufgetaucht ist."

„Du meinst, sie erzählt uns nicht die ganze Wahrheit?"

Ratlos zuckte er mit den Schultern. „Es ist eine Geschichte, ja. Aber in den wichtigen Punkten war sie merkwürdig wortkarg und wollte nicht so recht mit der Sprache rausrücken."

„Und was glaubst du, verbirgt sie?"

Mit verschränkten Armen lehnte er sich an die Glaswand seines Büroabteils. „Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie Angst. Sie wäre nicht das erste Mädchen, das nach einem Monat verängstigt wieder auftaucht."

Lea nickte, musste ihm jedoch widersprechen. „So verängstigt hat sie gar nicht gewirkt, eher am Boden zerstört. War sie schon im Krankenhaus?"

Er schüttelte verneinend seinen Kopf. „Ich dachte, ich überlasse es Reece, morgen mit ihr dahin zu fahren. Die beiden hatten bis vor ihrem Verschwinden einen guten Draht zueinander."

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ihr Vorgesetzter trat ein. Verwundert sah er seine Kollegen an, die ihn ihrerseits musterten. „Ist etwas vorgefallen?"

„Die Kleine war gerade hier und hat ihre Aussage gemacht", informierte ihn Al. „Du kannst gerne drüber sehen. Ich bin überzeugt, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagt oder Dinge bewusst verschweigt."

Aleix nickte. Es hätte ihn auch schwer gewundert, wenn sie eine ermittlungstaugliche Aussage abgegeben hätte. „Ärztlicher Befund?"

„Sie war so niedergeschlagen, da wollte keiner von uns sie dazu zwingen", meinte Lea schnell. „Ihr beide versteht euch doch so gut. Fahr du doch mit ihr dorthin."

Aleixs Miene versteinerte sich. „Nein, mach du das. Ich kenne sie zu gut. Du bist eine Frau, vielleicht erzählt sie dir noch etwas mehr." Er wollte nicht daran erinnert werden, dass sie sich zuvor für Marjans Sohn entschieden und ihn fortgeschickt hatte. Es hatte ihn tief getroffen.

Seufzend griff Lea nach ihrer Tasche. „Die Überstunden nehme ich mir aber nachher frei." Sich ihre Jacke überwerfend folgte sie Ria schnellen Schrittes nach unten. Zum Glück begegnete sie ihr auf dem Parkplatz. „Ria, warte."

Träge wandte sie sich zu der leicht molligen Kommissarin um. „Hallo. Lange her."

Lea nickte. Dabei flogen ihr ihre kinnlangen lockigen hellbraunen Haare ins Gesicht. „Ich muss mit dir ins Krankenhaus. Befehl vom Boss." Schnell schloss sie ihren Wagen auf. „Setz dich doch."

Mit taubem Gefühl ließ Ria sich in den weichen Autositz sinken. „Immerhin nicht hinten."

Wortlos ließ die Polizistin den Motor an und fuhr in Richtung des städtischen Klinikums. „Du siehst ziemlich fertig aus. Es wundert mich, dass Reece dich nicht direkt ins Krankenhaus gefahren hat, als er heute Morgen bei dir war."

Wortlos zuckte das Mädchen mit den Schultern.

„Al glaubt, du verschweigst etwas."

„Ist nicht mein Problem."

„Ria", begann die Kommissarin behutsam. „Wir wissen nicht, was passiert ist. Aber wir wollen dir helfen und das können wir nur dann, wenn du uns erzählst, was vorgefallen ist."

Abweisend sah die Schwarzhaarige sie endlich an. „Vielleicht möchte ich ja keine Hilfe."

Frustriert gab Lea es auf. Das Mädchen wollte nicht reden.

.

Anstandslos ließ Ria sich untersuchen. Artig folgte sie Lea von Station zu Station, von Untersuchungsraum zu Untersuchungsraum.

Draußen war es bereits stockdunkel, als Lea von ihrem letzten Gespräch mit den Ärzten zurückkam. „Ria", begann sie vorsichtig. „Ich muss dich etwas fragen."

Mit erschreckend leeren Augen sah das Mädchen zu ihr auf. „Ich kann es mir schon denken. Ich habe freiwillig mit ihm geschlafen. Weil ich es wollte."

„Bist du dazu gezwungen worden? Verschweigst du uns deshalb etwas? Und Marlen? Ist ihr das gleiche widerfahren?"

Überfordert ließ sie ihr Gesicht in ihre Hände sinken. So langsam wurde es ihr zu viel. „Nur Adele wurde gezwungen. Wir hatten Hilfe bei der Flucht. Mich haben die nur auf Diät gesetzt. Hab mich wohl zu stark gewehrt. Der, der ein Auge auf uns haben sollte, hat uns nachts da raus geholt. Sie haben Adele geschnappt und sie wieder zurückgebracht. Er hat mich zurückgehalten und weiter von dem Ort fortgebracht." Tränen rannen ihr nun über die Wangen. Sie weinte um Eleasar. Darum, dass sie ihn fortgeschickt hatte und nicht wusste, wie sie die Situation retten konnte. Wie sie ihre Beziehung wieder in Ordnung bringen sollte. „Er wollte mich nach Hause bringen. Das hat er getan. Irgendwie habe ich Gefühle für ihn entwickelt und jetzt ist er fort. Wieder auf der Flucht vor seinen Leuten und der Polizei. Ich weiß wirklich nicht, wo wir waren. Die meiste Zeit habe ich um Adele getrauert."

Mitfühlend legte Lea einen Arm um sie. „Ich füge das deiner Aussage hinzu. Dann musst du das nicht noch einmal erzählen. Kann ich dich beruhigt in deiner Wohnung absetzen?"

Ria nickte, brach dann aber so stark unter ihren Tränen zusammen, dass Lea sie unmöglich alleine lassen konnte. Sie rief eine Schwester zu sich und überließ das am Boden zerstörte Mädchen ihrer Fürsorge. Dann griff sie zum Telefon. „Reece? Lea hier. Kannst du ins Krankenhaus kommen? Dem Mädchen geht es gar nicht gut und in ihren Akten bist du der einzige Kontakt, den sie angegeben hat."

.

Eine halbe Stunde später trat Aleix zu seiner Kollegin ins Krankenzimmer. „Du kannst nach Hause fahren, ich bleibe bei ihr."

Lea nickte und sah zu, dass sie nach Hause kam. Sorgenvoll betrachtete er Rias bleiche Züge. Selbst im Schlaf strahlte sie ein so großes Unglück aus, dass ihm das Herz schwer wurde. Was hatte Marjans Sohn ihr bloß angetan?

Eine Ärztin betrat nach kurzem Klopfen den Raum und sah nach ihr. Sie war recht hübsch. Kurze dunkelblonde Haare, ein heller Teint und eine Figur zum Niederknien. „Wir haben ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben, damit sie etwas schläft", erklärte sie und kontrollierte den Tropf. „Vor morgen sollte sie nicht aufwachen."

„Polizeischutz", erklärte er und zeigte ihr seine Marke. „Sie wurde entführt und es liegt der Verdacht nahe, dass das wieder versucht wird."

Die Medizinerin reagierte mit einem professionellen Nicken. „Das erklärt ihren Zusammenbruch. Sollte sie wider Erwarten aufwachen, informieren Sie bitte die Nachtschwester." Sie kontrollierte noch einmal den Puls der Patientin und verabschiedete sich dann lächelnd.

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