Ein zuversichtlicher Tritt in den Hintern
Vollkommen durcheinander warf Ria sich bäuchlings aufs Bett. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Sie würde niemals mit ihm auf einer Stufe sein. Und warum hatte sie Kilian so herausfordern müssen?
Die Tür öffnete und schloss sich wieder. Sie konnte Eleasars Anwesenheit mit jeder Faser ihres Seins spüren. „Geh weg."
„Nein." Die Matratze senkte sich ein wenig, als er sich neben sie setzte. „Willst du mir erzählen, was dich so verunsichert hat?"
Wortlos schüttelte sie ihren Kopf. Dabei vermied sie es sorgsam, ihm in die Augen zu sehen.
Zärtlich strich er ihr über den Rücken. „Ich möchte dir etwas zeigen."
Niedergeschlagen sah sie ihn nun doch an. „Und was soll das bitte sein?"
„Die neuen Eindrücke überfordern dich. Ich möchte nicht, dass du weiterhin daran zweifelst, ob du wirklich an meine Seite gehörst. Den Empfang bekommen wir hin, solange du mir vertraust." Er beugte sich über sie und küsste sie voller Liebe auf die Stirn. „Schließ deine Augen."
Hoffnungs- und vertrauensvoll folgte sie seiner Aufforderung. Er würde ihr nicht wehtun, dessen war sie sich sicher. „Und jetzt?"
Sie hörte sein Lachen und spürte, wie er sie bat, ihn in ihren Kopf zu lassen. Zögerlich öffnete sie eine kleine Tür. Augenblicklich lief eine Reihe von Bildern vor ihrem inneren Auge ab. Es war, als würde ein Kinofilm abgespult werden und der Film war ihr vertraut, wenngleich aus einer anderen Perspektive: Sie waren im Wald. Überall hörte man Reiter und Schreie von sterbenden Menschen. Die Person, aus der die Perspektive gezeigt wurde, hatte sich auf einen Baum zurückgezogen und beobachtete das Geschehen. Gleichzeitig schien sie auf etwas oder jemanden zu warten. Das musste er nicht lange tun, denn kurz darauf kamen drei Personen in Sichtweite, die in der Nähe anhielten. Arams Blick fand ihn und der Vampir nickte ihm kaum merklich zu. Ria sah sich selbst, wie sie sich vom Boden aufrappelte und versuchte, festen Stand zu finden. Sie spürte den Ärger, den er angesichts ihrer erbärmlichen Verfassung verspürte. Das Hufgetrappel wurde immer lauter. Also beschloss er, seinem Freund zur Hilfe zu kommen. Gemeinsam überredeten sie Adele, sich von Aram fort bringen zu lassen. Kaum waren die beiden außer Sichtweite, brach sie vollends zusammen. Sie spürte seine ehrliche Sorge, die ihn selbst zu überraschen schien, als er sich über sie beugte und sie das Bewusstsein verlor. Vorsichtig hob er sie auf und machte sich auf den Weg in die entgegensetzte Richtung. Je tiefer er sie in den Wald trug, desto stärker wurde ihr bewusst, dass er versuchte sich daran zu hindern, sich in sie zu verlieben. Er hatte damals schon gewusst, dass ihre Verbindung unvermeidlich war und doch versucht sie zu vermeiden! Er hatte nicht geglaubt, dass er sie verdient hatte. Eine Seele, die sich an seine binden würde, sobald sie erwachte. Denn ob Augenkontakt oder nicht, bereits jetzt gab es diese unheimlich starke Anziehung.
Die Bilder verblassten. Langsam schlug sie ihre Augen auf und sah durch seine Augen hindurch, direkt auf den Grund seiner Seele. „Du hast das Gleiche durchgemacht wie ich."
Er nickte gequält. „Ja. Kilian hat recht, ich konnte deine Art nicht leiden. Das lag daran, dass eine Gruppe, zu der auch dein Freund gehörte, eine gute Freundin von mir getötet hat. Ich konnte es keinem Jäger und keiner Schattenseelen verzeihen. Und dann warst du auf einmal da. Halbtot hingst du auf der Fensterbank. Ich war neugierig, warum du ausgerechnet in meinem Zimmer warst. Aber anstatt eines Grundes habe ich diese Anziehung gefunden. Es spielte keine Rolle, welcher Art du angehörst. Du hast mich von Anfang an in deinen Bann gezogen."
Seine Offenheit berührte sie zutiefst. Jetzt war sie sich zwar noch sicherer, dass sie ihn nicht verlassen wollte, doch änderte das nichts an ihrem eigentlichen Problem. „Ich habe trotzdem keine Ahnung, wie hier die gesellschaftlichen Normen sind. Ich bezweifle, dass ich ihnen gerecht werde." Was das anging hatte sie in der Menschenwelt schon nicht sonderlich geglänzt. Sie wollte ihm nicht schaden. Immerhin war er ein Prinz und alles, da musste sie sich zu benehmen wissen. So mehr oder weniger.
Entschieden zog er sie in seine Arme. „Also", setzte er an und begann gleichzeitig mit ihren Fingern herumzuspielen. „Menschen werden ignoriert. Da nur im Dienstpersonal welche sind, sollte es in Ordnung sein. Wenn du etwas suchst, wirst du dich an mich oder Aram wenden müssen. Vor meiner Mutter und Talisha solltest du flüchten."
Überrascht drehte sie sich zu ihm um. „Warum?"
Lächelnd stupste er ihr mit seiner Nase in die Wange. „Ich bezweifle, dass du versessen darauf bist, spätestens heute Abend über sämtliche skandalösen Entwicklungen in den Ehen dieser Stadt informiert zu sein."
„Ich hätte die beiden jetzt nicht für Klatschweiber gehalten", gestand sie verblüfft.
Er lachte tonlos. „Bevor Talisha Krish getroffen hat, waren sie das Stadtgespräch schlechthin."
„Ach", interessiert versuchte sie ihn darüber auszuquetschen, was seine Mutter und seine Schwester denn so alles angestellt hatten. Er vermied es jedoch redlich, auch nur eine ihrer Fragen zu beantworten.
Als es Zeit wurde, stand er einfach auf. „Okay, du hast es jetzt lange genug versucht. Wenn du um deinen Ruf besorgt bist, halte dich von ihnen fern. Und jetzt komm, du solltest dich umziehen."
Schlagartig wurde sie still. Es gefiel ihr nicht, gleich einen Spießrutenlauf absolvieren zu müssen. Sie atmete tief durch und besann sich auf das, was wirklich wichtig war: Eleasar. Sie wollte bei ihm bleiben. Warum gab sie diesen negativen Gefühlen überhaupt Macht über sich? Ein Leben lang hatte sie es anders gehalten, warum sollte sie jetzt damit anfangen? Sie hatte das Recht, an seiner Seite zu sein und genau dort wollte er sie auch haben.
Selbstsicher trat sie neben ihn. „Ich hoffe, es ist den Verzicht auf Hosen wert."
Seufzend öffnete er die Tür. „Das wird ein langer Weg. Du musst nach gegenüber." Er stahl sich noch schnell einen Kuss, bevor er sie stehen ließ und nach unten ging.
„Oh ja, ein laaaanger Weg", entgegnete ebenso seufzend und trat in den Raum. Es war ein riesiges Ankleidezimmer. Er hatte ihr bereits gesagt, dass Kleidung für feierliche Anlässe woanders aufbewahrt wurde und jetzt wusste sie auch wo. Der Raum war so groß wie ihr Wohnzimmer und verfügte über ein großes Fenster, das Ausblick auf die unterhalb gelegene Stadt bot. Zwischen den bunten Dächern tauchten immer wieder grüne Farbtupfer auf. Ob die Stadt wirklich so grün war, wie sie von hier aus wirkte? Den Blick auf den Schminktisch vermied sie bewusst. Schminken, das war einfach nicht ihre Welt. Stattdessen fragte sie sich, was für ein Kleid wohl hinter den Raumteilern auf sie wartete.
Ein paar Worte in der Landessprache veranlassten sie dazu, sich umzudrehen. Ein Dienstmädchen lächelte sie schüchtern an und deutete auf den Tisch. Vermutlich wollte sie, dass sie Platz nahm. Wortlos setzte Ria sich auf den Stuhl. Augenblicklich machte das rothaarige Mädchen sich daran, ihre Haare zu frisieren und sie leicht zu schminken. Sie fragte sich, warum der Lidschatten unbedingt blau sein musste, denn ihre Farbe war Schwarz. Blau hingegen war Eleasars Farbe. Eine Farbe, die sie daran erinnerte, wie sehr er sie um den Verstand brachte. Beim Anblick des Kleides verstand die eigenartige Farbwahl. Das Kleid war tatsächlich ein Traum, wie sie widerwillig zugeben musste, und ebenso dunkelblau wie Eleasars Augen. Sie mochte dieses Kleid auf Anhieb. Es war ganz nach ihrem Geschmack: die Schultern frei und hinten im Nacken zusammengebunden, ermöglichte es ihr genügend Bewegungsfreiheit. Der Ausschnitt war nicht zu gewagt und mit leicht blau schimmernden Steinen gesäumt. Und das Wichtigste: der Stoff schmiegte sich geradezu an ihren Körper - sie brauchte also keine Angst zu haben, unfreiwillig etwas zur Schau zu stellen. Ab ihrer Taille fiel es in einen weiten, bodenlangen Rock zu Boden. Zu ihrer freudigen Überraschung fiel der lange Stoff beim Gehen aus dem Weg. Sie würde also nicht aus Versehen drauf treten. Stand sie still, fiel er gerafft auf den Boden und betonte ihre Figur. Ja, in so einem Kleid würde sie problemlos das nötige Selbstbewusstsein tragen können. Selbst beim Kämpfen sollte es sie nicht behindern. Das Kleid hatte den Ria-Test erfolgreich bestanden.
Der Schmuck machte sie dann nicht ganz so glücklich. Es bestand unter anderem aus einem breiten Armreif, der in den gleichen Farben leuchtete, wie die Steinchen auf dem Kleid. Sie war ihrer Helferin dankbar, dass sie das Zeichen ihres Bundes mit Eleasar nicht verdeckte. Er hatte sich wohl etwas dabei gedacht, ihr ausgerechnet diese Farben zum Anziehen gegeben zu haben. Zu guter Letzt erhielt sie noch einen Seidenschal, der vermutlich gar nicht aus Seide war, in derselben Farbe. Sie nahm sich vor, ihn für die späten Stunden aufzuheben, wie sie es in manchen Filmen gesehen hatte. Momentan schien es draußen noch warm genug zu sein.
Bevor sie den Raum verließ, betrachtete sie sich ein letztes Mal fasziniert im Spiegel. Was ein Kleid, ein wenig Schminke und jemand, mit frisiertechnischem Talent nicht alles aus ihr machen konnten. In großen, weichen Locken fiel ein Teil ihres Haares in ihren Nacken, die restlichen Strähnen waren kunstvoll zusammengesteckt worden. An der Tür sehnte sie sich jedoch schon wieder in ihre gewohnten Sachen. Zwar war das Kleid extrem angenehm zu tragen und auch die Schuhe mit dem leichten Absatz bemerkte sie so gut wie gar nicht, doch war das einfach nicht ihre bevorzugte Kleidung.
Sieh es als Waffe. Du hast dir vorgenommen alle umzuhauen? Dann nutze die Waffe, die er dir dafür gegeben hat. Ragna klang, als wolle er ihr zuversichtlich noch ein letztes Mal in den Hintern treten. Du siehst klasse aus.
Und wenn nicht, wirst du als mein Stilberater gekündigt, drohte sie ihm eine Spur weniger befangen. Tief durchatmend versuchte sie, ihre Nervosität wieder in den Griff zu kriegen und in Entschlossenheit umzuwandeln.
Mit seinem Lachen in ihrem Kopf trat sie zur Tür hinaus. Der Gang war leer. Ob Eleasar schon auf sie wartete? Aus der Eingangshalle drangen fröhliche Stimmen nach oben. Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie seine Stimme erkannte. Was gesprochen wurde, verstand sie jedoch nicht. Dafür hatte sie sich noch nicht genug an die Eigenheiten der Aussprache gewöhnt. Etwas, das sie in den nächsten Tagen zu ändern gedachte.
Unsicher trat sie auf die oberste Stufe. Vielleicht wollte er ja nicht gestört werden. Du schaffst das, sprach sie sich zu und nahm eine weitere Stufe. Und siehe da, ihre Bedenken erwiesen sich als vollkommen haltlos.
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