Ein kleiner Schritt
„Auch wenn ich liebend gern das Geheimnis dieses Tisches ergründen würde, so befürchte ich, dass ich nie die Gelegenheit dazu bekommen werde."
Ihre Faszination beiseite schiebend, drückte sie Aleix seinen Kaffee in die Hand und erhob sich, um eine Glasplatte zwischen zwei Bücherregalen hervorzuholen und diese sorgfältig auf dem Tisch zu platzieren. Erst danach bedeutete sie ihm, seine Tasse wieder abzusetzen.
Es gelang ihm nur schwerlich, den Blick von dem Runenmuster zu lösen. „Woher hast du diesen Tisch?"
Als Antwort erntete er ein argloses Schulterzucken. „Eigentlich war es reiner Zufall. Auf dem Weg von der Schule komme ich immer an einem Antiquitätenladen vorbei. Normalerweise interessieren mich die Auslagen nicht sonderlich."
In ihrer Erinnerung schwelgend konnte Ria die letzten warmen Sonnenstrahlen des recht kurzen Sommers auf ihrem Gesicht spüren. Sie konnte sogar die Gedanken hören, die ihr damals im Kopf umhergegeistert waren. Ein leichter Wind hatte geweht und Gesprächsfetzen aus der offenen Tür des kleinen zugestellten Ladens auf den Gehweg hinaus getragen.
„Bitte, ich bitte Sie", hatte eine verzweifelt klingende Männerstimme gebettelt.
„Das Ding ist Schrott, wie können Sie mir bloß so etwas andrehen wollen?" Diese Stimme hatte kalt wie Eis geklungen und frostig durch die sonnig-warme Atmosphäre des bislang so ruhigen Tages geschnitten. Sie war ihr von Anfang an unsympathisch gewesen.
„Es ist ein uraltes Familienerbstück", hatte der andere geklagt.
Neugierig hatte sie sich den Laden näher betrachtet. Die antike Schrift auf den kleinen Glasfenstern hatte verkündet, dass sie hier vor Hermanns Goldstübchen stand.
„Das Teil ist nichts wert." Der Verkäufer, ein kleiner dicklicher Mann mit Hakennase und einer kleinen dunklen Warze am Kinn, hatte mit verschränkten Armen inmitten des zugestellten Verkaufsraumes gestanden und achtlos vor einen mitgenommen aussehenden Tisch getreten. „Was sollen das überhaupt für Kritzeleien sein, hä?"
„Bitte, Ihr Chef hat mir fünfhundert Euro dafür angeboten." Der Bittende war ein normalgroßer, drahtiger Mann gewesen, dem es offensichtlich an finanziellen Mitteln mangelte.
Ria hatte zu dem Zeitpunkt an der Manifestation ihrer Fertigkeiten gearbeitet und in sich hineingehorcht. Der kleine Dicke hatte eine richtig fiese Ausstrahlung. Sie hatte gespürt, dass er den Wert des Tisches schon längst erkannt hatte. Wenn sie die ihr entgegen strömenden Empfindungen richtig gedeutet hatte, hatte der unsympathische Mann vor, seinen Arbeitgeber um die Differenz zu betrügen. Er würde dem armen Bittsteller niemals den gerechten Preis zahlen.
Der hagere Mann hingegen war die pure Unschuld. Unglück hatte ihn im Laufe der Jahre in einen verwahrlosten, von der Gesellschaft gemiedenen Familienvater gemacht, der, um seine kranke Frau ernähren zu können, das letzte, ihm heilige Familienerbstück verkaufen musste. All das hatte sie aber nicht aus den Emotionen des Mannes gelesen. Tatsächlich hatte er dem hinterhältigen Verkäufer auf Knien seine unselige Lage geschildert.
Mäßig interessiert hatte sie von außen den Laden genauer betrachtet. Unwillkürlich war ihr Blick an besagtem Gegenstand hängen geblieben. Der kleine, unscheinbare Tisch hatte sie sofort in ihren Bann gezogen und ehe sie sich hatte versehen können, stand sie neben dem Verarmten im Laden.
Kalt hatte der Verkäufer sie angeschnauzt: „Was willst du kleine Göre hier?"
Sie hatte dem Kerl ein süffisantes Lächeln geschenkt und geantwortet: „Mit Ihnen möchte ich nicht sprechen. Tatsächlich würde ich bei Ihnen nicht einmal etwas kaufen, wenn mein Leben davon abhinge."
Dem unmöglichen Verkäufer war der Kiefer heruntergeklappt. Doch Ria hatte sich nicht weiter um ihn gekümmert. „Hier." Sie hatte ihr Scheckbuch aus dem Rucksack gekramt, einen der Zettel kurz ausgefüllt und dann dem Leidenden gereicht. „Der Scheck ist gedeckt. Ich kaufe Ihnen den Tisch ab. Von dem Geld werden Sie sich und ihre Frau ein paar Tage versorgen können."
Mit ungläubigem Blick hatte er sie angestarrt. „Zweitausend Euro? Junge Dame, haben Sie denn so viel Geld?"
Sie hatte ihn angelächelt. „Sie würden sich wundern. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie zur Bank, damit Sie sichergehen können, dass alles in Ordnung ist."
Ria tauchte aus ihren Erinnerungen auf und lächelte Aleix zögerlich an. „Für weitere zweitausend hat er mir den Tisch so schön hergerichtet."
Verwundert hatte er ihrer Geschichte gelauscht. „Das Schicksal dieses Mannes konnte dein Herz erweichen?" Seine hochgezogene Augenbraue sprach nur allzu deutlich davon, dass er ihr nicht glaubte.
Mit gequältem Lächeln gestand sie: „Hätte ich den Tisch nicht gewollt, hätte ich mich nicht eingemischt. Aber auch ich sehe nicht alles schwarz-weiß. Mir ist durchaus bewusst, dass es Menschen gibt, die nicht ganz und gar verdorben sind. Nur fühle ich mich nicht für diese Leute verantwortlich." Ein wenig entspannter als zuvor kuschelte sie sich in das weiche Sofakissen hinter sich. „Kann ich dir noch einen Kaffee bringen?"
Abschätzend betrachtete er die leere Tasse vor sich. „Nein, danke. Du wolltest, dass ich dir bei deinen Hausaufgaben helfe? Oder möchtest du das unmögliche Projekt deiner Clanumstrukturierung in Angriff nehmen?"
Schockiert starrte sie ihn an. „Bist du verrückt? Das kann ich jetzt unmöglich planen. Ich muss noch stundenlang Hausaufgaben machen."
„Überanstreng dich nicht", ermahnte er sie liebevoll. Sie arbeitete viel zu viel. „Zur Not musst du die Schule abbrechen. Ich kann schließlich nicht offiziell deine Aufgaben übernehmen."
Nachdenklich starrte sie auf einige der Runen. Sie hatte Aleix schon kurz nach Blakes Tod darum gebeten, ihr die Aufgaben zu überlassen, die er kurzzeitig übernommen hatte. Ihr Stolz hatte es ihr geboten. Und nun war sie mit allem überfordert.
„Ich weiß. Das würde meine Position nur schwächen. Davon abgesehen solltest du doch mit deiner Arbeit und deinen Leuten genug zu tun haben oder?" Wenn sie so recht nachdachte, hatte sie ihn noch nie irgendwelche Clanangelegenheiten regeln sehen. Und das, obwohl auch er als Anführer eines anderen Clans für mindestens ebenso viele Leben Verantwortung trug wie sie.
Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. „Wie du siehst, versinke ich nicht in Arbeit."
Schulterzuckend stand Ria auf und holte ihre Schulsachen aus dem Flur. Das war kein Mysterium, das sie lösen musste und wollte. Es gab wichtigere Dinge zu tun. „Also", begann sie müde, breitete ihre Unterlagen vor ihm aus und schlug Heft und Buch auf. „Vermutlich ist das nicht besonders schwer, aber ich komme momentan einfach nicht auf die Lösung. Atommodelle und Teilchenbewegungen. Irgendwas soll ich da berechnen."
Die nächste Stunde verbrachte Aleix damit, Ria mit Engelsgeduld die Grundlagen der Physik näher zu bringen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, denn sie drohte immer wieder einzunicken. Als ihr Kopf auf seinen Oberarm sank, legte er das Buch beiseite. Mitleidig betrachtete er ihr wunderhübsches Gesicht, das selbst im Schlaf keinen Frieden zu finden schien. Unruhig zuckte sie immer wieder zusammen, wimmerte. Er hatte den Eindruck, sie würde gegen unsichtbare Gegner kämpfen. Beruhigend strich er ihr übers seidig glatte schwarze Haar. Sie hatte Frieden verdient. Stattdessen war sie umgeben von Chaos und Brutalität.
„Papa! Nein!"
Ihr plötzlicher Schrei ließ nicht nur ihn zusammenfahren. Fauchend sprang Cora von ihrem Sofaplatz und jagte zum Fenster, wo sie durch eine kleine Katzenklappe in die finsteren Nacht entschwand. Dank seiner guten Augen konnte er die hohen Bäume direkt hinter dem Haus ausmachen.
Ria murmelte unverständliches Zeug und schien panisch zu versuchen, vor jemandem oder etwas zu fliehen.
Schluchzend krallte sie sich an ihn. Immer wieder schüttelten Heulkrämpfe den zierlichen Körper in seinen Armen.
„Ist ja gut, Ria, es ist alles gut." Immer wieder sprach er beruhigend auf sie ein. Es half jedoch nichts. Also versuchte er sie aufzuwecken. Erfolglos. Anscheinend schlief sie viel zu tief. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis sie wieder ruhiger schlief. Dann hob er sie vorsichtig hoch und legte sie ins Bett.
.
Die nächsten Tage flogen nur so dahin und zerrten an Rias sowieso schon angespannten Nerven. Adele versuchte weiterhin besonders hartnäckig sie davon zu überzeugen, ihre schwarze Seele auszuleben und ihrem Zirkel beizutreten. Was genau das für ein Zirkel sein sollte, konnte sie nicht sagen. Sie hatte weggehört. Gleichzeitig stapelten sich weiterhin die Clanunterlagen auf ihrem Wohnzimmertisch. Trotz ihrer intensiven Bemühungen wollte der Stapel partout nicht schrumpfen.
„Robin, warte."
Sie musste sich nicht einmal die Mühe machen, sich umzudrehen um zu wissen, wer da nach ihr rief. So ein Mist, knurrte sie innerlich. Sie hatte gerade mit Ragnarök darüber diskutiert, ob sie die von Aleix vorgeschlagene Clanumstrukturierung nicht doch in Angriff nehmen sollte. Beide versprachen sich davon, dass es ruhiger werden würde.
Deine Stalkerin ist tatsächlich ziemlich beharrlich, schmunzelte der Schattendrache.
Auf deine nichtssagenden trockenen Kommentare kann ich zurzeit gerne verzichten.
Ragnarök lachte vergnügt. Es wird dringend Zeit, dass du wieder raus kommst. Dieser Verwaltungskram ist eindeutig nichts für dich.
Seufzend blieb Ria stehen. Es hatte weder Sinn mit ihrem Geist darüber zu reden, der sich über diese Situation immerzu amüsierte, noch brachte es ihr etwas, weiterhin vor Adele zu wegzulaufen. Das Mädchen musste es doch langsam verstehen.
„Danke, dass du auf mich wartest", keuchte das dürre, wasserstoffblonde Persönchen.
Mit verschränkten Armen wartete Ria, bis Marlen - oder Adele, wie sie sich selbst nannte - sich wieder gefangen und aufgerichtet hatte.
„Robin, ich wollte dich etwas fragen."
Allein bei dieser Formulierung schwante ihr nichts Gutes. „Und das wäre?", erkundigte sie sich wenig begeistert. Sie konnte die Abneigung in ihrer Stimme nicht ganz verbergen.
„Ich weiß, dass du Zeit brauchst, um dir meinen Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen..." - an dieser Stelle musste Ria sich auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen - „... aber darum geht es nicht. Wir haben ja gleich Sport und der Lehrer meinte, wir spielen Federball." Verlegen starrte sie zu Boden, wobei sie sich auf die Unterlippe biss. „Nun ja, die anderen machen mir das Leben immer schwer, deshalb wollte ich dich bitten, mit mir eine Gruppe zu bilden."
Diese offene Frage überraschte Ria wirklich. Sie hatte im Leben nicht damit gerechnet, von Adele einmal auf ein echtes Thema angesprochen zu werden. „Wenn das so ist, warum nicht?"
Freudestrahlend sah Adele zu ihr auf. „Danke, du bist die beste. Ich bin mir sicher, wir können richtig gute Freudinnen werden."
Anstatt ihr zu antworten, nickte Ria lediglich. Sie zweifelte an einer möglichen Freundschaft, denn immerhin war sie nicht menschlich. Zu ihrer Erleichterung klingelte es - sie wusste beim besten Willen nicht, wie dieser Wortwechsel hätte weiter gehen sollen. „Wollen wir?"
Sport war für Ria eine Qual. Nicht etwa, weil sie unsportlich oder ungeschickt war, sondern weil der Lehrer und ihre Mitschüler es schafften, eine erbärmliche Comedy-Show daraus zu machen. Zuerst dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis alle da waren. Als dann endlich auch das letzte Prinzesschen sich zum gemeinen Volk begeben hatte, gab es Zoff drüber, wer mit wem eine Gruppe bildet und schließlich war da noch das Gejammer derjeniger, die keine passende Partnerin gefunden hatten. Zudem stellten sich selbige nicht besonders klug an und liefen Ria immer wieder vor die Füße oder schlugen den Ball auffällig oft scheinbar versehentlich in ihre Richtung. Adele erging es nicht anders. Irgendwann hatte Ria die Nase gestrichen voll, und schlug einen der querfliegenden Bälle mit voller Kraft zurück, sodass er eines der Mädchen am Oberschenkel traf. Schnell unterdrückte sie das triumphale Lächeln, zu dem sich ihre Mundwinkel unwillkürlich verziehen wollten.
„Spinnst du?", fauchte deren Freundin, während das getroffene Mädchen anfing, wie am Spieß zu schreien. In Rias Augen war dieses Theater völlig unbegründet. Nach außen hin entspannt schlenderte sie auf die beiden zu und passte gekonnt den Moment ab, den der Sportlehrer benötigte, um den Ort des Dramas zu erreichen. Sie beugte sich ein wenig vor und bemerkte ruhig: „Ich weiß nicht was ihr habt, immerhin ist das Bein noch dran und sie lebt." Ihre Miene verfinsterte sich ein wenig, bevor sie mit toternster Stimme fortfuhr: „Noch einmal eine solch dämliche Aktion wie eben und ihr beide werdet euch wünschen, es niemals auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen zu haben mir auf die Nerven zu gehen." Schwere Schritte neben ihnen kündigten den ein wenig außer Puste geratenen Pädagogen an. Wozu war er eigentlich Sportlehrer, wenn er über keinerlei Kondition verfügte?
„Was ist passiert?", fragte er mit scharfer Stimme.
Schulterzuckend richtete Ria sich auf. „Nichts." Vollkommen ungerührt gesellte sie sich wieder zu Adele.
„Danke", flüsterte diese leise. „Dich lassen sie ja meistens in Ruhe, aber ich stehe immer im Fokus ihrer Gemeinheiten."
Mitleidslos sah die Jägerin das blonde Mädchen an. „Warum lässt du dir das auch gefallen?"
„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?", fragte es hilflos.
Sie seufzte ergeben. „Dann bleib halt in meiner Nähe. Aber wehe du fängst wieder mit deinem Seelenfreunden-Quatsch an, kapiert?" Davon hatte sie nun wirklich die Nase gestrichen voll.
Adele nickte und Ria hatte den Eindruck, für sie wären soeben Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen. Ihre Augen wurden glasig und sie schien mit sich selbst um Fassung zu ringen. Fehlte nur noch, dass sie jetzt anfing zu schluchzen und eine gerührte Dankesrede hielt.
„Wer sind denn die Typen?" Mit gerunzelter Stirn fixierte Adele einen Punkt hinter Ria. Diese folgte ihrem Blick am Lehrer-Memmen-Trio vorbei bis zur Eingangstür und fluchte.
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