Beziehungstipps
Ohne auf den Weg zu achten, rannte Ria durch die Straßen dieses beeindruckenden und zugleich so abstoßenden Ortes. Keine Sekunde länger wollte sie hier ausharren. Sie musste zurück in ihre eigene Welt, weg von hier. Und vor allem weg von ihm. Sie konnte ihn nicht einschätzen, nicht sagen warum er mal so abweisend und unnahbar wirkte und im nächsten Moment unerwartet verständnisvoll und ein guter Zuhörer war. Sie wusste einfach nicht, woran sie bei ihm war. Seine wechselhafte Art ließ sie sogar Marjan vermissen. Bei dem wusste sie wenigstens, was sie erwartete.
Ihre Schritte hallten auf dem verlassenen Holzsteg wieder. Mittlerweile waren alle Menschen aus dem Ort verschwunden, die noch frischen Spuren ihrer Abreise kaum zu übersehen. Sie folgte ihnen eine Weile. Vielleicht konnte sie herausfinden, wie die Menschen hier lebten und ob sie wirklich glücklich waren. Doch alles, was sie fand, waren die tote Händlerin und ihr Kind. Achtlos weggeworfen lagen sie auf dem Weg. Jemand hatte sich fürchterlich an der armen Frau vergangen. Sie verschwendete keine Zeit damit, sich die Verletzungen der Mutter anzusehen - das Kind strahlte noch Wärme aus. Behutsam griff sie unter den kleinen Leib und drehte ihn um. Vor Schreck ließ sie den Kinderkörper fallen. Das konnte nicht wahr sein. Jemand hatte das Kind gefoltert. Die Augen waren ihm aus den Augenhöhlen gerissen worden und seine Glieder waren mit unzähligen kleinen Schnitten versehen. Schnitte, die allerdings schon angefangen hatten zu heilen. Schwer schluckend schob sie alle aufkeimenden Emotionen beiseite und nahm die Spuren der Geschehnisse in sich auf. Deutete sie es richtig, musste die Mutter zuerst mit ansehen, wie ihr Kind misshandelt wurde, bevor die Täter sich an ihr vergriffen. Den Kleinen hatte man zuletzt aufgeschlitzt. Seine Innereien quollen unappetitlich aus einem tiefen Schnitt in der Bauchgegend hervor. Abgeschlachtet wie Vieh. Schlimmer noch.
Kurz entschlossen nahm sie die Fährte des Täters auf. Der Mistkerl hatte es nicht verdient, noch länger am Leben zu bleiben. Nicht einmal in dieser Welt sollten Kinder dermaßen zugerichtet werden. Das Schlimmste daran war, dass offenbar jemand zugesehen hatte und nicht eingeschritten war. Von dieser Person gingen unklare Emotionen aus. Als hätte eine Brise ihre Spuren leicht verweht. Sie wusste, wer das war. Und dieser jemand war noch gar nicht so lange fort. Im Jagdmodus machte sie sich daran, die Mistkerle zu verfolgen.
Die beiden Stegwachen liefen unbesorgt durch den Wald und veranstalteten dabei einen Lärm, dass Ria ihrer Spur nicht einmal hundert Meter weit folgen musste. Sie verstand die Worte nicht, doch waren die prahlerischen Gesten eindeutig. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sonst in der Gegend war, stürzte sie sich auf den mit dem kaputten Handgelenk. Lächerlich einfach ließ er sich außer Gefecht setzen. Dann wandte sie sich seinem Kumpan zu, der wie blöd auf seinen bewusstlosen Freund starrte. Diese beiden würden ebenso leiden müssen, wie die armen Menschen.
Viel zu schnell waren die beiden tot. Sie hatten es nicht verdient, so schnell zu sterben. Angeekelt betrachtete sie ihre blutverschmierten Finger und Kleider. Sie wusch sich besser im See, bevor noch jemand entdeckte, was sie getan hatte.
Genau dort fand Eleasar sie schließlich. Zusammengekauert hockte sie bis zu den Knien im Wasser und starrte auf die stille Oberfläche. Angesichts ihres angeschlagenen Zustands verflog ein Teil seines Unmuts. „Lass uns gehen", forderte er sie ruhig auf, ohne sich ihr zu nähern. Dieses Mädchen war unberechenbar und er wollte keinen weiteren Disput heraufbeschwören. Da erschien ihm ein Sicherheitsabstand als geeignete Maßnahme.
„Und wohin?", fragte sie tonlos.
„Weg von hier." Aram tauchte aus dem Waldstück hinter ihnen auf, seine Miene war wenig begeistert. „Du hast dir den Mann nochmal vorgeknöpft."
Schulterzuckend sank Ria noch ein wenig weiter in sich zusammen. „Hast du auch gesehen, was sie mit der Frau und dem Kind angestellt haben? Ich habe viele getötet, aber niemals Kinder und Unschuldige. Was hat die arme Frau verbrochen? Sie hat hart für ihr Leben gearbeitet und es nicht verdient, so zu enden."
Eleasar seufzte resignierend. Dieses Mädchen war Ärger in Reinkultur! „Du hast ein Talent, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Und jetzt komm endlich aus dem Wasser." Noch immer rührte sie sich kein Stück. Störrisches Weibsbild! Einen Moment lang musterte er seinen Cousin. Aram würde sich mit Sicherheit nicht um die Kleine kümmern. Was für ein Verräter. Dabei hatte er sich jetzt wirklich lange genug mit ihr herumgeschlagen. Mit einem Kopfnicken deutete er in Richtung Wald, wo die Toten lagen. Als er die Toten gesehen hatte, war er kurz davor gewesen, das Mädchen zu lynchen. Wie hatte sie nur so sorglos sein können?! „Kümmere dich darum, dass niemand die Leichen entdeckt." Er wartete, bis Aram verschwunden war. Dann ging zu ihr, zog sie aus dem Wasser und trug sie zurück in das schlichte Stadthaus. Dort angekommen setzte er sie auf einem der Betten ab. „Aram hat Wechselkleidung mitgebracht. Du solltest dich umziehen."
Langsam sah sie zu ihm auf. Ihr Blick wirkte seltsam stumpf. „Warum auf einmal wieder so nett?"
Innerlich aufseufzend kniete er sich vor das schlichte Bett, auf dem sie hockte und zwang sie, ihn anzusehen. „Du musst mir jetzt gut zuhören. Nach dem Ereignis heute Abend auf der Brücke werden sie dich verdächtigen. Wir werden noch zwei Tage hier bleiben, bevor ich einen offiziellen Anlass nutze, damit wir von hier verschwinden können." Ansonsten würde der Vorfall an den Königshof getragen werden. Er bezweifelte zwar, dass sein Vater über die Schattenseele richten würde, doch wollte er es nicht darauf ankommen lassen. Warum hatte sie sich bloß dazu hinreißen lassen, die beiden umzubringen? Das brachte die beiden Menschen auch nicht wieder zurück. Das musste sie als ehemals professionelle Killerin doch wissen. Professionelle Killerin. Bei diesem Gedanken gefror alles in ihm. Sie war zu jung, um sich so nennen zu können.
„Warum gehen wir nicht einfach?" Kraftlosigkeit sprach aus ihren Augen. Sie war am Ende.
Sein fester Blick wurde merklich weicher. Wenn ihre Verteidigungen in sich zusammenbrachen, musste er aufpassen. Nicht, dass er sie in seinem Unmut zerstörte. „Damit du nicht Gefahr läufst, für das Verschwinden der beiden Wachen verantwortlich gemacht zu werden." Sanft strich er ihr über die kalte Wange. „Sonst werden sie dich hinrichten."
Ria war so erschöpft, dass ihr diese Neuigkeit nicht einmal etwas ausmachte. „Wäre es nicht besser, wenn es hier endet?"
Sie wollte aufgeben? Energisch schüttelte er seinen Kopf. Das kam nicht infrage. „Nein. Ria, hör mir zu. Du musst dich ausruhen. Ich bringe dich sicher zurück ins Schloss, versprochen." Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Die Möglichkeit, dass sie komplett zusammenbrechen würde, war bis vor wenigen Sekunden noch unvorstellbar gewesen. Was war denn bloß vorgefallen, dass sie sich aufgab?
Hoffnungslos schlug sie ihre Augen nieder. „Und dann?"
„Dann darfst du mein Zimmer so lange besetzen, wie es dir gefällt", antwortete er schmunzelnd.
Ein müdes Lächeln war das einzige, was er dafür erntete.
„Ria." Sanft hob er ihr Kinn an. Ihr Zustand war nahezu unerträglich. „Nicht mehr lange und wir sind wieder zurück." Eindringlich sah er ihr in die müden Augen. „Übersteh das und ich rede mit meinem Vater. Ich sorge dafür, dass du zurück in deine Welt kommst. Das verspreche ich dir."
„Hm." Ihre Lieder flatterten kurz, dann sank sie schlafend an ihn.
„Na klasse." Nicht gerade begeistert bettete er sie auf die Matratze. Es war nicht nett von ihr, einfach so einzuschlafen. „Hättest du dich nicht vorher umziehen können?"
Mit einem leisen Schnalzen krabbelte Ragnarök neben seine Herrin. Erwartungsvoll blickte er von Ria zu Eleasar und wieder zurück.
„Ne." Abwehrend hob er die Hände. „Das wäre nun wirklich zu viel des Guten." Er war doch nicht ihre Zofe!
Unten fiel die Tür ins Schloss. Keine fünf Sekunden später steckte Aram neugierig den Kopf zur Tür hinein. „Ah", grinste der wissend, „halt mich da raus, ich bin vergeben. Außerdem bist du wie ein Irrer losgerannt, als du die toten Menschen gesehen hast."
Eleasar deutete auf das vor Erschöpfung schlafende Mädchen. „War doch klar, was sie tun würde, oder?"
Der Vampir schüttelte energisch seinen Kopf. „Nein, war es nicht. Ihr kannst du das vielleicht erzählen, aber ich weiß genau, dass du sie anders gefunden hast. Du brauchtest den Spuren gar nicht erst zu folgen."
Der Prinz setzte eine steinerne Miene auf. „Was willst du mir damit sagen?"
„Ich bin nicht blind. Es ist wirklich nicht einfach zu erkennen, aber du sorgst dich aufrichtig um sie." Nur wer Eleasar kannte, konnte die feinen Unterschiede in seinem Verhalten erkennen. Für einen Außenstehenden musste es so aussehen, als könnte er sie nicht ausstehen.
„Sie gehört nicht in diese Welt."
„Da bist du der einzige, der das so sieht. Dein Vater weiß, dass wenn sie diejenige ist, du alles tun würdest, um sie nach Hause zu schicken."
Eleasars Miene verfinsterte sich. „Was willst du mir wirklich sagen? Es ist nichts Neues, dass er versucht, mich zu seinen Gunsten zu beeinflussen."
Sein Cousin warf ihm ein Nachthemd zu, das er von unten mitgebracht hatte. Er musste nicht erst erwähnen, dass Marjan in diesem Fall gar nicht plante, seinen Sohn zu beeinflussen. Das war ihnen beiden klar. „Geh mit ihr in die Menschenwelt. Sie muss sich erholen. So steht sie keine weitere Krise durch. Und wenn sie sich erholt hat, solltest du ihr Rede und Antwort stehen. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich."
Fragend hob er eine Augenbraue.
Aram seufzte niedergeschlagen und lehnte sich in den Türrahmen. „Adele dachte, Ria wäre freiwillig hier. Bei dem Ausflug ins Dorf hat sie erfahren, dass das nicht der Fall ist. Seitdem spricht sie kaum noch mit mir."
Überrascht hob Eleasar eine Augenbraue. „Und ich dachte, du bist hier derjenige mit Erfahrung in puncto Beziehungen."
„Deshalb rate ich dir ja, nicht die gleichen Fehler zu machen", fauchte der Vampir ihn an. „Weißt du, wie hart das ist, nicht einmal mehr in seinen eigenen vier Wänden willkommen zu sein?"
„Dann gebe ich dir am besten deinen eigenen Rat zurück", bemerkte Eleasar trocken. „Rede mit ihr. Hey, sie hat dir trotzdem vertraut und sich von dir zum Schloss bringen lassen. Weg von ihrer Freundin."
Arams Blick fiel hilfesuchend auf Ragnarök im Taschenformat. Eleasar war schon immer gut darin gewesen, um den heißen Brei herum zu reden, ohne dass es seinen Gesprächspartnern auffiel. Ein Talent, das ihm auf dem politischen Parkett schon oft gelegen gekommen war. „Du kennst die Kleine am besten: wie kann mein Freund hier ihr den Hof machen?"
Der Schattendrache nahm seine normale Gestalt an, in der es ihm möglich war zu sprechen. Semiaufrichtiges Beileid stand in seinen Augen, als er an den Prinzen gewandt sagte: „Sie weiß nicht, was das zwischen euch ist. Du hast keine Chance."
Die beiden Wesen wechselten einen überraschten Blick. „Warum? Du musst doch wissen, wie man an sie ran kommt."
Pikiert starrte der Drache den Vampir an. „Das wäre Verrat. Sie hält nicht sonderlich viel von Männern. Ich kann euch beiden nur sagen, dass Frauen darauf stehen, wenn man für sie da ist." Kopfschüttelnd löste er sich vollständig auf.
„Was sollte das denn bitte?" Anklagend sah Eleasar seinen besten Freund an. Er hatte nicht einmal ansatzweise vor, der Kleinen den Hof zu machen. Warum unterstellten ihm beide, dass es in seiner Absicht lag?
Kopfschüttelnd wandte Aram sich zum Gehen. „Vergiss es. Wir wissen beide, wie das enden wird."
Eleasar blieb alleine zurück. Mit einem schlafenden Mädchen und einem Nachthemd.
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