Ausflug

„Ria?", rief Adele aus dem Wohnzimmer.

Eleasar spürte, wie seine Frau resignierend seufzte. Offenbar hatte das Mädchen sie heute schon einiges an Nerven gekostet. „Du musst dich ihren Wünschen nicht beugen", flüsterte er ihr besorgt ins Ohr. Sie sollte sich keinen Stress machen müssen.

„Manchmal muss man mich zu meinem Glück zwingen und Adele weiß das." Das Wasser kochte auf und sie löste sich ein wenig von ihm, um ihr Getränk damit aufzugießen.

Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand und ihren Mann im Schlepptau gesellte sie sich zu Aram und Adele ins Wohnzimmer. Die beiden saßen im Sessel, einander fest in den Armen haltend. Eleasar nahm ihr die Tasse ab und zog sie zu sich aufs Sofa. Erst als er damit zufrieden war, wie sie neben ihm saß - natürlich eng an ihn gekuschelt -, überließ er ihr das heißgeliebte Getränk.

„Also, wo kann man hier Billard spielen gehen?", wollte Adele begeistert wissen.

Ria starrte sie über ihren Becher hinweg an. Ihr Blick schien zu fragen: Echt jetzt?!

Entschuldigend hob ihre Freundin die Schultern. „Ich kenne mich hier nicht sonderlich gut aus."

„Ihr seid die letzten Monate durch die Gegend gezogen, nicht ich. Ich kann dir sagen, wo man am besten Leichen abladen kann, aber das hilft dir auch nicht weiter."

Adele schauderte. „Manchmal bist du wirklich unheimlich."

„Du hast nachgefragt", erinnerte sie sie und nippte an ihrem Kaffee. Stark genug, um Tote wiederzubeleben - perfekt.

Der bittere Kaffeegeruch stieg Eleasar in die Nase und er fragte sich, was seine Frau an diesem scheußlichen Getränk fand. Allein vom Geruch her würde er es niemals anrühren.

„Jeder braucht ein Laster", bemerkte Aram, dem das Missfallen seines Freundes nicht entgangen war, belustigt. Auch er fand keinerlei Interesse an diesem Gebräu. Wobei er sich nicht einmal ansatzweise für Essen und Getränke begeistern konnte. Ihm reichte Blut und gelegentlich ein Schluck Wasser.

Ria stellte ihre halb leere Tasse beiseite und sah ihre Freundin nachdenklich an. „Wir müssten im Internet nach irgendeiner Bar suchen. Oder aber", sie zögerte kurz, „wir gehen zum Haupthaus. Da gibt es auch Tische."

Adele begann zu strahlen. „Dann sehe ich ja endlich das Haus, in dem du gelebt hast."

Sie schnaubte. „Gelebt ist das falsche Wort." Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wollte sie nicht wieder dorthin gehen. Es reichte, wenn sie aufgrund von Clanangelegenheiten das eine oder andere Mal dort auftauchen musste. Sie grübelte eine Weile über mögliche Alternativen nach, als ihr einfiel, dass sie noch ein anderes Haus in der Gegend besaß. Sie drückte ihrem Mann ihre Tasse in die Hand, stand auf und durchforstete ihren Ordner nach dem gesuchten Objekt. Da. Eine eingerichtete Villa mit Partykeller. Dieses Haus hatte ihren Eltern gehört und lag keine zwei Autostunden entfernt.

„Musst du morgen zur Schule?", erkundigte sie sich beiläufig bei ihrer besten Freundin. Wenn sie ehrlich war, kannte sie Adeles Antwort bereits.

„Nicht unbedingt."

Grinsend zog sie die Schlüssel aus der Klarsichtfolie. „Okay, dann habe ich unseren Ort gefunden. Wir können in eines der Häuser fahren, müssten allerdings vorher einkaufen. Sie zog eine kleine Fotostrecke aus dem Umschlag und reichte sie ihrer Freundin. „Pool, großes Wohnzimmer mit einer großen TV-Anlage und Billardzimmer. Kicker gibt es auch."

Adeles Augen begannen zu leuchten. „Das... das ist der Hammer. Woher hast du bloß so viele Häuser?"

Ihrem Blick ausweichend nahm sie die Bilder wieder an sich. „Du erinnerst dich daran, dass meine Eltern tot sind?"

Betreten musterte Adele den Boden. „Ria, es tut mir leid, dass ich dich immer wieder an deine Vergangenheit erinnern muss."

Sie schnaubte. „Hey. Ich bin damit großgeworden. Ist ja nicht so, dass mein Vater in diesem Haus umgebracht wurde."

„Und deine Mutter?", fragte die Blonde angespannt. Sie wusste, dass Rias Eltern tot waren und sie etwas vom Tod ihres Vaters mitbekommen hatte. Über den ihrer Mutter sprach sie jedoch nie.

Ria zuckte mit den Schultern. „Da war ich nicht dabei. Mein Vater meinte irgendwann, sie würde nicht wieder kommen." Sie wollte nicht daran erinnert werden, wie traurig sie damals gewesen war. Tagelang hatte sie im Flur gesessen und die Tür angestarrt, in der Hoffnung, ihre Mutter würde jeden Moment nach Hause kommen. Aber sie war nicht wieder aufgetaucht. Nie wieder.

Die Schlüssel und der Ordner verschwanden aus ihrer Hand. Dann wurde sie an eine Brust gezogen.

Eleasar hielt seine Frau fest in seinen Armen. Er spürte die bodenlose Trauer, die von ihr Besitz ergriffen hatte, als wäre sie seine eigene. Ihre Mutter konnte er ihr vielleicht nicht zurückgeben, aber er würde alles dafür tun, dass sie eine Familie bekam, die sie liebte. Seine eigene Mutter wäre nur zu begeistert, für sie da sein zu können. Aus unerfindlichen Gründen war sie jetzt schon in ihre Schwiegertochter vernarrt. Dabei hatte sie sie noch gar nicht gesehen.

„Okay", verkündete Adele voller Tatendrang, „gehen wir einkaufen." Ihr Blick wurde kurz unsicher, als sie zu Ria sah. „Du kannst doch Auto fahren, oder?"

Ria lächelte sie tapfer an. „Klar. Geht ihr doch schon zum Auto. Ich komme gleich nach." In einer entschuldigenden Geste deutete sie auf die leeren Näpfe von Cora. Ihre Katze sollte nicht hungern müssen.

Kaum waren die beiden aus der Wohnung verschwunden, drehte Eleasar sie zu sich herum und zwang sie, ihn anzusehen. In dieser Welt waren ihre Augen wieder hellbraun. Er fing ihren traurigen Blick auf und erinnerte sie sanft daran, dass sie das nicht tun musste.

Eine kleine Träne stahl sich aus ihren Augen. Noch nie hatte sich jemand so sehr um sie gesorgt. „Danke, aber ich möchte das wirklich. Ich möchte einfach mal einen unbefangenen Nachmittag erleben. Einmal so sein, wie ein Mädchen meines Alters sein sollte." Vor lauter Rührung klang ihre Stimme ganz brüchig.

Entschlossen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, stimmte er zu. Sie sollte ihren normalen, entspannten Nachmittag bekommen. Und heute Abend würde er ihr zeigen, wie sehr er sie liebte.

.

Aus ihrem kurzen Ausflug ins Einkaufszentrum wurde eine richtige Tour. Adele wollte unbedingt alles ausprobieren, was das Haus zu bieten hatte. Natürlich hatte sie das erst auf der Fahrt entschieden. Somit brauchten sie alle einen Satz frischer Kleidung.

Während Eleasar und Aram sich keine große Mühe gaben und stillschweigend das akzeptierten, was ihre Frauen ihnen aussuchten, entdeckte Ria ihren Spaß am Shoppen. Zuerst war sie noch skeptisch, als ihre Freundin mit knalligen Kleidern angerannt kam. Aber nachdem sie sich von Adele widerwillig in ein solches Kleid hatte stecken lassen und Eleasars bewunderte Blicke auf sich spürte, begann sie, ihren Standpunkt diesbezüglich zu verändern. Sie wollte ihrem Mann gefallen. Wollte, dass er sie ansah, weil er sie begehrenswert fand. Und so kam es, dass sie mit ihrer Freundin gemeinsam durch die Geschäfte streifte und Kleidungsstücke anprobierte, die sie nie zuvor in Erwägung gezogen hätte. Die ganze Zeit über sonnte sie sich in den brennenden Blicken ihres Mannes. Sie spürte seine Bewunderung und fühlte sich so hübsch wie nie zuvor.

Zufrieden lächelnd beobachtete Eleasar sie dabei, wie sie mit vor Begeisterung funkelnden Augen ein Kleidungsstück nach dem anderen anprobierte. Während Adele sich begeistert mit Kleidung eindeckte - Aram trug mittlerweile schon einen ganzen Haufen Tüten -, bevorzugte Ria es, viele Dinge lediglich anzuprobieren. Er teilte ihre Ansicht, schließlich brauchte sie nur für ein oder zwei Tage neue Kleider. Bis er sie mit zu sich nach Hause nahm, sollte ihr Kleiderschrank dort mit Sachen gefüllt sein. Die Schneiderin hatte einen riesen Schrecken bekommen, als er ihr Rias Maße genannt hatte. In ihren Augen kam Ria wohl aus einer bettelarmen Familie, denn als sie ihm ihre ersten Entwürfe präsentiert hatte, hatte sie wohlwollend gesagt: „In Eurer Obhut wird sie normale Proportionen annehmen." Er konnte es nur hoffen. Denn obwohl seine Frau umwerfend aussah, könnte sie das eine oder andere Gramm mehr sehr gut vertragen.

„Ich habe dich gewarnt", sagte Aram so leise, dass nur er es hören konnte. Natürlich war seinem engsten Vertrauten nicht entgangen, dass er sich um seine Frau sorgte.

„Das war notwendig."

Der Vampir schnaufte belustigt. „Natürlich. Sie wäre mit deinen Ex-Gespielinnen schon zurechtgekommen."

Ex-Gespielinnen. Er musste unweigerlich an Shahira denken. Bevor er Ria kennengelernt hatte, hatte er sich gelegentlich mit ihr vergnügt. „Dieses Biest hat versucht, mein Personal zu bestechen und sie umbringen zu lassen."

Arams Miene wurde schlagartig ernst. „Meinst du nicht, dass deine Frau das hätte abwenden können?"

„Mit Gift?" Zornig ballte er seine Hände zu Fäusten. „Sie ist vielleicht erfahren, was den Nahkampf angeht, aber von Giften hat sie keine Ahnung." Nein, dieser Vorfall hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt, Ria erst dann zu holen, wenn alle seine Angelegenheiten geregelt waren.

„Aber das mit Shahira war doch schon ein Jahr vorher beendet."

Eleasar brummte missmutig vor sich hin. „Nicht wirklich." Er würde sich hüten, darüber zu reden. Doch unter Arams bohrendem Blick lenkte er schließlich ein. „Ich hatte noch einmal etwas mit ihr, nachdem ich Ria halb tot in meinem Zimmer gefunden hatte." Ein wenig verzweifelt fuhr er sich durchs Haar. „Ich meine, da liegt auf einmal eine halbtote Schattenseele in meinem Zimmer! Ausgerechnet in meinem! Ich hab gedacht, ich spinne. Und nicht nur das. Nein, ich konnte ihr nichts antun."

Er starrte seine Hände an, als könnte er nicht fassen, was er getan oder gefühlt hatte.

Aram konnte es ihm nicht verübeln. Eleasar war nicht gut auf Rias Art zu sprechen. Jede andere Schattenseele hätte dieses Aufeinandertreffen nicht überlebt. Sein Freund sprach nicht weiter, doch das brauchte er auch nicht. Er konnte sich den Rest der Geschichte selbst zusammenreimen. Die Lage mit zwischen Sem und Marjan war dabei sich zuzuspitzen und er hatte soeben diese ihn in seinen Grundfesten erschütternde Erfahrung gemacht. Da musste man kein Hellseher sein um zu erkennen, dass sein Cousin sich einfach hatte ablenken wollen. „Lass mich raten. Schon damals hast du gemerkt, dass andere Frauen dir nichts mehr geben können und bist deshalb so schnell zu uns zurück gekommen."

Eleasars durchdringender Blick hing an seiner Frau, die gerade mit ihrer Freundin vor einem Ständer Sonnenbrillen stand und gemeinsam mit ihr herumblödelte, indem sie einander wenig schmeichelhafte Brillen heraussuchten. „Ich musste wissen, was so besonders an ihr war." Er hatte von Anfang an gewusst, dass es ein Spiel mit dem Feuer war, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Ein sehr gefährliches Spiel, das er unterschätzt hatte. So hatte er sich nicht nur verbrannt, sondern obendrein auch noch sein Herz verloren.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet hatte Eleasar vielleicht wirklich dieses halbe Jahr gebraucht. Er hatte es gebraucht, um zu verarbeiten, dass seine alten Vorurteile und Ansichten nicht mehr galten. Durch Rias Auftauchen war sein Leben buchstäblich auf den Kopf gestellt worden. Aram wusste nicht, wie er an seiner Stelle reagiert hätte. Sich in den Erzfeind zu verlieben, ihn quasi auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, das musste schon eine einschneidende Erfahrung sein. So gesehen war Rias junges Alter vielleicht ein Vorteil. Sie war damals nicht dabei gewesen. Sie war damals nicht dabei gewesen, als ihre Artgenossen Sayana ermordet hatten. Wobei verlieben ein schwacher Ausdruck war. Wie Eleasar, so war auch er einmal verliebt gewesen. Verglichen mit seinen Gefühlen für Adele war das zuvor eine flüchtige Vernarrtheit gewesen. Verlor man sein Herz, dann war es so viel mehr. Jede Faser des Körpers sehnte sich nach dem Gegenstück. Sogar die Seele verzehrte sich nach der Nähe des Anderen. Eine Trennung war quasi nicht zu verkraften. Angesichts von Eleasars enormen mentalen Fähigkeiten fragte er sich, was sein Freund mit sich und seiner Frau angestellt hatte, dass sie die Zeit überlebt hatten. Er hielt es ja kaum zwei Tage ohne seine Adele aus.

Ein Quieken beendete die Unterhaltung der beiden Freunde. Adele war Ria um den Hals gefallen und lief nun vergnügt zur Kasse. Ria hingegen kam kopfschüttelnd zu ihnen. „Wenn sie das die nächsten zwei Jahre täglich macht, müsste ich mir langsam Sorgen um mein Geld machen."

„Du bist lächerlich reich", entgegnete Aram belustigt.

Sie schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. „Für Adele gebe ich gerne Geld aus. Sie freut sich dann immer so niedlich."

Eifersüchtig schloss Eleasar seine Frau in seine Arme. Er konnte es nicht ertragen, sie von einer anderen Person schwärmen zu hören. Selbst wenn es sich dabei um ihre engste Freundin und die Frau seines engsten Freundes handelte.

„Warum wohnst du eigentlich in einer so kleinen Wohnung, wenn du so unglaublich viele Häuser hast?" Diese Frage beschäftigte Aram schon länger. Nur war er noch nie dazu gekommen, sie zu fragen.

Ein scheues Lächeln, dann vergrub sie sich fast in Eleasars Armen. Überrascht wechselten die Freunde einen langen Blick. „Ein Haus ist für einen alleine zu groß", flüsterte sie schließlich mit belegter Stimme.

Es war allen klar, dass da mehr dran war, als sie zugeben wollte. Doch ebenso klar war es, dass sie nichts mehr dazu sagen würde.

Als Adele zurückkam, erklärte Eleasar dir Shoppingtour für beendet. Sie mussten noch einige Lebensmittel einkaufen, bevor sie weiter konnten. Während Adele den Lebensmittelladen unsicher machte, klammerte Ria sich an ihn, als hinge ihr Leben davon ab. Wortlos strich er ihr immer wieder mit dem Daumen über ihren Handrücken. Eine stumme Versicherung, dass er da war.

Ausgerüstet mit genügend Lebensmitteln, um einen Kleinkrieg zu überleben, machten sie sich wieder auf den Weg zu Rias Haus.

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