Arams Erkenntnis
Wie versprochen tauchte Aram eine Woche später wieder auf. Die beiden Mädchen hockten gerade gemeinsam in Rias Wohnzimmer und knobelten über den Schulaufgaben. Aleix hatte sie dazu verdammt, wieder an ihrem alten Leben teilzunehmen. Seinen Kollegen hatten sie eine zu Rias Aussage passende Geschichte aus Adeles Perspektive aufgetischt, sodass sie in dieser Hinsicht ihre Ruhe hatten.
Mit einem dicken Kloß im Hals betrachtete Ria ihre überglückliche Freundin, die gerade ihren Mann damit aufzog, dass er nicht in der Lage war, ihre Schulaufgaben fehlerfrei zu lösen. „Ich muss das nicht können", versuchte der sich erfolglos aus der Affäre zu ziehen.
Ria sprang auf. Die Vertrautheit zwischen ihnen war unerträglich. „Ich gehe spazieren. Das Bett steht drüben, tut euch keinen Zwang an."
Erst am Abend kehrte sie zurück. Aram wartete bereits auf sie. „Ich verstehe zwar selbst nicht, warum er euch das antut, aber Eleasar leidet ebenso viel wie du."
Mit einer energischen Handbewegung schnitt sie ihm das Wort ab. „Vergiss es. Ich will seinen Namen nicht mehr hören. Du bist hier natürlich jederzeit willkommen."
„Schon gut", mischte Adele sich ein, als Aram erneut zu sprechen ansetzte. „Ich regle das schon. Geh nach Hause. Du hast auch einiges zu tun."
Widerstrebend verabschiedete er sich.
„Ria", begann Adele zögerlich. „Aram hat etwas mitgebracht. Für dich. Eleasar hat es ihm mitgegeben." Sie deutete auf eine kleine Schachtel auf der Flurkommode.
Ria machte auf dem Absatz kehrt und floh erneut nach draußen. Sie wollte nichts mehr von ihm hören.
Aram besuchte sie von nun an regelmäßig. Alle drei Tage kam er vorbei, um ein wenig Zeit mit Adele verbringen zu können. Kein einziges Mal brachte er Eleasar mit.
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Es war etwa vier Monate her, dass Adele sich dazu entschieden hatte, Ria in der Menschenwelt Gesellschaft zu leisten. Es gelang ihr, ihre Freundin dazu zu überreden, über das kommende lange Wochenende einen Ausflug mit ihr zu unternehmen. Es hatte sie einige Nerven gekostet. Die Tatsache dass Aram sie begleiten sollte, war nicht unbedingt hilfreich gewesen. Obwohl Ria jetzt nicht mehr direkt die Wände hochging, wenn sie Pärchen sah, hielt sie es doch nur schwerlich in deren Gegenwart aus. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass sie verschwand, kaum dass sie ihren Zielort erreicht hatten. So waren Aram und Adele die meiste Zeit auf sich alleine gestellt. Ihrem Vampir machte es weitaus weniger aus als ihr.
Adeles ruhiger Atem neben ihm glich der schönsten Musik, die er jemals gehört hatte. Oftmals lag er stundenlang neben ihr und lauschte dem stetigen Klang ihres Atems. Seine Frau. Sein Ein und Alles. Niemals würde er zulassen, dass ihr etwas geschah. Vorsichtig strich er einige vorwitzige Strähnen beiseite, die sich über ihr Gesicht verteilt hatten und ihm somit die Sicht auf ihre hübschen Züge verwehrten. Sie sah erholt aus. Erholt und friedlich. Dieser kurze Urlaub tat ihr gut. Die meiste Zeit des Tages hatten sie damit verbracht, wandernd die Gegend zu erkunden. Sie waren für das verlängerte Wochenende, wie die Mädchen es genannt hatten, in die Berge gefahren, um sich eine Auszeit zu nehmen. Das Haus, in die sie wohnten, lag am Hang eines Berges. Die es umgebenden Wälder und Wiesen waren unberührt. Es war einer der wenigen Orte, den die Menschen noch nicht für sich erobert und der Natur ihren Willen aufgezwungen hatten. Der Grund, weshalb sie sich hier in tiefster Natur befanden, war die Eigentümerin. Ria hielt nichts von verbauter Natur. Das wunderte ihn, lebte sie doch in der Stadt. Als er sie darauf angesprochen hatte, hatte er nur ein nichtssagendes Lächeln bekommen. Wenn er seiner Frau glaubte, war dieses Grundstück nur eines von vielen, die allesamt der jungen Schattenseele gehörten. Anfangs hatte er seine Frau belächelt, als sie gemeint hatte, Ria besäße unendlich viel. Dann hatte sie ihm die Liste von Anwesen gezeigt, die das Mädchen besaß. Niemals hätte er erwartet, dass Ria so reich war. Wenn er es richtig einschätzte, war sie sogar reicher als Eleasar. Und das wollte etwas heißen. Denn kaum hatte sein Cousin erfahren, dass er als jüngster Sohn kein Anrecht auf Thron und Erbschaft von Marjan hatte, hatte er begonnen, sich sein eigenes Vermögen zu schaffen. Als es dann groß genug war, um ihn für den Rest seiner Existenz zu versorgen, hatte er sein Vermögen weiterhin aus Gewohnheit gemehrt. Wenn es darum ging, etwas Geld auszugeben, überlegte der Prinz immer ganz genau, ob es sich lohnte. Kurzum: Eleasar war geizig. Keiner seiner Geliebten oder Affären hatte er jemals etwas geschenkt. Und, er konnte es weiß Gott bezeugen, dabei hatten eben diese Damen ihn mehrfach darum gebeten, fast sogar angefleht. Stoisch hatte Eleasar alle dezenten bis hin zu extrem aufdringlichen Aufforderungen dazu ignoriert. Und dann war da Ria. Jung und unverschämt wohlhabend. Erbin von Wesen, die Jahrhunderte Zeit hatten, ein großes Vermögen anzuhäufen. Doch ebenso wie bei Eleasar, merkte man ihr nichts von ihrem eigentlichen Wohlstand an. Sie hielt damit ebenso hinterm Berg, wie sein Freund. Vielleicht sogar noch ein wenig mehr, denn Eleasar war aufgrund seiner Stellung dazu gezwungen, einen gewissen Wohlstand zu demonstrieren. Ria hingegen wohnte in einer kleinen Wohnung, trug Kleidung, die sie quasi im Laden um die Ecke kaufte und lebte generell sehr bescheiden. Nichts in ihrem Alltagsleben deutete darauf hin, wie viel das Mädchen wirklich besaß. Doch im Gegensatz zu seinem Cousin hatte sie weniger Skrupel, ihr Geld für andere auszugeben. Das bemerkte er jedes Mal, wenn er vorbei kam. Adele wurde geradezu mit Geschenken überhäuft. Wann immer sie etwas haben wollte, Ria besorgte es ihr. Kleidung, Accessoires, Bücher, Spielgeräte - das alles besaß seine Frau mittlerweile im Überfluss. Ein krasser Gegensatz zu den ärmlichen Umständen, in denen Adele aufwachsen musste. Und wenn er da war und sie gemeinsam ausgehen wollten, erstickten sie fast in Geld. Seit kurzem konnte er sich des Eindrucks, Ria versuchte sich auf diese Weise für ihr grauenvolles Verhalten zu entschuldigen, nicht mehr erwehren. Grauenhaft war ihr Verhalten wirklich. Zwar bemühte sie sich, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber das gelang nur selten. Kein Wunder, wenn man in einer gemeinsamen Wohnung lebte. Ihre konstant schlechte und zeitweilig unterirdische Laune war eine Belastung für jeden, der sie nur ansprach. Kürzlich erst hatte er beobachtet, wie sie einen ihrer Jäger zusammengeschlagen hatte, weil er ihr auf die Nerven gegangen war. Zum Glück war Adele nicht zugegen gewesen. Ihr gegenüber verhielt Ria sich oft kalt, wenn er da war. Es war ein Schutz, um sie alle vor einer Reihe hässlicher Auseinandersetzungen zu bewahren, dennoch schmerzte es ihn jedes Mal, wenn er seine Frau verletzt zusammenzucken sah. Er konnte nur hoffen, dass es bald ein Ende fand.
Ein leises Klacken riss ihn aus seinen Gedanken. Leise Schritte waren zu hören. Zu leise, um von einem Menschen verursacht worden zu sein. Das konnte nur eines bedeuten: Ria schlich durchs Haus. Warum Adele unbedingt darauf bestanden hatte, sie mitzunehmen, war ihm schleierhaft. Selbst Ria hatte versucht, es ihr auszureden und sich vehement geweigert. Was auch immer seine Liebste getan hatte, um sie zu überreden, letztendlich hatte das Mädchen nachgegeben.
Mit Mühe gelang es ihm, den Blick von seiner schlafenden Frau loszueisen. Die Tür, die er gehört hatte, war die Haustür gewesen. Was hatte das Mädchen schon wieder draußen getrieben? Seit er sie kennengelernt hatte, hatte er ihr selten über den Weg getraut. Teilweise unberechtigt. Jetzt hingegen war sie wahrlich unberechenbar. Vorsichtig, und darauf bedacht, seine Frau nicht zu wecken, kletterte er aus dem Bett und schlich zur Tür hinaus. Ein letztes Mal versicherte er sich, dass Adele ruhig schlief, dann machte er sich auf den Weg durch die Gänge, den leisen Geräuschen folgend. Die Gänge waren weit und leer. Wie ein nicht bewohntes Anwesen, was es letztendlich auch war. Er hätte diesen rauen Baustil eher an einer Küste erwartet, als in den Bergen. An einer der wenigen großen Fensterfronten im Flur blieb er stehen. Die Welt draußen zog ihn in ihren Bann. Das Licht des halbvollen Mondes fiel auf eine große, teilweise sogar gefährlich spitze Felswand. Gegen Mittag hatte Adele ihn in eine Höhle gezerrt, die sie zufällig bemerkt hatte. Es hatte Spaß gemacht, diesen erstaunlich idyllischen Ort zu erkunden. Einer der schärferen Zacken fiel ihm ins Auge und er musste unweigerlich an Ria denken. Sich mit ihr abzugeben, hatte große Ähnlichkeit damit, diese Wand mit bloßen Händen empor zu klettern. Und doch, dachte er ein wenig traurig, hat man bei ihr zeitweise das Gefühl sie sei eigentlich ganz anders. Mehr wie das Mädchen, das er zeitweise gesehen hatte, als sie bei Marjan zu Gast gewesen war.
Ein Platschen hallte durch den leeren Flur. Sie war also in der nahegelegenen kleinen Schwimmhalle. Auf leisen Sohlen betrat er den Poolbereich. Zu seiner Linken lagen achtlos auf einen Haufen geworfene Kleider. Als hätte Ria sich einfach aus den Kleidern geschält - was sie wahrscheinlich auch getan hatte. Seltsam dunkle Flecken färbten den Stoff an einigen Stellen dunkler. Trotz des starken Chlorgeruchs war er sich sicher, eine bestimmte Note wahrzunehmen. Seine Laune sank in den Keller. Das hatte sie nicht getan. Würde Eleasar nicht ausgerechnet in diesen Tagen bis zum Hals in diversen Konferenzen stecken und die Besprechungsräume nicht einmal zum Schlafen verlassen, er wäre schon längst auf dem Weg zu ihm, um ihn her zu schleifen und ihm vor Augen zu halten, was er seiner Gemahlin da antat. Andererseits... Das würde zu einem Streit führen. Und ob man den verantworten konnte, war fragwürdig. Eleasar würde ausrasten, wenn er davon erfuhr.
Das Wasser geriet in Unordnung, als Ria sich am Rand aus dem Becken zog. Ihre schlanke Figur schimmerte geheimnisvoll im Mondlicht, Wasserperlen glitzerten auf ihrer Haut. Jap, das wäre ein Anblick für Eleasar. Nur zu dumm, dass er nicht hier war. Mit langsamen, andächtigen Schritten ging sie auf die nach draußen führende Terrassentür zu. Wenige Augenblicke lang betrachtete sie den Himmel, dann lehnte sie ihre Hand an die Glasscheibe und ihre Stirn darauf. Jetzt starrte sie auf den Boden. Waren das Wassertropfen oder Tränen, die da auf ihre Wangen glitzerten?
Allein der Gedanke, dass Ria weinen könnte, traf ihn tief. Sie weinte nicht. Sie war stark. So stark, dass ein Mann mit wenig Selbstbewusstsein es nie lange in ihrer Nähe aushalten könnte. Ria kannte keine Schwäche, sie... Überdeutlich traf ihn die Erkenntnis. Er wusste, dass sie litt. Doch dass sie nicht mit ihrem Kummer zurechtkam, war eine ganz neue Seite an ihr. Deshalb drehte sie durch. Nicht, weil sie wütend war, sondern weil die Situation sie überforderte. Ihre Kaltherzigkeit und Bissigkeit war einfach nur ein Selbstschutz. Was war bloß vorgefallen, dass sie so kalt, brutal und herzlos wurde, wenn sie nicht mehr weiter wusste?
Von ihr unbemerkt zog er sich aus dem Raum zurück. Er konnte nicht länger bleiben. So gerne er seine Frau auch weiter beobachtet hätte, er musste mit Eleasar sprechen. Und zwar dringend. Lautlos eilte er ins Schlafzimmer und hinterließ seiner Frau ein paar Zeilen. Hoffentlich schlief sie noch wenn er wieder kam. In seiner Tasche kramte er nach dem Schlüssel. Schweren Herzens nahm er von seiner Frau Abschied und öffnete das Portal. Sein Ziel war Eleasars Haus.
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