Aram
„Und du bist dir sicher, dass du mir all das wirklich ausgeben willst?" Adele deutete auf das vor ihr stehende Essen. Die unzähligen Einkaufstüten hatten sie bereits im Kofferraum von Rias kleinem roten Flitzer verstaut.
Ria machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich habe genug Geld. Mach dir um mich keine Gedanken." Der nachdenkliche Blick, mit dem ihre Freundin sie musterte, entging ihr nicht. „Bin ich dir jetzt unheimlich?"
Wortlos schüttelte Adele den Kopf. „Ich habe mich nur gefragt, was du vorher für ein Leben geführt haben musst."
Kurzzeitig stutzt Ria. Dann ereilte sie die Erkenntnis, dass Adele dachte, ihr aktuelles Leben gehöre der Vergangenheit an. Nun ja, in den meisten Punkten stimmte das ja auch. Sehr zu ihrem Bedauern waren einige Dinge gleich geblieben. Auch wenn sie nun nicht mehr als Auftragskillerin arbeitete, würde sie weiterhin morden - zum Schutze ihres Clans. „Meine Familie hat mir eine große Summe vererbt."
„Sind sie denn alle tot", fragte ihre Freundin vorsichtig.
Schulterzuckend schob Ria sich eine Gabel Salat in den Mund. „Meine Eltern wurden umgebracht als ich etwa vier war. Ich kann mich nicht an andere Familienmitglieder erinnern und gemeldet hat sich auch niemand. Ich bin bei Freunden meiner Eltern aufgewachsen, aber von denen wurden die meisten bei dem Vorfall umgebracht, dem ich das ganze Zeugenschutzprogramm hier zu verdanken habe." Auch wenn sie ihr nicht alles erzählen konnte und wollte, so wollte sie doch relativ nah an der Wahrheit bleiben. Adele hatte es verdient. „Und jetzt erzähl mal, wie kommst du in so einen Vampirzirkel?"
Adele schien mit sich zu kämpfen. Anscheinend war es für sie kein leichtes Thema. Nach einigen bedrückenden Minuten flüsterte sie nahezu tonlos: „Meine Eltern interessieren sich nicht für mich. Mein Vater ist Alkoholiker und meine Mutter sitzt mittlerweile wegen schweren räuberischen Diebstahls hinter schwedischen Gardinen. Ich habe mir schon früh angewöhnt, lange außer Haus zu bleiben. Auf einem meiner Streifzüge habe ich Aram kennengelernt. Er hat mich dann in seinen Zirkel aufgenommen. Das war vor drei Jahren. Es war das erste Mal, dass ich mich bei jemandem willkommen gefühlt habe. Deshalb fühle ich mich geehrt, dass er mich endlich in seine Familie aufnehmen will." Mit geröteten Wangen konzentrierte sie sich auf ihr Essen.
„Kinder sollten nicht untere den Unzulänglichkeiten ihrer Eltern leiden müssen", murmelte Ria finster vor sich hin.
Adele sah sie forschend an, konnte diesbezüglich jedoch keine Erklärung aus ihrer Freundin heraus kitzeln.
Nach dem Essen schleppte Ria Adele zurück in ihre Wohnung. Dort angekommen musste diese erst einmal alles inspizieren. Auf dem Hinweg hatte sie unten gewartet. „Wow, du wohnst ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe." Überwältigt ließ sie sich in den bequemen Sessel fallen.
Cora, die schlafend auf ihrem Kissen vorm Fenster lag, öffnete mäßig interessiert ihre Augen.
Unterdessen machte Ria sich daran, die Einkaufstüten auszupacken und die Schilder zu entfernen. „Du kannst dich nachher weiter umsehen. Das Bad ist da drüben." Mit der Hand wedelte sie auf eine Tür hinter sich. „Handtücher habe ich dir bereits raus gelegt. Geh erst einmal duschen."
Ria hatte gehofft, dass Adele danach weniger aufgeregt sein würde. Leider war genau das Gegenteil der Fall. Unruhig zupfte sie immerzu an ihrer neuen Kleidung herum. Konnte das Mädchen nicht eine Sekunde ruhig sein?
„Jetzt halt doch einmal still", knurrte Ria, die gerade mithilfe einer Sicherheitsnadel versuchte, eine der zum Oberteil gehörigen, dunkelroten Stoffschleifen sicher zu befestigen.
„Ich kann nicht. Was, wenn ich ihm nicht gefalle?", jammerte Adele schon zum gefühlten hundertsten Mal.
Hinter ihrem Rücken verdrehte Ria ihre Augen. „Das wirst du schon, glaub mir. Spätestens wenn du den ganzen Stoffkram losgeworden bist. Deine Unterwäsche lässt keinen Mann kalt, glaub mir."
„Seit wann kennst du dich mit männlichen Vampiren aus?", fragte sie unsicher.
„Letztendlich sind sie auch nur Männer. Und jetzt halt still, sonst spieße ich dich noch auf."
„Ich versuche ja still zu stehen."
Es dauerte noch ganze drei Minuten, bis es Ria endlich gelang, die Nadel zu schließen. Adeles Aufregung färbte langsam auf sie ab. Dementsprechend angespannt rückte sie Korsett und Bluse ihrer Freundin wieder zurecht und schüttelte den langen Faltenrock in seine richtige Form. „So, du siehst wundervoll aus. Der wird es schwer haben, an sich zu halten."
„Woher kennst du dich so gut mit diesen Sachen aus?" Fragend zupfte Adele wieder am Rock, was Ria beinahe dazu veranlasste sie k.o. zu schlagen, damit sie nicht alles ruinierte. „Ich meine, cool find ich die Sachen ja auch, aber ich hatte bisher nie das Geld dazu."
„Geld war bei mir nie das Problem", erinnerte Ria sie nachsichtig. „Bis vor ... keine Ahnung... eineinhalb Jahren habe ich mich nur in solche Sachen gekleidet. Und jetzt frag bitte nicht weiter. Ich habe kaum noch welche davon. Mein Ex hat sie irgendwann aus meinem Kleiderschrank entfernt."
„Dein Ex?" Überrascht starrte Adele ihre Freundin an. „Wie konnte er nur?"
Schulterzuckend machte Ria sich an der blonden Mähne ihrer Freundin zu schaffen. „Denk dran: stillhalten." Vorsichtig durchkämmte sie das weiche Haar. „Ich würde ja gerne sagen, dass ich deswegen mit ihm Schluss gemacht habe, aber damals war alles so durcheinander. Und irgendwie war das Teil des Neuanfangs, den er für mich wollte."
„Aber du bist doch so selbstbestimmt und stark. Wie kommt es, dass du dir das hast gefallen lassen?"
„Ich war verwirrt und er der so ziemlich einzige Halt, den ich hatte. Über meinen Ex bin ich auch mit dem Herrn Hauptkommissar in Kontakt gekommen, der neulich in der Schule aufgetaucht ist. Er hat einiges für mich getan und das schlussendlich mit seinem Leben bezahlen müssen."
Mit Tränen in den Augen drehte Adele sich nun doch zu ihr um. „Es tut mir so leid für dich."
Schroff wies Ria sie an, sich wieder richtig hinzusetzen. „Es ist okay. Die Herren sind seitdem für mich gestorben."
„Das kann ich verstehen. Du hast so viele Verluste hinnehmen müssen. Das ist echt hart."
Ria reagierte mit einem gleichgültigen Schulterzucken. „Alles kommt und geht. Der Trick ist das Loslassen zu lernen."
„Ich wünsche, du findest bald deine Ruhe und einen Freund, der ewig an deiner Seite bleibt und dich immer lieben wird."
„Wie romantisch", bemerkte Ria sarkastisch.
„Du denkst nicht, dass du es verdienst, nicht wahr?"
Damit hatte sie genau ins Schwarze getroffen. Ria hatte so viele Leute auf dem Gewissen, dass sie nicht glaubte, jemals selbst glücklich werden zu dürfen. Dabei war es vollkommen egal, ob diese den Tod verdient hatten oder nicht. „Weißt du, vielleicht werde ich es mir irgendwann eingestehen, wenn ich ein wenig mehr Abstand zu den jüngsten Ereignissen habe."
Adele nickte nachdenklich. „Das hoffe ich."
Schnaubend ließ Ria eine Haarsträhne aus ihren Händen gleiten. „Ich kleb dir gleich den Mund zu, damit du mir keine Fragen mehr stellen kannst. Und jetzt halt bitte einmal fünf Minuten lang still, sonst ist deine Frisur nachher schiefer als der Turm von Pisa."
Das schien zu helfen. Artig hockte Adele fast bewegungslos auf dem Stuhl, während Ria ihr Haar möglichst kunstvoll zusammensteckte.
Als ihr Werk vollendet war, ließ sie von den Haaren ihrer Freundin ab. „So, hier. Ich hoffe, es gefällt dir. So genau kenne ich mich mit diesen Dingen aber nicht aus, also erwarte nicht zu viel."
Ohne Vorwarnung sprang Adele auf und stürzte ins Badezimmer. Kopfschüttelnd und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen machte Ria sich daran aufzuräumen. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, strahlte Adele sie so dankbar an, dass es ihr geradezu wehtat.
„Oh Ria, das hast du so gut gemacht, danke!"
Es gelang Ria gerade eben noch, ihrer Umarmung auszuweichen. „Du ruinierst alles, wenn du dich jetzt an mich quetschst." So ganz stimmte das zwar nicht, doch wollte sie es nicht noch emotionaler werden lassen. Die vergangenen eineinhalb Stunden waren schon aufwühlend genug gewesen. Jetzt musste sie erst einmal wieder eine säuberliche Mauer um diese unwillkommenen Gefühle bauen. Gewisse Dinge sollte man einfach in der Vergangenheit lassen, dachte sie resignierend. An Adele gewandt sagte sie betont gelassen: „Komm, ich bring dich weg. Handy?"
Adele hielt das geforderte Gerät nach oben.
Ria nickte zufrieden. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Egal wie spät es ist."
Dafür erntete sie ein dankbares Nicken ihrer Freundin. „Danke."
Die Fahrt verlief unerwartet ruhig. Während Ria ihren eigenen trübsinnigen Gedanken nachhing, war Adele damit beschäftigt, ihre Nervosität nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.
Am Ziel der recht kurzen Fahrt angekommen, fiel es Ria schwer, Adele vor dem vor ihnen liegenden älteren Haus mit der leicht bröckelnden Fassade abzusetzen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Doch solange sie keinen triftigen Grund hatte, konnte sie Adele wohl kaum davon abhalten. Schließlich freute sie sich schon lange auf diesen Abend.
Auf die Bitte ihrer Freundin hin begleitete sie sie bis zur Tür. Noch bevor die beiden Mädchen die Treppenstufen erreicht hatten, die auf die kleine Veranda vor dem Eingang führten, wurde die Haustür aufgerissen. Ein junger Mann von schlaksiger Statur, mit dunklen, ungeordneten Haaren suchte ein wenig kleinlaut das Weite.
„Flori." Adele schien den Gemütszustand des Jungen nicht zu bemerken. Erfreut fiel sie dem Jungen um den Hals. „Was machst du denn hier?"
Fahrige dunkelbraune Augen musterten Adele. „Deli, bist du das? Wow, hast du dich verändert. Du siehst klasse aus. Willst du zu Aram? Der war vorhin nicht gerade gut drauf."
„Du siehst aus, als hättest du dir andauernd die Haare gerauft. Gibt es Stress?"
„Nicht besonders. Die Vorbereitungen laufen nicht ganz so glatt, wie geplant."
Während Adele und ihr Bekannter munter miteinander plauderten, nutzte Ria die Gelegenheit, die Gegend nach Verdachtsmomenten abzusuchen. Es war ruhig hier. Sie befanden sich in einem nicht ganz so dicht besiedelten Stadtteil, der geradezu vernachlässigt wirkte. Perfekt für zwielichtige Machenschaften.
Ria! Ragnaröks alarmierender Ruf erreichte sie im gleichen Moment, in dem sie es ebenfalls wahrnahm. Eine feine Note, die sich dennoch in ihr Gehirn gebrannt hatte. Dieser junge Mann neben Adele stand eindeutig im Zusammenhang mit Gians Tod. Mühsam unterdrückte sie den Impuls, ihn sich sofort vorzunehmen. Sie konnte schlecht vor Adele ihre Fassung verlieren und den Kerl in ihrem Beisein zum Singen bringen. Außerdem würde sie damit ihre Freundin im Stich lassen. Ihre einzige Freundin. Sie musste sich also vorerst damit begnügen, ihre Schattendrachen auf ihn anzusetzen.
„Robin?"
Adeles Frage holte sie wieder zurück ins Geschehen. „Ja?"
„Das ist Florian, ein Freund aus dem Zirkel. Er ist unter anderem mit den Vorbereitungen für das Ritual morgen betraut."
Mit gezwungenem Lächeln schüttelte sie ihm die Hand. „Hey." Es kostete sie wirklich einiges an Überwindung den Trottel vor ihr nicht aus Versehen die Hand zu brechen. Hoffentlich wusste Adele das zu schätzen.
Ein Schauer überfiel Ria plötzlich und sie wandte sich zur Haustür um, bevor eine hochgewachsene Person im Rahmen erschien. Er strahlte etwas Kaltes aus. Zwar konnte sie an ihm auch Spuren von Emotionen wahrnehmen, doch waren sie lange nicht so deutlich wie die, die Florian und Adele ausstrahlten.
Fragend musterte Adele ihre Freundin. „Was ist?"
„Adele." Die Stimme des Mannes klang irgendwie leicht hypnotisierend. Etwas, das Ria in dieser Form noch nie erlebt hatte.
Was immer er ist, er ist weder Mensch noch Jäger.
Ragnarök schien ihre Ansicht zu teilen. Stimmt, weder die leicht unterschwellige Hitze, die die Jäger ausstrahlen, noch das alles überquellende Chaos der Menschen kann ich wahrnehmen. Was auch immer er ist, ich kann es dir nicht sagen.
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Ria, wie Adele anfing zu strahlen. Offensichtlich war das der Vampir, von dem sie gesprochen hatte. Aber ob er wirklich war, wofür er sich ausgab, konnte sie nicht beurteilen. Dazu fehlte ihr ein zuverlässiger Vergleich.
„Aram." Verliebt lächelte Adele ihren Zirkelführer an. Rein optisch konnte Ria ihre Schwärmerei nachvollziehen. Mit seinem langen schwarzen Haar, den blassgrünen Augen und dem trainiert wirkenden Körper war er durchaus ein Leckerbissen. Hinzu kamen feine und doch männliche Züge und ein blasser, zu seiner Erscheinung passender Teint. Er war bei weitem nicht so blass, wie die Menschen sich Vampire vorstellten. Wem das gute Äußere noch nicht genug war, der bekam durch das dunkle Charisma, das er verströmte einen weiteren Grund, für ihn zu schwärmen. Allerdings war es ebendiese Ausstrahlung, die bei Ria sämtliche Alarmglocken schrillen ließen. Ein attraktiver Mann voller Verlockungen. Ein Mann, dem sie nicht trauen wollte. Ihre Freundin bei ihm zu lassen ging ihr dementsprechend gegen den Strich. Doch was sollte sie tun? Das war Adeles Angelegenheit, nicht ihre.
„Du bist wunderschön", erklang diese merkwürdige Stimme erneut.
Unsicher und zugleich aufgeregt drehte Adele sich mit leicht geröteten Wangen zu ihrer Freundin um. Nervös griff sie nach Rias Händen und drückte sie kurz. „Also, bis dann. Wir sehen uns morgen." Vorsichtig lief Adele zu Aram, der ihr besitzergreifend eine Hand ins Kreuz legte.
Wenig begeistert rang Ria sich zu einem Lächeln durch und winkte ihr zum Abschied. „Bis morgen." Ihre Worten richtete sie nicht an Adele, sondern an Aram. Sie waren eine Drohung, dass Adele unversehrt zurückzukehren hatte. Für einen kurzen Moment begegnete Rias Blick dem des angeblichen Vampirs. Zu ihrer Genugtuung erkannte sie, dass er ihre Mahnung verstanden hatte. Er blinzelte kurz verdutzt, hatte sich aber so schnell wieder gefangen, dass Ria sich fragte, ob er sich gerade wirklich über etwas gewundert hatte.
„Flo, begleite Adeles Freundin doch bitte zur Straße." Bestimmt schob der Möchtegern-Vampir die Blondine in Richtung Haus.
Ria wandte sich an Florian und lächelte ihn gefährlich freundlich an. „So, du bist also Florian."
Der junge Mann nickte wortlos. Er wirkte irgendwie gehetzt. Vielleicht konnte sie ja mit seiner Hilfe etwas über diesen Aram herausfinden.
„Sieht so aus, als hättest du eine Heidenangst vor deinem Zirkelführer. Was ist er für ein Mann?"
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