• 𝐏𝐑𝐎𝐋𝐎𝐆 •
Kat
„Was ist Ihr Traum?"
Ich zog meine Brauen zusammen: „Wie meinen Sie das?"
Ohne zu antworten, ließ sich die Fremde auf ihrem Stuhl zurücksinken, wobei mich ihre braunen Augen weiterhin musterten.
Wir saßen in einem kleinen Restaurant in der Altona-Altstadt in Hamburg ganz nah am Fischmarkt. Das Ambiente wirkte altmodisch und ein wenig heruntergekommen, dennoch hatte es etwas Einladendes an sich, als würde man sich viele Jahre in der Zeit zurückversetzen lassen. Es war keine halbe Stunde vergangen, seitdem ich eingetreten war und mich hingesetzt hatte. Früher war ich öfter in Hamburg gewesen, wenn ich eine Abwechslung zu dem Landhaus haben wollte, in dem ich aufgewachsen war, doch mit der Zeit waren meine Besuche immer seltener geworden, bis ich sie schließlich beinahe vollkommen aufgeben hatte. Heute war der erste Tag seit über einem Jahr, an dem ich durch den hölzernen Torbogen des Lokals trat.
Ein paar Minuten nach meiner Ankunft war die Tür erneut aufgeschwungen und jemand kam herein. Die Fremde war recht groß, sodass man sie zwischen den vielen sitzenden Gästen deutlich erkennen konnte. Hinter ihrem dünnen Pony hatte ich ein paar hellbrauner Augen erkennen können, das seine Blicke zwischen den Tischen hindurch schweifen ließ. Ihr dunkles Haar war beinahe schwarz, doch im Licht der gelblichen Deckenlampen lag ein brauner Glanz darauf, der auch geblieben war, als sie sich zu mir umgedreht hatte. Da war diese Ruhe in ihrem Gesicht gewesen, wie ich sie noch nie zuvor erblickt hatte, als sie auf meinen Tisch zukam.
„Darf ich mich setzen?", hatte sie mit einer matten – fast schon tiefen – Stimme gefragt.
„Gerne!", war die einzige Erwiderung, zu der ich im Stande gewesen war. So hatte unser Gespräch seinen Lauf genommen, bis sie mir diese eine Frage gestellt hatte, die mich erneut zum Stutzen brachte.
‚Was ist Ihr Traum?'
Meine Antwort war irritiert gewesen: „Wie meinen Sie das?"
Daraufhin lächelte sie: „Nun ja, jeder hat doch irgendeinen Traum – einen Grund, der uns morgens aufstehen und abends ins Bett gehen lässt."
„Ich habe Pläne", sagte ich und war mir nicht sicher, ob sie das meinte. Ein leichtes Kopfschütteln von der Fremden zeigte mir, dass ich offenbar nicht verstanden hatte, auf was sie hinauswollte: „Träume sind größer als Pläne. Was willst du in der Zukunft tun, das von Bedeutung ist?"
„Bedeutung?", wiederholte ich irritiert. Ich hatte mich schon oft gefragt, was meine Pläne für die Zukunft wären, aber nach etwas ‚Bedeutendem' hatte ich nie Ausschau gehalten. Ganz im Gegenteil sogar: Ich hatte immer einen großen Bogen um alles Einzigartige gemacht, bis die Normalität zu meinem stetigen Begleiter geworden war.
„Ein Traum kann vieles sein", begann die mysteriöse Frau weiter zu erklären, „eine Reise, eine Tat, irgendein Anruf, der noch getätigt werden muss. Von was Träumen Sie, wenn Sie die Augen schließen?"
„Das habe ich mich nie gefragt", gab ich ehrlich zu, doch ich hätte nicht leugnen können, dass mich diese Frage beschäftigte. Was war dort, wenn ich die Augen schloss? Finsternis, wäre wahrscheinlich die ehrlichste Antwort gewesen, aber ich war mir bewusst, dass es nicht das war, auf was diese Fremde hinauswollte.
„Irgendetwas muss es doch in Ihren Träumen geben, das immer wieder vor Ihr inneres Auge kommt", entgegnete sie. Wie auch zuvor durchbohrte mich der Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen beinahe. Sie wartete voller Ruhe auf meine Antwort und dennoch war diese Neugier, die wie ein leichter Druck auf mich einwirkte.
„Ich weiß es nicht", gestand ich unsicher, „wenn ich schlafe, träume ich nur wirres Zeug!"
„Dann werde ich Sie anders fragen: Sagen wir, Sie hätten nur noch eine gewisse Zeitspanne zu leben. Was würden Sie tun?"
„Die sieben Weltwunder ansehen", die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Ich stutzte. Bis gerade hatte ich selbst nie wirklich daran gedacht, auch wenn es mir nun sonnenklar erschien.
Für einen kurzen Augenblick wirkte die Fremde ebenfalls überrascht, doch ehe sie eine Frage stellen konnte, fuhr ich bereits fort: „Ich meine nicht die modernen Weltwunder - auch wenn ich glaube, dass das Kolosseum in Rom oder der Machu Picchu unglaublich interessant wären - aber ich meine tatsächlich die antiken Weltwunder!"
„Sind die meisten nicht nur noch Ruinen?", wollte die Fremde leicht verwundert wissen.
„Das sind es, aber ist das nicht der Reiz? Man reist dorthin und am Ende beeinflusst man selbst, welchen Eindruck man hat. Wer vor dem Taj Mahal steht, sieht es in seiner vollen Pracht – aber wer vor dem Artemis-Tempel in Ephesos steht, muss sich alles vorstellen und etwas Einzigartiges aus dem nichts entstehen lassen."
Schon seit ich klein war, hatte ich eine Vorliebe für die Antike besessen – Römer, Griechen, Ägypter und alle anderen Völker, die dazu gehörten. Ich hatte das Wissen über diese Zeit in der Vergangenheit regelrecht in mich eingesaugt, aber nie wirklich daran gedacht, ihren Spuren zu folgen – zumindest bis jetzt nicht.
Die Fremde mir gegenüber hatte gerade zu einer Antwort ansetzen wollen, als ihr Blick auf die Armbanduhr an ihrem Gelenk fiel. Nachdenklich biss sie sich auf ihre Unterlippe, doch als sie wieder mich ansah, schien sie wieder voll und ganz in der Gegenwart zu sein.
„Ich muss gehen. Es war interessant, mit Ihnen gesprochen zu haben!", sagte sie und erhob sich bereits.
Einen Moment war ich verwirrt, aber schon im Nächsten hatte ich meine Stimme wiedergefunden: „Wie heißen Sie?"
Das war die Frage, die mich von der ersten Minute beschäftigt hatte, in der diese ungewöhnliche Fremde durch den niedrigen Torbogen getreten war. Ein kleines Lächeln bildete sich auf ihren Lippen: „Ich bin Molly Goldblum und Sie?"
„Kat Stiegler!"
„Ein ungewöhnlicher Name", bemerkte sie noch immer lächelnd. Diese offenbar unveränderbare Ruhe lag noch immer in ihren braunen Augen wie zu Beginn unseres Gesprächs.
„Es ist ein Spitzname", gab ich zu.
„Na dann", die Fremde hob die Hand für einen knappen Wink, „leb wohl, Kat!"
„Du auch, Molly", rief ich ihr noch nach, während sie bereits eilig aus dem Lokal hechtete, so als würde die Zeit sich gegen sie gewendet haben. Hinter der Frau fiel die Tür klirrend ins Schloss und die Welt war mit einem Mal wieder so, als hätte sie nie das Gebäude betreten – dennoch vergaß ich nie, was Molly damals zu mir gesagt hatte.
Dieser Tag vor fünf Jahren hat sich in meine Erinnerungen gebrannt – viel mehr als all die Erlebnisse, die darauf folgten. Ich habe die Statue des Zeus, das Grab des Königs Maussolos, die hängenden Gärten von Babylon, der Koloss von Rhodos, der Leuchtturm von Alexandria, der Tempel der Artemis in Ephesos und die Pyramiden von Gizeh gesehen, aber dennoch hat sich keines dieser Weltwunder so sehr in mein Gedächtnis gebrannt, wie diese mysteriöse Frau: Molly Goldblum wurde ein Wunder für sich!
𓅿
Moin und herzlich willkommen zu "Du wirst mein Traum"! Egal ob du schon alteingesessenener Kiehsauer bist oder neu einsteigst, hoffe ich, dass dir der Prolog gefallen hat! ❤️
Weiter geht es am Dienstag!
Das grandiose Cover ist wieder von cadencehille, deren Bücher mindestens genauso grandios sind! ❤️
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