• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 5 •
Kat
Staunend lasse ich meinen Blick an dem Gebäude höher wandern. Das Rathaus hat einen kleinen Leuchtturm auf dem Dach, dessen Gestein sich von dem Restlichen unterscheidet und die spezielle Konstruktion somit nur noch mehr hervorhebt. Wenige Stufen führen zur Tür hinauf, durch die wir bereits in einen kleinen Flur blicken können.
Neben mir stößt Glitzer ein genervtes Stöhnen aus, so als würde er am liebsten direkt wieder umdrehen und fliehen. Auch Molly wirkt nicht sonderlich begeistert, doch sie scheint sich im Gegensatz zu ihm zusammen zu raffen: „Augen zu und durch, oder?"
„Herr Schiffkes Stimme ertrage ich auch ohne seine Erscheinung nicht", knurrt Glitzer nur, ehe er voraus stolziert. Molly und ich folgen ihm gemeinsam.
Die Beiden hatten mich bereits auf dem Hinweg über diesen gewissen Herrn Schiffke aufgeklärt. Ihren Beschreibungen nach ist der ein Mann Ende der Fünfziger, der nicht ohne Seemannsmütze aus dem Haus geht und mittlerweile seit etlichen Jahren Kiehsaus Bürgermeister ist.
Ich komme gar nicht mehr aus meinem Staunen heraus, als wir das Gebäude betreten. Mehrere alte Gemälde mit Schiffen zieren die ansonsten unscheinbaren Wände, doch das ist nichts im Gegensatz zu dem Anblick, der sich mir als nächstes bietet. Denn wir betreten ein volles Wohnzimmer und mit voll meine ich, dass ein Stuhl direkt am nächsten steht. Nur zwei schmale Gänge sind zwischen den Reihen, durch die Molly sich zu quetschen beginnt. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich den blonden Typ in der ersten Reihe, der uns zu sich winkt und den Molly bereits anzustreben scheint.
„Molly!", höre ich ihn gleich darauf sagen. Ich versuche mich trotz der Menge dicht an meine Begleiter zu halten.
„Rutscht mal!", meint diese anstelle einer Begrüßung. Erst jetzt fällt mir auf, dass Glitzer, der bis gerade vor ihr war, aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Doch mir bleibt auch keine Zeit, um nach ihm Ausschau zu halten, denn in diesem Moment entdeckt der blonde Kerl auch mich.
„Wen hast du denn da mitgebracht?", fragt er Molly mit einem schiefen Lächeln, das unglaublich spitzbübisch aber trotzdem flirtend wirkt, wie ich es noch nie bei jemandem gesehen habe. Aus himmelblauen Augen blickt er neugierig zu mir auf.
„Das ist Kat", stellt Molly mich knapp vor und lässt sich auf den Platz am Gang sinken. Ich schiebe mich an ihr vorbei zwischen sie und den Typen.
„Ich bin Luke", stellt er sich vor. Lächelnd ergreife ich die Hand, die er mir hinhält. Als ich sie wieder loslasse, fährt Luke fort: „Und das ist Nesrin!"
Er deutet auf eine junge Frau mit dunklem Haar neben sich, deren fast schon katzengrüne Augen mich auf eine unergründliche Weise mustern. Das ist also diejenige, mit der Glitzer nicht verglichen werden will! Bis auf ihren nun genervt werdenden Gesichtsausdruck scheinen die Beiden keine wirkliche Gemeinsamkeit zu haben. Als ich nach vorne zu einem kleinen Pult mit Schiffsglocke sehe, erkenne ich auch den Grund für ihre Stimmungsschwankung. Es liegt an einem kleinen Mann, der sich nun räuspert.
Nichts geschieht.
Er rückt seine Seemannsmütze kurz zurecht, ehe er erneut ein – dieses Mal lauteres – Räuspern von sich gibt.
Wieder erfolgt keine Reaktion von der laut durcheinandertratschenden versammelten Menge. Entweder sie sind wirklich alle zu sehr in ihre Gespräche vertieft oder sie genießen die letzten friedlichen Sekunden ohne ihren Bürgermeister. Denn genau um diesen scheint es sich bei dem Mann zu handeln, der mich bei genauerem betrachten ein wenig an einen Gartenzwerg erinnert.
„Nun haltet doch mal den Sabbel!", entfährt es ihm plötzlich. Schlagartig verstummen alle.
„Was ist denn los, Schiffke?", höre ich eine alte Frau in einer der letzten Reihen fragen.
Der Mann, welcher offenbar tatsächlich Herr Schiffke ist, lässt ein Lächeln in seinem Gesicht erscheinen, das so ruhig wirkt, dass es mir schon wieder beängstigend vorkommt: „Vielen Dank, Ilse, das du fragst!"
„Gerne!"
„Das war Ironie!"
Selbst auf die Entfernung kann ich erkennen, wie die Dame ihre Stirn in Falten legt: „Oh, wirklich? Bei Nesrin ist das irgendwie eindeutiger!"
„Weil Nesrin alles ironisch meint", kommentiert Luke neben mir laut, worauf er einen Klaps in die Seite von seiner Sitznachbarin erntet.
„Niemand schätzt hier die Wahrheit", raunt er mir grinsend zu. Ich kann einfach nicht anders, als leise zu kichern. Selbst Molly neben mir geht es ähnlich.
„Luke!", schallt es gleich darauf von Herrn Schiffke, „möchtest du uns an deinem Witz teilhaben lassen? Ich denke, wir würden auch alle sehr gerne mit dir und – wer ist das überhaupt?"
Wie eine Welle rucken alle Köpfe herum, bis sie mich neben Luke finden. Ein dutzend Augenpaare starrt nun neugierig in meine Richtung.
„Hi", zögerlich hebe ich meine Hand zum Gruß.
„Moin", kommt es sogleich vereinzelt zurück.
„Wer sind Sie, junge Dame?", will der Bürgermeister von mir wissen, doch ehe ich etwas sagen kann, kommt mir Molly bereits zuvor.
„Das ist Kat!"
Offenbar scheint sie nicht sonderlich viel von ausschweifenden Vorstellungen zu halten. Wieder winke ich lächelnd in die Runde.
„Und was macht sie hier?"
„Kat ist zu Besuch!"
Ich kann Molly diese Umschreibung nicht verübeln. Wenn wir die genaue Wahrheit erzählen würden, kämen wir wahrscheinlich vom eigentlichen Thema ab.
„Und da dachtest du, du bringst sie einfach mal mit?"
„Wieso denn nicht?"
„Wieso nicht?", wiederholt Schiffke und seufzt, als wäre Molly ein kleines Kind, dem man alles drei Mal erklären muss, „irgendwann kommen noch die Touristen her! Das hier ist eine interne – man könnte auch sagen – geheime Angelegenheit. Es reicht doch, dass seit neustem immer diese Cadenci dort hinten hockt!"
„Oh, Sie meinen Cady!", entfährt es einer älteren Dame verzückt, „sie ist eine ganz Knuffige, oder?"
Wie zur Kontrolle dreht sich die Menge erneut um. Auch ich wende mich der jungen Frau zu, die in der hintersten Reihe sitzt. Mit dem Abstand erkenne ich nur ihr dunkles Haar, dessen Pony dort endet, wo ihr hell funkelnder Lidschatten beginnt, mit dem sie sogar Glitzer Konkurrenz machen könnte.
Schon scheinen alle ihre Aufmerksamkeit wieder auf Schiffke zu richten, der kopfschüttelnd schnaubt.
„Jetzt sag endlich, was los ist!", drängt ein alter Mann in der ersten Reihe.
„Ich hatte nichts anderes vor, Wolfgang", fährt der Bürgermeister ihn leicht gereizt an, ergibt sich dann aber dennoch zu einer Erklärung, „wir sind hier, weil ich bald Geburtstag habe!"
Molly neben mir entgleiten die Gesichtszüge. Den meisten anderen scheint es ähnlich zu gehen, denn mit einem Mal ist es still im Saal, so als hätte Herr Schiffke gerade den Weltuntergang angekündigt.
„Und bis zu meinem Geburtstag dauert es nicht mehr lange!", fügt er eilig hinzu.
„Kommt nicht erst Nesrins und Fionas Hochzeit?", fragt jemand aus den letzten Reihen.
Der Bürgermeister nickt: „Das stimmt wohl, aber während der Flitterwoche von den Beiden ist meinGeburtstag und die Überraschungspartys in den letzten Jahren waren nun ja –grenzwertig! Wie soll das dann erst werden, wenn Nesrin gar nicht da ist!"
Ich höre, wie Luke fassungslos die Luft ausstößt. Nesrin tut es ihm gleich – nur wesentlich lauter, sodass sie damit Schiffkes Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch viele andere werfende bereits Blicke in die Richtung der jungen Frau, welche klar zeigen, dass sie das hereinbrechende Unheil schon erahnen.
„Was gibt es zu sagen, Nesrin?", will auch Schiffke sogleich wissen. Seine buschigen Brauen haben sich ein Stück verengt.
„Nichts, ich hatte eigentlich nur vor, einen Asthmaanfall vorzutäuschen!"
„Das war Ironie!", erkennt die alte Dame namens Ilse stolz, worauf zustimmendes Gemurmel folgt. Weder Nesrin noch der Bürgermeister lassen sich von der Menge ablenken.
„Wir machen jedes Jahr eine Party", fährt Nesrin fort, „und bisher war es immer gut."
„Es war immer dasselbe."
„Das heißt nicht, dass es schlecht war!"
Ich bemerke, wie Luke ein Stück tiefer in seinem Sitz sinkt. Offenbar kann dieses Gespräch noch länger dauern.
„Ich möchte das Dorf ja nur dazu motivieren, sich etwas einfallen zu lassen", verteidigt sich der Bürgermeister, „aber wenn niemand diesen nett gemeinten Rat annehmen will, gehen wir zum nächsten Punkt auf der Liste über."
„Es ist nicht einmal Freitag!", höre ich Glitzers genervte Stimme klagen.
„Ja und?", die Augenbrauen des Bürgermeisters nähern sich einander noch mehr, „jeder Tag ist ein guter Tag, um sich als engagiert zu beweisen, Glaukos!"
Mit diesen Worten fährt er fort, während ich zu sehen glaube, wie die Menge leise seufzend gegen ihre Stuhllehnen sinkt.
𓅿
Ob die Beiden den Rest der Versammlung auch noch überleben, erfahrt ihr am Freitag! ❤️
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