• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 35 •

Kat

Unschlüssig sitze ich in dem kleinen spartanisch eingerichteten Zimmer vor dem Büro meiner Mutter. Immer wieder wirft mir ihre Sekretärin beinahe ängstliche Blicke zu. Sie wirkt wie ein panisches Huhn, das man mit Bastelkleber auf einem Stuhl festgeklebt hat, damit es nicht alle anderen aufscheucht, indem es von links nach rechts hüpft. In ihren Augen kann ich die ängstliche Frage erkennen, was wohl mehr wehtun würde: Aufstehen und sich die Feder auszureißen oder hier bei meiner Mutter zu bleiben.

„Wie heißen Sie?", will ich wissen und fürchte schon, dass die Frau vor Schreck von ihrem Stuhl fällt, doch sie zuckt nur gewaltig zusammen.
Was zum Teufel macht meine Mutter mit ihren Mitarbeiterinnen, dass sie alle aussehen, als hätten sie die dunklen Geheimnisse von Entensex erfahren – eine meiner unschönsten Internatserinnerungen.

„Ich bin Frau Siemer, Katja Siemer, um genau zu sein", murmelt sie schüchtern und schiebt ihre Brille mit den überdimensional großen Gläsern höher, die jeden Moment drohte, endgültig von ihrer winzigen Nase zu rutschen.

„Okay, Katja, sag Bescheid, wenn du bemerkst, dass du ein Beruhigungsmittel brauchst. Du wärst nicht die Erste, die meine Mutter, ohne es zu mitzubekommen, zu einer Therapie schickt. Ich hab bestimmt noch die Visitenkarte meiner Psychologin."

Letzteres ist natürlich gelogen, aber diese Lüge lohnt sich angesichts der Tatsache, dass ich erkennen kann, wie Katja förmlich die Augen aus dem Kopf fallen, während ich das lächelnd sage. Ihr ohnehin schon ängstliches Gesicht hat nun eine weiße Färbung angenommen, die nicht wirklich gesund aussieht.

„Mir geht es gut", piepst sie leise und verschwindet dann mit dem Kopf hinter ihrem großen Computerbildschirm. Ich zucke mit den Schultern. Soll sie es sich das doch weiter einreden!

Schnelle Schritte erlösen Katja schließlich von meiner betörenden Gegenwart, denn die Tür neben mir wird geöffnet. Monika, eine der ältesten Sekretärinnen meiner Mutter mustert mich fast schon ungläubig, als sie in den Vorraum tritt. Man muss ihr gesagt haben, dass ich kommen würde, doch erst jetzt scheint sie es so wirklich zu begreifen.

„Ich hätte auch nicht gedacht, mich hier jemals wiederzusehen", bemerke ich, ehe sie dazu kommt, irgendetwas zu sagen.
Monika nickt nur abwesend. Allein dass sie, eine Frau, die es seit Jahren mit meiner Mutter aushält, über mein Auftreten irritiert ist, zeigt deutlich, wie unwahrscheinlich es war, dass ich meine Füße jemals wieder auf diesem perfekten cremefarbenen Teppich ausstrecken würde.

„Treten Sie doch ein, Fräulein Stiegler!", murmelt Monika mit einem aufgezwungenen Lächeln und hält mir die Tür auf. Knapp nickend schlendere ich an ihr vorbei.
Es ist noch immer unbestreitbar, dass ich nicht hierher passe. Weder meine schwarz-weiß karierten Sneaker, noch das gleich gemusterte langärmlige Oberteil unter meinem weiten schwarzen T-Shirt stimmen irgendwie mit der Einrichtung überein.

„Du hast dich wirklich in Schale geworfen, Kat", erklingt die tadelnde Stimme meiner Mutter. Sofort finden meine Blicke sie. Meine Mutter sitzt wie immer hinter ihrem breiten Schreibtisch, der offensichtlich zum Protzen gedacht ist, und hat die behandschuhten Finger vor sich auf der marmorgemusterten Platte verschränkt. Die eisigen blauen Augen hinter den Brillengläsern mustern mich offensichtlich, bis ihr Blick an meiner löchrigen weiten Jeans hängen bleibt.

„Ich finde, ich sehe gut aus", entgegne ich und lasse mich auf einen der Stühle vor ihr fallen, „die Stücke sind alle aus deiner neusten Kollektion, aber offenbar warst du an der nicht sonderlich viel beteiligt."
„Ein weiterer Beweis dafür, dass der Modegeschmack langsam schwindet", entgegnet meine Mutter noch abfällig, während sie nach einer kleinen Porzellantasse greift, „wie geht es Molly?"

Bei der Frage ist ein kaum bemerkbarer neugieriger Ausdruck in ihre Augen getreten, als würde sie nur so danach brennen, zu erfahren, wie es zwischen mir und meiner geliebten Kiehsauerin ausgegangen ist.

„Gut!", antworte ich, auch wenn ein Teil von mir hofft, dass das gelogen ist. Es mag grausam sein, doch ich komme nicht davon weg, mir zu wünschen, sie würde mich gerade schmerzlich vermissen.

„Das freut mich. Sie ist eine sehr zuvorkommende junge Frau."
Das weiß meine Mutter ja offensichtlich besonders gut. Ohne zu wissen wie, halte ich mein Lächeln aufrecht.
„Das ist sie."
„Und was führt dich hierher?", will sie weiterwissen und nimmt einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse.

„Das, was alle jungen Erwachsenen in Unternehmen führt, ich brauche einen Job für den Sommer."
Einen kurzen Augenblick lang fürchte ich, sie würde den Tee quer über ihren Schreibtisch spucken, doch zu meiner Enttäuschung hustet sie nur leise.

„Wie bitte?"
„Ich brauche einen Job. Bin ich da hier nicht richtig."
„Doch", antwortet sie für ihre Verhältnisse eine Spur zu schnell. Mutter räuspert sich leise, ehe sie ein weiteres Mal – dieses Mal ruhiger, murmelt: „Doch, Kat. Natürlich!"

„Freut mich", mein Lächeln wird eine Spur breiter, während ich meine Ellenbogen auf den breiten Armlehnen des Sessels positioniere, „was soll ich tun?"
Wieder räuspert sie sich: „Erst einmal sollte ich dir vielleicht die Grundlagen von unserer Arbeit hier erklären."

„Also dann", ich rutsche noch ein wenig tiefer in den Sitz, um es gemütlicher zu haben, „nimm dir alle Zeit der Welt. Ich höre zu, Mama."

Ein paar Herzschlage lang meine ich, sie überrascht innehalten zu sehen, doch dann beginnt sie langsam zu erklären. Ich höre ich aufmerksam zu. Manchmal nicke ich, ziehe meine Augenbrauen zusammen oder öffne den Mund, nur um ihn im nächsten Moment wieder zu schließen, doch ich meckere nicht. Irgendwie hatte ich mir dieses Aufeinandertreffen anders vorgestellt, doch als ich Stunden später den Raum wieder verlasse, ist alles anders. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, diesem Weg, der mir bestimmt war, entkommen zu müssen. Aber wieso? Weil ich dachte, dass andere Menschen nicht recht haben können? Oder weil ich glaubte, dass mir dieses Recht haben der anderen meine eigene Freiheit nehmen würde?

Ich winke Katja knapp zu, die bloß wieder wie gestochen zuckt, ehe ich die Wendeltreppe in den Eingangsbereich hinabsteige. Unten kommt Monika an mir vorbei, die sich langsam an meine Anwesenheit gewöhnen zu scheint. Auch von ihr verabschiede ich mich, als ich die gläsernen Türen aufstoße. Sofort weht mir die stickige Großstadtluft entgegen. Ich schließe meine Augen. Mit einem Mal riecht es nicht mehr nach Abgasen, sondern nach Meeressalz. Die Geräusche des Verkehrs werden zum Kreischen der Möwen und als ich meine Lider aufschlage, sieht der Himmel plötzlich ganz anders aus.

𓅿

Nicht wundern, dass momentan so viele Kapitel kommen...irgendwie motiviert der Urlaub 😂

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