• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 32 •

Molly

„Wie geht es Kat?", will Fiona wissen, während wir am Flughafen aus meinem Wagen steigen und ich die Tür mit Schwung zuknalle.

„Gut", sage ich, obwohl ich eigentlich keine Ahnung habe, wie es ihr geht. Als ich gegangen bin, lag sie immer noch schlafend in meinem Bett. Einen Moment lang habe ich im Türrahmen verweilt und sie betrachtet. Nicht zum ersten Mal ist mir der Gedanke gekommen, dass es immer so sein könnte. Ich würde jeden Morgen aufwachen und Tag für Tag lächelnd diese atemberaubend verrückte Frau ansehen, die wie ein Feuerwerk in mein Leben geplatzt ist. Ich würde die ersten Sonnenstrahlen bewundern, die ihr dunkles Haar leicht golden glitzern lassen und einfach nur dastehen mit dem stillen Wunsch, die Zeit würde genau in diesem Moment für immer stehen bleiben.

„Das beruhigt mich", meint Fiona lächelnd, während Nesrin die Koffer aus dem Auto hebt, „sie sah gestern ziemlich blass aus. Wer war eigentlich dieser Kerl bei ihr?"

„Welcher Kerl?", frage ich irritiert.
„Na, der neben ihr bei Nesrins und meinem Hochzeitstanz stand."
„Du hast bei unserem Tanz ein Auge auf irgendeinen Typen geworden, Schatz? Ich hätte auf Luke hören sollen, als er mich vor der Ehe gewarnt hat", neckt Nesrin ihre Frau grinsend, die darauf nur die Augen verdreht.

„Ich war einfach nur überrascht, weil ich ihn nicht kannte!"
„Das war Leonardo", erkläre ich und schließe hinter Nesrin die Kofferraumtür, „er ist ihr Nachbar und ein alter Freund. Ihre Mutter war ja auch da."

„Von der Dame hat uns Herr Schiffke schon erzählt", Nesrin lacht in sich hinein, während sie einen Koffer zu Fiona herüberschiebt. Diese nickt grinsend: „Scheint eine wahrliche Erscheinung zu sein."
„Oh, das ist sie", bestätige ich lachend, „eine sehr spezielle Frau."

„Wie ihre Tochter", fügt Nesrin hinzu, „na dann viel Spaß in der Zeit, bis wir wieder da sind. Pass auf, dass Herr Schiffke nicht an neuen Ideen überläuft, bis wir zurückkommen!"

„Das werde ich", verspreche ich, obwohl ich bei Herr Schiffke für nichts garantieren kann, und drücke sie noch einmal kurz. Auch Fiona umarme ich, ehe die Beiden sich an den Händen nehmen und leise kichernd mit ihrem Gepäck verschwinden.

Ich bleibe noch kurz auf dem Parkplatz stehen, bis die Türen des Flughafens endgültig hinter ihnen zufallen. Dann steige auch ich wieder in den Wagen, um mich auf den Heimweg zu machen.

Als ich den Hausflur hinaufstapfe, spüre ich die Nachwirkungen der Feier in meinen Beinen. Bei jedem Schritt scheinen meine Muskeln zu ächzen, während ich mich weiter die Treppe hinaufschleppe. Hinter Frau Allendorfs Tür kann ich Geschirr klappern hören. Wahrscheinlich sieht sie sich wieder eine dieser Kochsendungen an, die ich bloß schaue, wenn ich irgendwie meine alten Essensreste herunterkriegen muss und versuchen will, mir einzureden, ich hätte dieselben Köstlichkeiten vor mir wie im Fernsehen – meine Geschmacksnerven sind selten überzeugt von diesem billigen Trick.

Endlich komme ich im obersten Stockwerk an, wo ich müde gegen die Tür klopfe. Ich kann das Schrillen der Klingel nicht mehr ausstehen, also hämmere ich stattdessen gegen das Holz. Keine Antwort erklingt. Ich schmunzle ein wenig in mich hinein. Offenbar hat es Kat immer noch nicht aus den Federn geschafft. Verübeln kann ich es ihr nicht. Hätte ich das frisch angetraute Ehepaar nicht zum Flughafen bringen müssen, würde ich jetzt wahrscheinlich auch noch friedlich auf meinen Kissen schlummern und hätte das Klingeln des Weckers einfach mit einem kräftigen kurzen Schlag beendet. Doch stattdessen bin ich nun hellwach und motiviert. Ich weiß nicht genau, woher das kommt. Vielleicht entstammt diese Motivation der Tatsache, dass es sich einfach gut anfühlt, müde den ersten Sonnenstrahlen entgegenzublinzeln und zu beobachten, wie sich Kats Rücken in einem sanften Rhythmus hebt und senkt.

Als nach einem erneuten Klopfen immer noch niemand reagiert, krame ich meinen Schlüssel heraus. Mit einer schnellen Drehung im Schloss öffne ich die Tür.

In der Wohnung ist es still. Auf leisen Sohlen, um Kat nicht aufzuwecken, schleiche ich auf mein Zimmer zu, aber noch bevor ich im Flur ankomme, erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit.

Ein flaches rotes Papier liegt auf der Küchenzeile, das sich als Umschlag erkennen lässt, umso näher ich komme. Mit gerunzelter Stirn betrachte ich es. Weder eine Adresse noch eine Briefmarke sind zu erkennen. Ich hebe den Umschlag hoch, doch auch auf der Rückseite ist nichts. Das rote Papier ist gar nicht beschrieben und nicht einmal die Öffnung wurde angefeuchtet und zugeklebt.

Vorsichtig ziehe ich einen weißen Zettel heraus. Ohne ihn aufzuklappen, sehe ich bereits die dunkelblaue Tinte durch das dünne Papier hindurchleuchten. Die Schrift auf der anderen Seite ist ordentlich aber nicht wirklich schön geschwungen. Es sind einfache feste Druckbuchstaben, die unsanft durch das Papier gedrückt wurden.

Ich wende den Brief, um mir das Geschriebene genauer ansehen zu können. Sofort sticht mir ein einzelnes Wort ganz zu Beginn des Textes ins Gesicht ‚Molly'!
Die Falte auf meiner Stirn wird tiefer, während ich konzentriert zu lesen beginne.

Guten Morgen Molly,

wenn du das liest, bist du wahrscheinlich vom Flughafen zurückgekommen, hast mehrfach an die Tür geklopft, weil dir das Schrillen der Klingel genau wie mir mittlerweile verhasst ist, und bist eingetreten im Glauben, ich läge noch immer im Bett. Es tut mir leid, dass das nicht der Fall ist, denn ich bin gegangen – vermutlich zu dieser Zeit schon seit über einer Stunde. Dieser Zettel lag übrigens bei den Einkaufszetteln. Ich hoffe, er hatte keine tiefere Bedeutung, genau wie der rote Umschlag. Jetzt beginne ich auch schon mich unnötig zu verschreiben, anstatt nur zu versprechen, dabei wollte ich doch genau das verhindern. Ich bin gegangen, weil Leonardo mir alles von der Vereinbarung zwischen dir und meiner Mutter erzählt hat und, um ehrlich zu sein, kann ich dich verstehen. Vielleicht ist es die Trunkenheit vom gerade erst beendeten Schlaf oder sonst irgendein dummer Fehler meines Verstands, aber ich verstehe dich wirklich.

Dieses Studium war schon immer dein Traum und was hast du noch, wenn dieser Traum nicht in Erfüllung geht? Die Zeit rennt mir davon, ansonsten würde ich wahrscheinlich noch Unmengen romantischen Kitsch schreiben, den du eh nicht lesen wollen würdest, aber in drei Stunden fährt mein Zug in meinen Heimatort. Wieso ich ausgerechnet jetzt zu meiner Mutter fahre? Ich weiß es nicht, aber ich wusste schließlich auch nichts, als ich nach Kiehsau kam. Das einzige, dessen ich mir immer bewusst war, ist, dass mein Bauchgefühl mich nie getäuscht hat. Möglicherweise ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um die Streitigkeiten mit meiner Mutter auf den Höhepunkt zu treiben.

Vielleicht will das Leben aber auch genau das von mir, was es mit mir schon immer tut: Mich ewig herumschicken, ohne mir die Möglichkeit zu geben, irgendwo bleiben zu können. Oder das Leben gibt mir endlich genau das, wegen dem ich hergekommen bin: Einen Traum. Denn du wirst mein Traum! Falls du also jemals über eine Straße läufst und mich auf dem Gehweg erblickst, wie ich dich ungläubig anstarre, dann lächle mir bitte zu, damit der Teil von meinem Herzen, der dich immer lieben wird, ein wenig schneller schlagen kann.

Deine dich liebende Kat!

𓅿

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