• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 22 •
Molly
„Jede Bierbank kommt genau hierher zu mir zurück", brülle ich Ludger und Theo hinterher, die eines meiner Tischsets nach dem anderen aus der Bar und zu dem Bulli meines Bruders tragen, um sie zur Scheune der Behrens zu fahren. Als Theo über seine Schulter zurückblickt, trifft ihn sofort mein bahnender Blick. Augenverdrehend wendet er sich wieder um. Ich schnaube. Wann ist aus meinem kleinen, unterwürfigen Bruder nur dieser stille, sture Kerl geworden?
„Du bekommst alles wieder", versichert mir Schiffke entspannt. Der Bürgermeister steht mit einem Klemmbrett an meiner Seite und harkt einen Punkt nach dem anderen auf seiner Liste ab.
„Das hoffe ich doch", entgegne ich nur grummelnd, während ich zurück in die Bar schlendere.
Schiffke zockelt einfach hinter mir her: „Wie viele Getränke hast du noch da?"
„Drei Kästen Orangenlimo, ein paar mit Cola und dann noch zwei mit Apfelsaft. Ich hab schon mit Melinda abgesprochen, dass wir den Saft in Krüge füllen, um ihn mit Wasser zu strecken."
„Hast du auch Wasser mit Blubberblasen?"
Ich muss ein Lachen unterdrücken, als ich den Kopf schüttle: „Ich hab dafür eine Anlage, aber irgendwer im Dorf hat bestimmt noch ein oder zwei Kästen, die er abzweigen kann."
„Sehr gut", wieder macht er einen Haken – dieses Mal deutlich beschwingter, „wie steht es mit Alkohol?"
„Der muss fließen", ruft Luke herüber, der damit beschäftigt ist, das Geschirr aus meiner Küche in Kartons zu packen.
„Luke Melf Schiffke!", sein Onkel wirft ihm einen rügenden Blick zu, „wir erinnern uns alle an die Erdbeerbowle. So etwas darf nie wieder passieren und erst recht nicht auf Nesrins und Fionas Hochzeit!"
„Da war ich sechs", empört sich Luke. Ich kann mir ein Lachen einfach nicht verkneifen. Niemand in Kiehsau wird je den legendären Tag vergessen können, an dem der kleine Luke alle mit Alkohol getränkten Erdbeeren aus der Bowle fischte und keine Stunde später nackig vor seinem Vater quer durch die Scheune floh. Ich bin mir sicher, dass es irgendwo auch noch ein paar Bilder vom damaligen Zeitungartikel im Kiehsauer Tagesblatt gibt. Spätestens zu Lukes Hochzeit wird es nötig sein, den Bericht wieder hervorzukramen.
„Es gibt Erinnerungen, die man nicht auffrischen muss, Luke", meine ich noch immer lachend, während ich in der Küche verschwinde, um die Getränke zu zählen. Herr Schiffke bleibt mir dicht auf den Fersen, ohne die Augen von seiner Liste zu lösen.
„Wissen eigentlich Nesrin und Fiona Bescheid?"
„Nesrin ja, Fiona nein."
Überrascht sehe ich auf: „Wie das?"
„Nesrin spielt die totkranke."
„Wir erinnern uns alle noch an ihre Darstellung der kleinen Tanne."
„Natürlich, es war derselbe Abend wie der des Bowlenunglücks", Schiffke schüttelte den Kopf, als wollte er dieses Erlebnis für immer aus seinen Erinnerungen verbannen.
„Was ist denn damals passiert?", will Luke wissen, der neugierig im Türrahmen erscheint.
Sofort wird der Gesichtsausdruck des Bürgermeisters wieder mahnend: „Hättest du nicht Flitzer spielen müssen, wüsstest du es noch!"
„Nesrin hat sich geweigert, etwas zu sagen", erkläre ich Luke, ohne seinen Onkel zu beachten, „sie meinte, dass sie schließlich ein Baum sei und Bäume sprächen nicht."
„Das Theaterstück war ein Desaster", schnaubt Schiffke und richtet den Blick wieder zurück auf seine Liste. Luke, der auf keine weitere Standpauke aus zu sein scheint, verschwindet schnell.
„Fehlt sonst noch etwas?", erkundige ich mich, während ich den Kühlschrank wieder schließe.
„Um das Essen kümmert sich eine Catering Firma und Lisa hat mit mir heute Morgen einen Probedurchlauf für die Geigenstücke gemacht. Um die Musikanlage kümmert sich David gerade. Ansonsten habe ich die restlichen Aufgaben gut verteilt."
„Na dann", ich klopfe meine Hände an der Schürze ab, „wann dürfen wir Fiona denn Bescheid sagen, damit sie sich fertig machen kann?"
„Nesrin verschwindet morgen früh und dann schicken wir Lissy und Glitzer vorbei. Währenddessen kümmert sich Ronja zusammen mit Cady um Nesrin."
Offenbar scheint Schiffke sich mittlerweile mit dem Ungeziefer – das im normalen Volksmund Touristen genannt wird – abgefunden zu haben.
„Es kommt mir vor, als hätten wir das alles gut im Griff", lächelnd verschränke ich die Arme vor der Brust.
Der Bürgermeister nickt zuversichtlich und klemmt sich die Liste unter den Arm: „Ich hätte nichts anderes erwartet, Molly, wenn jemand weiß, wie man feiert, dann ja wohl wir Kiehsauer!"
Ausnahmsweise kann ich Herr Schiffke einmal nicht widersprechen.
„Molly?", die scharfe Stimme von Kats Mutter scheint die Luft wie eine Klinge zu durchschneiden. Selbst Schiffke zuckt ein wenig zusammen, was mich nur noch mehr verwundert.
„Ich bin hier", rufe ich und trete aus der Küche heraus, nur um Frau Stiegler direkt Angesicht zu Angesicht gegenüberzusehen. Ich kann nicht verleugnen, dass es mir so vorkommt, als würde ich unter ihrem Blick kleiner werden.
„Kann ich mit Ihnen sprechen?"
„Wer sind denn Sie?", will der Bürgermeister wissen. Offensichtliche Skepsis liegt in seinen Augen, als er Kats Mutter mustert. Sie hebt bloß eine ihrer dünnen Brauen: „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!"
„Das geht mich sehr wohl etwas an, weil ich der Bürgermeister dieses Dorfs bin."
„Sehr hübsch Ihr Dorf. Molly, kommen Sie?", ohne Schiffke eines weiteren Blickes zu würdigen, stolziert Frau Stiegler aus der Bar heraus. Ich kann nur meinen Kopf schütteln. Dem Bürgermeister scheint es nicht anders zu gehen.
„Sie läuft wie ein aufgeblasener Storch", brummt er wütend und stapft zurück in die Küche. Schmunzelnd sehe ich ihm nach, ehe ich Kats Mutter nachsetze, die bereits draußen vor der Scheibe steht. Trotz des warmen Wetters trägt sie einen knöchellangen Mantel, der ihre Figur vollkommen verhüllt.
Tief durchatmend trete ich zu ihr hinaus auf die Promenade.
„Keine Sorge, wenn jemand hier jemandem die Luft zum Atmen nimmt, dann Sie mir, Molly", bemerkt Frau Stiegler spitz und dreht sich in einer zackigen Bewegung zu mir herum.
„Was kann ich für Sie tun?", frage ich gezwungen höflich, ohne auf ihren Kommentar einzugehen.
„Sie kennen meine Tochter."
Ich verkneife mir ein ironisches ‚wen?' und antworte stattdessen nur: „Das will ich meinen."
„Kat ist ein naives kleines Kind und ich will ihr helfen, ihren Weg endlich zu finden. Aber da Sie sich nun auf ihr Level hinabbegeben haben, stellen Sie ein kleines Problem für mich dar, Molly."
„Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Wollen Sie, dass ich mit Kat Schluss mache?", ich will gerade lachen, als mir Frau Stieglers Blick auffällt. Schlagartig bleibt mir mein Lachen im Hals stecken.
„Das ist nicht Ihr Ernst!"
„Doch, brechen Sie meiner Tochter ihr Herz!"
Einen Augenblick lang starre ich die Frau vor mir einfach nur wortlos an. Das kann sie einfach nicht so meinen, doch anstatt zu lächeln und zu behaupten, es sei ein Scherz, fährt sie offensichtlich ungerührt fort: „Wenn Sie Kat dazu bringen, Kiehsau zu verlassen und zu mir zurückzukommen, besorge ich Ihnen den Platz in Heidelberg. Man hat mir bereits erzählt, dass Sie gerne dort studieren würden. Natürlich gebe ich Ihnen auch das Geld, um Ihre Bar trotz des Studiums aufrecht zu erhalten. Das ist es doch, was Sie wollen, Molly?"
Ich kann spüren, wie meine Kehle bei jedem ihrer Worte trockener wird. Und ob es das ist, was ich will! Diese Frau legt mir meinen Traum direkt vor die Füße und doch schreit alles in mir danach, den Kopf zu schütteln. Aber anstatt zu verneinen, bleibe ich bloß reglos stehen.
„Für ihren Freund – diesen Glitzer – finde ich bestimmt auch einen Platz in meinem Unternehmen. Er ist doch ein Fan von Mode?"
Wortlos nicke ich. Glitzer kämpft schon seit Jahren, um einen besseren Job zu bekommen als den, welchen man ihm in einem kleinen mickrigen Geschäft im Nachbarort angeboten hat.
„Wir beide wollen nur das Beste für Kat", erklärt Frau Stiegler in einem beinahe beschwichtigen Tonfall, „Sie wollen Ihren Studienplatz und ich meine Tochter. Daran ist nichts verkehrt, Molly. Überlegen Sie es sich!"
Damit dreht sie sich um. Ich brauche noch ein paar weitere Sekunden, bis ich meine Stimme wiederfinde, um sie erheben zu können.
„Frau Stiegler?"
„Ja?", sie wirft mir einen fragenden Blick über die Schulter zu.
„Haben Sie es schon einmal mit einer Umarmung probiert?"
Beinahe verurteilend verdreht sie ihre blauen Augen, so als wollte sie sagen ‚dummes kleines Kind': „Ich versuche schon so lange, sie offensichtlich in das Unternehmen zu schleusen, Molly."
„Ich sagte auch Umarmung, Frau Stiegler, nicht Würgegriff!"
Darauf erwidert sie nichts mehr, sondern wendet sich nur endgültig ab.
𓅿
Mittwoch geht es voraussichtlich weiter...
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