• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 19 •

Kat

Seufzend komme ich am Mehrfamilienhaus an. Es hat keinen Sinn, noch länger wegzulaufen. Meine Sachen liegen schließlich immer noch bei Molly und ohne diese werde ich wohl kaum wegfahren können – wohin auch. Noch immer habe ich keinen Plan für die Zukunft. Sonst bin ich das gewöhnt, aber jetzt fühlt es sich einfach nur nach purer Unwissenheit an.

Ich atme tief durch, bevor ich auf die Klingel drücke. Dann warte ich auf das Geräusch, welches mir anzeigen soll, dass ich eintreten kann, aber es kommt nichts. Ungeduldig taps ich von einem Fuß auf den anderen. Mich gar nicht erst wieder hereinzulassen ist natürlich auch eine Option – wenn auch eine ziemlich harte. Noch einmal betätige ich die Klingel und warte auf eine Reaktion.
Wieder kann ich kein Geräusch aus dem Treppenhaus vernehmen.

„Kathleen Käthe Stiegler, ich dachte schon, du hättest wieder einmal die Flucht ergriffen."

Wie gestochen fahre ich herum, doch selbst als ich ihr direkt in die blauen Augen blicke, kann ich nicht glauben, dass sie wirklich dort steht. Ich blinzle. Erst einmal, dann noch einmal, doch nichts ändert die Tatsache, dass dort, direkt vor mir – fast schon zum Greifen nah –, niemand geringeres als Valentina Stiegler steht und mich abschätzend mustert. Ihr graues Haar ist noch immer recht kurz und vorne in einer Welle nach links gekämmt. Langsam nimmt sie ihre Brille mit den schmalen Gläsern ab, um sie an den Kragen ihrer hellen Bluse zu stecken. Vor der Kulisse des Kiehsauer Zentrums wirkt sie wie unsauber reingeschnitten und bearbeitet. Sie und ihre Umgebung bilden einfach so einen Kontrast, dass ich erneut blinzle, doch ich komme wieder auf denselben Schluss: Das hier ist kein gruseliger Tagtraum, sondern nur meine erschreckende Mutter.

„Guten Mittag, Kat", grüßt sie kühl.
„Hallo, Mutter."

Es gibt nicht mehr, dass ich zu sagen habe. Noch immer verwirrt mich die Tatsache, dass sie tatsächlich gekommen ist. Ich habe Leonardos Drohung nur für leeres Geschwätz gehalten, doch jetzt steht sie dort – eine erfolgreiche Modekettenbesitzern inmitten des wohl ulkigsten Dorfs Deutschlands und das scheint sie nicht einmal zu stören.

Kopfschütteln rückt sie ihre blutrote Handtasche zurecht: „Es verwundert dich offenbar, mich hier zu sehen."

„Ein wenig vielleicht – zumindest war der Zaunkönig erst heute Morgen da und jetzt stehst du bereits auf der Matte."
„Der Zaunkönig", wiederholt sie schnaubend, „sollte ich fragen, welche Spitznamen du für mich hast?"

„Interessiert es dich?"
„Ich denke nicht, Kind, aber da ich ohnehin in Hamburg war, habe ich mir die Zeit genommen, vorbeizuschauen."

Ich lasse meinen Blick umher gleiten, doch ich kann keinen Wagen ausmachen. Wahrscheinlich hat sie den Fahrer um irgendeine Ecke fahren gelassen, damit der Anschein entsteht, wir könnten uns unter vier Augen unterhalten.

„Suchst du jemanden?", will meine Mutter wissen, aber ich schüttle eilig den Kopf.
„Nein, niemanden. Wie lange willst du bleiben?"

„Es heißt: Wie lange möchtest du bleiben", korrigiert sie mich mit einem mahnenden Blick.
Beinahe hätte ich gelacht. Es sind keine lieben Wünsche, die meine Mutter durchs Leben bringen, sondern ihr purer unveränderbarer Wille.

„Wie lange möchtest du denn in Kiehsau bleiben?"
„Nun ja", sie zuckt mit den Schultern, „ein paar Tage."

Ich kann mich gerade noch davor stoppen, die Augen überrascht aufzureißen: „Wie bitte?"
„Ein paar Tage, sagte ich. Es ist gerade im Unternehmen ziemlich ruhig. Wir bleiben noch bis Mittwoch und fahren dann zurück."

„Du fährst dann zurück", verbessere ich sie.
„Nein, Kat, wir fahren", beharrt Mutter und verschränkt ihre Arme vor der Brust, „es wird Zeit, dass du dein Erbe antrittst."
„Du siehst noch ziemlich lebendig aus."

Ich kann deutlich erkennen, wie sich ihre Lippen vor Wut kräuseln, aber sie bleibt dennoch ruhig: „Trotzdem solltest du bald beginnen, dich einzuarbeiten. Ansonsten wird die Führungsposition anderen Mitarbeiterin zufallen."

„Dann ist das eben so", ich drücke erneut auf die Klingel. Verdammt, Molly, mach endlich auf! Am liebsten würde ich vor Wut auf den kleinen Knopf hämmern, aber genau wie meine Mutter besinne auch ich mich zur Ruhe.

„Nenn mir eine Sache, die sich in diesem jämmerlichen Dorf hält, Kat, und ich fahre am Mittwoch ohne dich. Wenn es nichts gibt, sehe ich keinen Grund, dass du hier bist anstatt in unserem Unternehmen."

Ich verkneife es mir, sie zu korrigieren. Es ist nicht ‚unser' Unternehmen und das weiß meine Mutter ganz genau. Nach der Adoption hat es nicht lange gedauert, bis ihr aufgefallen ist, dass man Kinder nicht erziehen kann, wie man will. Mir war es schon im Kleinkindesalter egal, wie viele Designersachen sie mir vorgelegt hat oder wie teuer die Einrichtung meines Kinderzimmers war. Auch als ich älter wurde, fehlte bei mir die Entwicklung eines wirklichen ‚Modebewusstseins', sodass ich nicht selten das Gefühl hatte, meine Mutter würde mich am liebsten gegen irgendein anderes Kind eintauschen.

„Also, Kat", ihre blauen Augen krallten sich förmlich in meine. Mutters Blick war so fesselnd, dass es mir nicht gelang, wegzusehen.

„Was willst du jetzt von mir hören?"
Sie konnte das doch nicht ernst meinen! Was wollte sie schon tun? Meine Mutter konnte mich ja nicht einfach am Kragen packen und mit sich zerren – oder doch?
„Ich will jetzt einen Grund hören, Kat. Was bringt dich dazu, hier zu bleiben?"

„Das wäre dann wohl ich."
Ohne dass ich es mitbekommen habe, ist jemand auf der anderen Straßenseite erschienen. Als Molly näherkommt, huschen ihre braunen Augen hinter dem Pony skeptisch zwischen meiner Mutter und mir hin und her, so als würde sie noch daran arbeiten, die Situation zu analysieren.

Meine Mutter betrachtet sie ihrerseits auffällig skeptisch.

„Und Sie sind wer, wenn man fragen darf?"
„Meine Name ist Molly Goldblum. Ich nehme an, Sie sind Frau Stiegler."

„Ganz recht, Mädchen", meine Mutter zupft an ihren weißen Handschuhen, die den Blick auf ihre faltigen Hände verwehren, „ihr Name erklärt mir immer noch nicht, woher Sie sich das Recht nehmen, sich hier einzumischen, Fräulein Goldblum."

Ehe sie antwortet, huscht Mollys Blick für den Hauch einer Sekunde zu mir, bevor sie meiner Mutter selbstsicher entgegenlächelt: „Weil ich mit ihrer Tochter zusammen bin, Frau Stiegler."

𓅿

So schnell kriegt man eine Freundin 😂

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