• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 16 •

Molly

Nach diesem verwirrenden Besuch bin ich in die Bar gefahren, um meine Gefühle am unschuldigen Eiweiß auszulassen. Jetzt, über eine halbe Stunde und eine ganze Schüssel Eischnee später, suche ich noch immer nach irgendetwas, das ich ordentlich mit dem Schneebesen verprügeln kann. Genau in dem Moment, als ich wieder einmal den Kühlschrank durchsuche, klopft es dumpf an der kleinen Hintertür.

„Es ist offen", rufe ich über meine Schulter und wende den Blick dann wieder auf die Lebensmittel. Langsam wird mein Kühlschrank beängstigend leer. Ich müsste dringend mal wieder Zutaten bestellen, damit die Gäste nicht bald auf dem Trockenen sitzen.

„Moin", höre ich meinen Bruder Theo brummen, während ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, wie er sich unter dem tiefen Türrahmen durchbückt. Sein dunkles Haar ist wie so oft morgens zerzaust, sodass ich mich automatisch frage, ob er manchmal einfach vergisst, sich fertig zu machen. Obwohl er so ruhig wirkt, sollte man nicht unterschätzen, wie tollpatschig Theo sein kann.

Nachdenklich drehe ich meinen Schneebesen zwischen den Fingern herum.

„Was machst du da?", will mein Bruder wissen, während er seine dünne Jacke abstreift.
„Ich brauche etwas!", lautet meine knappe Antwort, mit der er sich natürlich nicht zufrieden gibt.

Denn seine nächste Frage folgt sofort: „Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?"
„Mir kann nur etwas helfen, dass ich mit meinem Schneebesen bekämpfen kann. Bist du so etwas?"

„Nun ja", er zuckt schmunzelnd mit den Schultern, „kommt drauf an, mit was ich mich bewaffnen darf."
„Du bist fast zwei Meter groß, Theo. Dein Körper ist Waffe genug!"

„Okay, dann lautet meine Antwort definitiv nein! Ich muss nicht erleben, wie du mir eins mit diesem Ding da überziehst."

„Schade, wäre bestimmt lustig gewesen", ich schlage die Kühlschranktür zu und lehne mich gegen die Küchenzeile. Mir entgeht nicht, wie auffällig mein Bruder mich mustert. Seine blauen Augen gleiten an mir auf und ab, wobei sie nach etwas zu suchen scheinen. So ist es eigentlich meistens. Erst probiert Theo, mir anzusehen, was ich brauche und erst, wenn er es nicht erkennt – was selten der Fall ist – fragt er.

„Was ist denn los?", will er nach einem kurzen Moment der Stille zögerlich wissen.

Offenbar bin ich tatsächlich so durch den Wind, dass auch er mich nicht durchschauen kann. Aber es wundert mich auch nicht. Im Augenblick weiß ich nicht einmal selbst, was da in mir vorgeht.

„Ich habe dir doch von Kat erzählt."
Er nickt bestätigend.
„Sie hat heute Besuch bekommen."

„Ein Verehrer?", Theos buschige Augenbraue ruckt ein Stück höher, doch ich schüttle den Kopf. „Eine Verehrerin?"

„Auch nicht, zumindest wirkte er nicht wie einer. Dieser Typ wollte sie dazu überreden, mit ihm Jura zu studieren..."
„...lass mich raten: Ausgerechnet in Heidelberg?"

Seufzend nicke ich. Es ist in Kiehsau kein großes Geheimnis, dass ich schon immer dort studieren wollte. Schon mein Großvater hat sein Studium dort abgeschlossen und ist ein erfolgreicher Richter geworden. Als kleines Kind habe ich meinem Großvater viel nachgeeifert, obwohl ich ihn gar nicht wirklich kannte.

Aber vielleicht war es genau das, was ihn für mich so toll machte. Er war wie ein Held in meinen Augen, der alles erreicht hatte. Wenn ich seine Macken gekannt hätte, wäre mein Bild von ihm womöglich ein ganz anderes gewesen, doch er ist nicht alt genug geworden, dass ich wirklich hätte kennenlernen können.

Hier im Dorf leben meine anderen Großeltern, Oma Margot und Grandpa George, aber sonst hat meine ganze Familie Kiehsau verlassen. Meine Eltern haben sich schon vor langer Zeit geschieden, sodass mein Vater kurz nach der Trennung einen Job in Polen angenommen hat, während meine Mutter, sobald auch Theo achtzehn war, eine Karriere in den USA gestartet hat. Während sich meine ganze Familie also von mir weggelebt hat, wollte auch ich fortgehen und doch konnte ich nie wirklich aufbrechen. Irgendjemand musste nach dem Tod meiner Großtante die Bar übernehmen. Theo wollte ich damals seine Zukunft nicht nehmen, also begann ich zu planen, ein Online-Studium abzuschließen. Im Rückblick wohl eine meiner dümmsten Entscheidungen, denn ich fiel so sehr durch, wie man nur durchfallen konnte. Es jetzt noch einmal zu versuchen, würde mich wahrscheinlich Ewigkeiten kosten. Ich hatte meine einzige klägliche Chance und ich habe sie vertan – so ist es eben.

„Und was hat Kat gesagt?", hakt Theo weiter nach.
Wieder kann ich nur seufzen: „Sie wollte nicht und das war offensichtlich. Eigentlich geht mich das auch nichts an, aber ich kann nicht verstehen, wieso man so eine Möglichkeit wegwirft!"
Ratlos zuckt mein Bruder mit den Schultern: „Vielleicht ist es einfach nicht das Richtige für Kat!"

„Na und? Dann könnte sie es versuchen. Leisten kann Kat es sich definitiv!"
Dieses Mal hebt sich auch Theos andere Augenbraue: „Woher willst du das denn wissen?"

„Woher ich es wissen will?", ich schnaube, ohne zu wissen, was mich wirklich so wütend macht, „sie heißt Kathleen Käthe Stiegler. Hast du schon mal den Namen Stiegler gegooglet?"
Theo schüttelt ehrlich den Kopf. Natürlich hat er es nicht. Bis heute Morgen hätte ich es ja auch nie getan.

„Ich habe es gemacht! Valentina Stiegler ist durch ihre Modekette Multimillionärin geworden und hat zufälligerweise genau eine einzige mögliche Erbin: Ihre Adoptivtochter Kat!"

Dazu sagt mein Bruder nichts, aber viel eher aus dem Grund, dass ich ihn gar nicht zu Wort kommen lasse, so sehr wie ich mich in meiner Raserei verfangen habe.

„Ich kann es einfach nicht verstehen, Theo! Vielleicht will ich es auch einfach nicht, aber ich kriege es nicht in meinen Kopf, wie man so viel Geld in den Arsch geschoben bekommen kann und nichts damit anfängt. Sie wirft einfach alles vollkommen gedankenlos weg, so als wäre sie ein trotziges kleines Kind!"

Es ist raus! Endlich kann ich durchatmen und als ich die letzte heiße Luft aus meinen Lungen stoße, beginnt sich der Nebel aus Wut langsam zu lichten. Mit jedem Atemzug wird mein Herzschlag langsam ruhiger.
Mit einem letzten Seufzen sehe ich zu Theo auf, doch er hat seinen Blick nicht auf mich gerichtet, sondern auf jemanden hinter mir. In einer schrecklichen wissenden Erwartung drehe ich mich um.

Natürlich ist sie es, die dort steht! Mit ihren brauen Augen, groß und aufgewühlt wie die eines Rehs, steht sie dort im Eingang zur Küche – dabei die Finger zur Faust zusammenpressend. Kat sagt kein einziges Wort. Stattdessen macht sie einfach auf der Stelle kehrt und stürmt hinaus aus der Küche.

„Nimm das bitte!", mehr sage ich nicht zu Theo, ehe ich ihm den Schneebesen in die Handdrücke, um Kat im nächsten Moment, so schnell ich kann, nach zu hetzen.

𓅿

Montag geht es weiter...

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