• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 15 •

Kat

Ich höre die Stimme schon aus dem Badezimmer.
„Hier ist Herr Gerlach, ich möchte bitte mit Frau Stiegler sprechen!", sagt der Ankömmling auf eine abgehobene distanzierte Art.

Natürlich musste der Zaunkönig irgendwann hier auftauchen – irgendwann taucht er immer auf, aber um ehrlich zu sein, hatte ich erwartet, dieses Mal mehr Zeit zu haben.

Ich stütze meine Hände auf dem kühlen Porzellan des Waschbecks ab und zwinge mich dazu, tief Luft zu holen. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen und immer so weiter, bis mein Herzschlag von Mal zu Mal langsamer wird.

„Wer sind Sie denn, falls man das fragen darf", entgegnet Molly hörbar skeptisch. Kein Wunder, dass sie misstrauisch ist. Der Zaunkönig ist nicht gerade das, was man eine vertrauenswürdige Person nennen könnte. Ich kann mich genau an die vielen Male erinnern, wo er direkt vor mir gestanden hat, in meine Augen gesehen und seine Hand ausgestreckt – nicht zum Gruß, sondern um mich mit sich zu reißen, doch er hat es nie geschafft. Weder seine himmelblauen Augen noch sein weiches braunes Haar mit den von der Sonne geblichenen Strähnen konnten mich jemals zu ihm locken. Trotzdem schickt meine Mutter ihn immer und immer wieder nach mir, wenn sie glaubt, dass es an der Zeit wäre, um mich zu bekehren. Eigentlich sollte mich sein Auftreten nach unserem letzten Gespräch gar nicht irritieren. Ich hätte viel eher die Stunden zählen sollen, bis sein dunkles Auto wie ein Leichenwagen nach Kiehsau brettert.

„Ich bin ein alter Freund von Kathleen Käthe Stiegler. Es ist dringend!", er versucht charmant zu klingen, doch wie auch sonst gelingt es ihm nicht.

Mit langsamen Schritten verlasse ich das Bad. Schon trifft mich Glitzers Blick. Er steht im Wohnzimmer direkt zwischen Flur und dem Weg zur Eingangstür. Dem prüfenden Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen, hat er nur darauf gewartet, dass ich aus dem Bad trete. Vorsichtig gehe ich weiter, bis ich neben ihm stehe.

Wahrscheinlich war mein Vergleich mit dem Leichenwagen unangebracht, denn niemand sonst würde diesen jungen Mann, der noch nicht lange in den Zwanzigern ist, als schrecklich bezeichnen. Im Grunde ist der Zaunkönig auch niemand mehr als Leonardo Gerlach, der früher mal kleine Junge von nebenan und noch viel wichtiger: Er ist der perfekte Sohn – zumindest aus der Sicht meiner Mutter.

Wie immer ist Leo vornehm gekleidet. Sein Haar hat er streng zurückgegelt, während er mich schmierig anlächelt.

„Kathleen Käthe, du altes Haus!", wahrscheinlich wollte er freundschaftlich klingen, doch ihm scheint es nicht bewusst zu sein, dass es sich niemals locker und kameradschaftlich anhört, wenn man sein Gegenüber mit Vornamen und Zweitnamen anspricht.

Aus Leonardos Augen muss ich wie ein Penner aussehen. Meine Kleidung ist von den unterschiedlichsten Flohmärkten und mein Haar klebt noch nass an meiner Stirn.

Ich zwinge mich dazu, die Mundwinkel zu heben: „Was bringt dich hierher, Leo?"
„Ich würde ja sagen ‚Du' aber wie so oft ist es eher deine Mutter."
„Dann bist du umsonst hergekommen. Ich fahre nicht mit dir nach Heidelberg!"

„Komm schon, Kathleen", bettelt er, „ich habe auch keine Lust mehr alle paar Monate irgendwo auf der Welt wegen dir aufzukreuzen und dann allein heimzufahren."
„Komm einfach nicht mehr – Problem gelöst!"
Zumindest wäre es schön, wenn es so einfach gehen könnte.

Molly, die immer noch zwischen uns steht, lässt ihren beunruhigten Blick umherschweifen. Ich kann es ihr nicht verübeln. Weder Glitzer noch sie verstehen wohl irgendetwas von dem, was wir hier gerade sprechen. Zudem muss es mehr als irritierend sein, was für ein vornehmer junger Mann nach mir – der rastlosen Abenteuerin in den verschlissenen Klamotten – sucht.

„So Leute wie du sollten ihr Leben aber nicht wegwerfen!"
„Wenn niemand sein Leben ‚wegwerfen' würde, gäbe es deinen Wunschberuf gar nicht, weil jeder dann alles selbst im Griff hätte."

„Erstens braucht man immer Richter", korrigiert er mich leicht beleidigt, „und zweitens will deine Mutter, dass du Jura studierst. Verdammt, Kathleen, in ein paar Jahren besitzt du mehrere Millionen und hast rein gar nichts aus deinem Leben gemacht!"

Ich stoße ein Schnauben aus: „Es ist wirklich schön, wie bald du mit dem Tod meiner Mutter rechnest. Du musst dich da ja noch länger gedulden."

Offensichtlich genervt beißt Leonardo die Zähne zusammen. Ihm bin ich schon immer auf den Keks gegangen, doch ebenso sehr hat er mich gemocht. Ich kann mir nicht erklären, was er an mir gefunden hat oder sogar immer noch findet. Vielleicht mag er mich, weil ich so bin, wie er gerne sein wollen würde – widerspenstig, eigensinnig und das genaue Gegenteil von dem, wie unsere Eltern uns beide haben wollen. Er hingegen hat sich seiner Familie perfekt angepasst. Nachdem wir zusammen unseren Abschluss auf einer Privatschule gemacht hatten, ist er umgehend nach Heidelberg gegangen, um dort Jura zu studieren, während ich einfach weg war. Mit Sicherheit hätte man uns schon längst verheiratet, wäre ich nicht schneller weg gewesen als er „Heirate mich" sagen konnte. Sein erster Besuch fand dann nach drei Monaten statt. Ich war gerade in Afrika bei einem Hilfsprojekt, wo man mir erzählte, dass ein Privatjet in der Nähe gelandet war. Wenig später erblickte ich bereits das Flugzeug, welches dem Verein gehörte, in dem Leonardos Vater schon seit Ewigkeiten ein angesehenes Mitglied war. Seit diesem Tag habe ich ihn unglaublich oft aufs Neue abgewiesen, aber offenbar kehrt er immer wieder zurück.

Langsam beginne ich mich zu fragen, ob ihm meine Mutter irgendetwas dafür gibt oder verspricht.

„Es wäre einfacher jetzt mitzukommen", beginnt Leonardo und macht eine Art Spannungspause, die mich fast meinen letzten Nerv gekostet hätte.
„Wenn du nicht mit mir zu deiner Mutter fährst, wird sie hierherkommen!"

Ich muss ein Lachen unterdrücken. Genau, meine Mutter kommt nach Kiehsau! Wer denn sonst noch? Barack Obama? Angela Merkel? Obwohl – zweitere kommt ja aus der Uckermark, wahrscheinlich würde sie sich hier sogar wohl fühlen. Im Vergleich zu meiner Mutter ist es jedenfalls wahrscheinlicher, dass Merkel hier auftaucht und kochend an der Küchenzeile steht.

„Schick sie ruhig her", meine ich mit einer wegwerfenden Handbewegung, „aber verkriech du dich wieder in deine Uni!"
„Das werde ich, Kat! Wir sehen uns eines Tages vor Gericht wieder!"

Ich zucke mit den Schultern: „Dann will ich mal hoffen, dass es ein Streit um das Testament meiner Mutter ist!"

Leonardo schnaubt, sagt jedoch nichts, sondern macht einfach auf dem Absatz kehrt. Von Molly, die vollkommen verwirrt vor ihm steht, nimmt er dabei gar keine Notiz mehr. Stattdessen höre ich ihn nur die vielen Stufen hinabstapfen. Selbst Glitzer, der wie auch zuvor neben mir steht, scheint irritiert zu sein.

Langsam – fast schon vorsichtig – dreht sich Molly zu mir um: „Wer zum Teufel war das?"
„Das war der Zaunkönig", antworte ich knapp und stapfe wortlos davon.

𓅿

Was Molly von diesem Besucher hält, erfahrt ihr Samstag! ❤️

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