• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 14 •

Molly

Schweigend sitze ich vor der Scheune der Behrens. Von drinnen schallt laute Musik hinaus, doch ich darf nicht zu den Tanzenden gehen, denn es ist der Vollmondball. Schon seit Ewigkeiten gibt es die Tradition, dass man zu diesem Fest nur mit einer Begleitung gehen darf und daran scheitere ich Jahr für Jahr aufs Neue. Bisher habe ich immer mit meinem Bruder hier draußen gesessen. Wir haben getratscht und wie zwei betrunkene Omas unsere Hüften zur Musik geschwungen, doch seit ein paar Wochen hat Theo seine erste Freundin bekommen. Mit ihr als Eintrittskarte ist es ihm erlaubt worden, in der Scheune zu feiern. So sehr ich das Mädchen mag, so sehr hasse ich sie auch dafür, dass sie mir diesen Abend kaputt gemacht hat. Eigentlich bin ich ja auch selbst schuld, dass ich hier draußen sitze. Oskar, einer der idiotischen Freunde meines Bruders, hat seit Wochen versucht mich zu diesem Date zu überreden, doch ich habe jeden seiner Versuche erfolgreich abgelehnt. Jetzt kommt es mir aber so vor, als wäre es klüger gewesen mit einem Vierzehnjährigen zum Ball zu gehen anstatt alleine hier draußen herumzuhocken und darauf zu warten, dass der Abend endlich ein Ende nimmt. Trotzdem weiß ich, dass ein Abend mit Oskar alles andere als amüsant gewesen wäre. Er ist noch nicht einmal im Stimmbruch, verhält sich aber jetzt schon wie ein erwachsener Schläger. Wahrscheinlich hätte er mich nach ein paar Minuten ohnehin zur Flucht getrieben.

„Holundersaft?"

Überrascht sehe ich auf. Herr Schiffke steht vor mir. In der Hand, die er mir entgegenstreckt, hält er eine kleine Getränkedose. Lächelnd nehme ich sie an, während er sich neben mir auf den großen Traktorreifen setzt. Unsicher werfe ich ihm ein knappes Lächeln zu, ehe ich meinen Blick hinab auf das Getränk in meinen Händen richte.

„Hat dich dein Freund sitzen gelassen?", will Schiffe wissen, wobei er nicht zu mir, sondern zu der hell leuchtenden Scheune blickt.

Ich schüttle wortlos den Kopf und öffne die Dose. Leise zischend geht der Deckel auf. Für einen kurzen Moment lausche ich dem leisen Blubbern, während die kühle Oberfläche meine ohnehin schon kalten Hände noch zittriger werden lässt. Schnell ziehe ich meine Ärmel ein weniger tiefer.

„Was ist es dann wohl? Lass mich kurz überlegen. Hat Luke dich gefragt, damit er dann hinter den Elftklässlerinnen herkann? Wenn ja, dann versohle ich meinem Neffen den Hintern."

Tatsächlich glaube ich Schiffke das sogar. Der Bürgermeister ist so verrückt, dass ich ihm alles zutrauen würde. Dennoch schüttle ich nur erneut den Kopf.

„Dann weiß ich es auch nicht, Molly", gibt er zu und blickt mich aus dem Augenwinkel an.
Ich seufze in mich hinein: „Es passt hier einfach keiner zu mir."
„Das versteh ich."
Ein wenig überrascht sehe ich zu Schiffke auf: „Wirklich?"

„Wer, wenn nicht ich", entgegnet er schmunzelnd und stützt sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab, „manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es niemanden auf dieser Welt, der auch nur ansatzweise zu mir passen könnte."

„Geht mir genauso."
Leise schniefend ziehe ich meine verfrorene Nase hoch.

„Ich denke, dass geht fast allen von uns so, Molly! Kennst du die Geschichte von Herzt 52?"
„Nein", antworte ich ehrlich. Dieses ‚Herzt 52' sagt mir rein gar nichts und ich habe auch nicht das Gefühl, es irgendwann schon einmal gehört zu haben.

Schiffkes Mundwinkel rutschen ein wenig höher: „Herzt 52 ist der einsamste Wal der Welt."
„Das klingt traurig."

„Ist es auch! Keiner weiß, was Herzt 52 für ein Wal ist, aber Wissenschaftler haben herausgefunden, dass er in einer höheren Tonart singt als all die anderen. Deshalb kann ihn keiner der übrigen Wale verstehen. Schon seit zwanzig Jahren zieht er allein durch die Meere und hofft, dass ihm irgendwann jemand antwortet. Naja, wer weiß, vielleicht genießt er auch einfach sein Singleleben, aber ich glaube, dass irgendwo dort draußen jemand ist, der ebenfalls von niemandem verstanden werden kann."

„Was macht Sie da so sicher?"
Mir kommt der Gedanke verrückt vor, dass jemand mich wirklich verstehen könnte. Allein die Überlegung, dass jemand es versuchen könnte, wirkt auf mich unrealistisch. Es gibt so viele von diesen perfekten Mädchen – wieso sollte also die Wahl von irgendjemandem auf mich fallen?

„Weil jeder Mensch anders ist und trotzdem finden so viele ihren passenden Partner. Sieh dir doch einmal deine Freunde an, Molly! Luke hat nicht einmal ein Haar auf der Brust und hüpft herum wie der Frauenschwarm, der er wahrscheinlich in ein paar Jahren sein wird, wenn diese Pickel endlich nachlassen. Gleichzeitig habe ich ihn schon öfter weinen gesehen als jeden anderen Jungen in Kiehsau. David rennt hingegen vor nahezu jedem Mädchen weg, das ihm sagt, dass es ihn mag und Nesrin lächelt die anderen Mädels schüchtern an, sobald sie denkt, dass keiner mehr zu ihr sieht. Jeder von uns ist unterschiedlich. Auch die, die schon jemanden gefunden haben, wieso sollten die anderen also niemanden finden?"

„Herr Schiffke?", unsicher drehe ich die Dose in meiner Hand.
„Ja?"
„Ich verstehe nicht, warum alle so tun, als könnten sie Sie nicht leiden."
Es ist mir wirklich einfach unverständlich!

Herr Schiffke lacht leise auf: „Irgendwann wirst du genauso denken wie die anderen, Molly, das hat etwas mit dem älter werden zu tun!

„Dann werde ich wohl blöd", entgegne ich und presse meine Lippen fest aufeinander.
„Nein, Molly, so sind wir Menschen eben."
„Das ist mir egal! Dann werde ich so eben, aber versprechen Sie mir, dass Sie nicht vergessen, dass ich nie so werden wollte!"

„Niemals, Molly."
Irritiert blickt Herr Schiffke auf meinen kleinen Finger, den ich ihm ruckartig hinhalte. Dann hakt er seinen ein.
„Sie müssen schwören!", erkläre ich grinsend.

„Bei was?"
„Bei ihrer Seemannsmütze!"
Wieder muss Schiffke lachen, doch dann sagt er laut und deutlich: „Ich, Anton Schiffke, Bürgermeister von Kiehsau, schwöre bei meiner Seemannsmütze, dass ich niemals vergessen werde, dass du nicht denkst, dass ich blöd bin."

„Gut", ich will schon meinen Finger lösen, doch der Bürgermeister hält ihn fest.
„Nicht so schnell, Molly, erst musst du mir schwören, dass du niemals vergisst, dass irgendjemand in dieser Welt nur darauf wartet, dich verstehen zu können!"

„Ich schwöre es!"
„Sehr gut", lächelnd lässt er mich los und rappelt sich auf, wobei er den Dreck von seiner Hose klopft.

„Viel Spaß noch beim Fest!", wünsche ich ihm. Mittlerweile ist es hier draußen unglaublich kalt geworden, doch das interessiert mich nicht.

„Sicher, dass du nicht mitkommen willst?", fragt Herr Schiffke, „ich bin sicher, dass der Stadtrat mir erlaubt, zwei Begleitungen zum Ball mitzubringen."

Auch wenn alles in mir danach schreit, mit den anderen Tanzen zu können, schüttle ich den Kopf: „Nein, eines Tages finde ich jemanden, der mit mir zum Ball geht!"

„Wenn das so ist, dann dir noch einen schönen Abend!"
„Ihnen auch, Herr Schiffke!"
Mit einem knappen Nicken zum Abschied dreht sich der Bürgermeister um und schlendert zurück zur Scheune. Ich bleibe weiterhin sitzen, während mein Blick in Richtung Sterne gleitet. Über mir erstreckt sich eine unendlich lange dunkelblaue Weite, so normal wie ich sie jeden Abend sehe und plötzlich bin ich mir sicher, dass dort draußen irgendjemand ist, der es schafft, meinen Himmel anders aussehen zu lassen.

„Molly!", Glitzers laute Stimme reißt mich aus dem Schlaf. Schlagartig sitze ich aufrecht im Bett. Vor meinen Augen scheint die ganze Welt zu schwanken, während ich versuche, mich irgendwie zurechtzufinden. Endlich trifft mein Blick auf Glitzer. Er steht verschlafen und unfrisiert im Türrahmen, mich dabei genervt musternd.

„Was ist denn?", frage ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen.
„Wir haben Besuch!"

𓅿

Wer zu Besuch kommt, erfahrt ihr am Donnerstag! ❤️

Den einsamsten Wal der Welt gibt es übrigens wirklich.

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