• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 12 •

Molly

Der Krankenhausflur ist das blanke Chaos. Nachdem wir uns zwischen all den wartenden Leuten in der Notaufnahme hindurchgequetscht haben, kommen wir endlich bei dem Zimmer an, in das sie meinten, Nesrin verfrachtet zu haben. Der Erste, den wir sehen, ist Luke. Wie ein aufgescheuchter Hund tippelt er immer wieder im Flur auf und ab. Erst als sein Blick auf uns trifft, schafft er es, innezuhalten. Lissy, deren Gesicht nach wie vor kalkweiß ist, überholt uns und fällt ihm regelrecht in die Arme. Ich kann erkennen, wie sich Lukes Schultern heben, ehe sie sich langsam und ruhig senken, während er ihr einen Kuss auf den Scheitel drückt.

„Was ist passiert?", will sie wissen, doch er sieht schon zu Fiona. Für einen Moment starren die Beiden sich einfach an, so als bräuchte das, was auch immer er sagen will, keine Worte.
„Sie ist okay", erklärt Luke dennoch laut für uns alle.

Kaum hörbar seufzt Fiona erleichtert auf, bevor sie ohne Umschweife in den kleinen Raum abbiegt. Ich sehe mich im Flur um. Neben Luke sitzen noch Theo und David ein Stück weiter. Beide scheinen ebenfalls aufgeregt, aber zugleich so erschlagen von den Geschehnissen, dass sie sich nicht rühren.

Keiner macht Anstalten, sich zu bewegen, also folge ich Fiona zögerlich in den kleinen Raum, doch schon wenige Schritte hinter dem Türrahmen halte ich inne. Nesrin liegt auf eine Liege. Um den Kopf hat man ihr einen weißen Verband gewickelt, unter und über dem ihr schulterlanges rabenschwarzes Haar wild hervorragt. Dafür, dass mehrere Krankenschwestern und eine Ärztin um sie herumstehen, wirkt sie ziemlich entspannt.

„Keine Sorge", ruft sie Fiona beinahe entgegen, die einen Meter vor mir ebenfalls stehen geblieben ist, „sie haben alle Haare dran gelassen. Schönen Hochzeitsfotos steht rein gar nichts im Wege, glaub mir!"

Ungläubig klappt Fiona die Kinnlade herunter. Auch ich kann Nesrin nur wortlos anstarren. Sie schafft es immer wieder aufs Neue mit vollkommen zu überraschen.

Als keiner von uns etwas sagt, räuspert sich die Ärztin schüchtern: „Wir sind noch nicht fertig mit der Behandlung, wenn Sie also-."

„Verstehe, natürlich!", meine ich schnell und hebe entschuldigend die Hand. Fiona hingegen scheint sich aus ihrer Starre gelöst zu haben, denn sie läuft entschieden auf Nesrin zu. Bei dem geradezu verwunderlich strahlenden Lächeln ihrer Patienten widerspricht die Ärztin nicht, sondern beginnt bereits weiterzusprechen. Viel von ihrer Aufreihung an Diagnosen höre ich nicht, denn hinter mir zieht eine der Pflegerinnen bereits die Tür zu.

Schon starrt mich ein Haufen Augen erwartungsvoll an.
„Und?", wagt Lissy es als Erste nachzuhaken.
Ich zucke mit den Schultern: „Ich wurde nett rausgeworfen!"

„Wo ist eigentlich die Katze?", unterbricht Glitzer skeptisch. Auch er hat sich wie David und Theo hingesetzt und lässt nun seinen Blick suchend umherschweifen.

Wie aufs Stichwort schwingt eine Tür am anderen Ende des Gangs auf. Als sie geöffnet wird, erkenne ich das Zeichen einer Damentoilette, dann Kat tritt heraus und zieht meine volle Aufmerksamkeit auf sich.

Am liebsten würde ich zurücknehmen, dass ich David zuvor als erschlagen wirkend bezeichnet habe, denn Kats Miene bietet eine viel extremere Spanne an Empfindungen. So als befände sie sich in einer Art Trance, schiebt Kat sich zwischen uns hindurch.

Glitzers gezupfte Augenbrauen rutschen ein wenig in die Höhe. Auch ich kann Kat nur irritiert ansehen, die ein abwesendes „Luft" murmelt. Dann ist sie bereits verschwunden, doch mir ist dieser seltsam bittere Geruch nicht entgangen, der an ihr gehangen hat.

„Was ist mit ihr?", Ronja sieht besorgt aus. Mir geht es nicht anders und doch komme ich nicht von dem kurzen Gedanken los, wie faszinierend es ist, dass Kats Ausstrahlung wie in sekundenschnelle wechseln zu können scheint.

„Keine Ahnung", Luke zuckt mit den Schultern, „eigentlich war sie den ganzen Abend lang ziemlich munter, aber seit dem Vorfall hat sie kein Wort gesagt."

„Wenn wir schon beim Thema sind, was ist eigentlich passiert?", will Lissy wissen, aber ich kann die Antwort ihres Freundes schon nicht mehr hören, denn ich eile los. Mit schnellen Schritten folge ich Kats Weg. Sie ist nicht in Richtung Wartezimmer gelaufen, sondern einfach weiter den Flur entlang. Ich renne blindlinks um mehrere Ecken, schiebe mich an zwei Wagen mit Tabletts vorbei und weiche einer Krankenschwester aus, bis sie endlich in mein Sichtfeld kommt.

Die junge Frau steht an einem der vielen Fenster. Ihre Augen sind auf irgendetwas außerhalb des Glases gerichtet und die dünnen Arme hat sie auf dem Fensterbrett abgestützt. Nur das schnelle Heben und Senken ihres Brustkorbs, lässt Kats Aufregung erkennen. Ansonsten ist sie wie erstarrt.

„Kat?"
Ein Zucken geht durch ihren Körper. So ängstlich, wie ich es von ihr nie erwartet hätte. Zugleich ruckt ihr Kopf in meine Richtung – die Augen leicht geweitet, den Mund zum schweren Atmen ein wenig geöffnet.

„Alles in Ordnung?"
Es ist eine dumme Frage, denn ich kann mehr als deutlich erkennen, dass es das nicht der Fall ist.

„Ich bin schuld!"
Ihr Körper verkrampft sich, so als hätte sie die Worte herauswürgen müssen und nun würde der saure Geschmack folgen, vor dem man sich eigentlich immer fürchtet. Hinzu kommt ihr dunkle Haut, die mit einem Mal viel heller wirkt. Vielleicht ist es das Licht, aber ich erlaube mir nicht, das zu glauben.

Unschlüssig, was ich tun soll, falle ich auf einen der Stühle gegenüber vom Fenster.
„Was ist denn passiert?"

Kat holt zitternd Atem, beginnt dann jedoch ohne Umschweife zu erzählen: „Nesrin wollte im Club zur Toilette und ich bin mitgekommen. Als wir im Flur ankamen, war da dieser Typ. Ich kann nicht sagen, wie er aussah – definitiv nicht schlecht – aber da ist wie ein Loch in meinem Gedächtnis. Dann hat er uns angesprochen. Seine Motive waren eindeutig und Nesrin ist einfach weitergegangen, doch ich – ich konnte einfach nicht."

Wieder schnappt sie nach Luft. Ich will sie dazu auffordern, weiter zu reden, aber das brauche ich gar nicht, denn Kat fährt ohnehin von selbst fort.

„Er hat das als Zeichen gedeutet und wurde immer aufdringlicher, bis er auf mich zukam. Ich stand weiterhin da, während Nesrin versucht hat, mir zu helfen. Plötzlich ist dann alles eskaliert. Ich weiß nicht einmal mehr, was gesagt wurde, aber es ging um das, was ich anhatte. Dann hat sie ausgeholt. Nesrin hat getroffen und er wollte sie packen. Er wollte nicht nur, sondern er hat es! Im nächsten Augenblick wurde Nesrin gegen die Wand geschleudert, aber ich habe immer noch nichts gemacht. Sie war es, die weitergehen wollte – sie war es, die uns verteidigt hat – sie war es, die nach Luke geschrien hat."

Kats Hände klammern sich so fest um das Fensterbrett, dass ich sehen kann, wie ihre Knöchel hell hervorstechen.

Langsam stehe ich auf, das leichte Zittern in meinen Knien dabei unterdrückend: „Es ist egal, was du getan oder nicht getan hast, Kat."

„Nein!", ihr Blick findet den Meinen. Mit einem Schlag wirken ihre sonst so süß schokoladigen Augen bitter: „Ich hätte es verhindern können!"

„Hättest du nicht, Kat! Dieser Kerl scheint ein Arsch gewesen sein, wenn er euch so belästigt hat. Du bist nicht schuld. Ganz egal ob es in einem Club ist, auf dem Pausenhof oder auf offener Straße! Am Ende des Tages hast du nichts falsch gemacht. Vielleicht hast du Recht damit, dass du Nesrin aktiv hättest helfen können, aber du bist die Letzte, die sich wegen irgendetwas Vorwürfe machen sollte. Es geht nicht darum, dass du in jeder Geschichte die strahlende Heldin bist, die jedem eine Lektion fürs Leben erteilt. Das Wichtigste ist, dass du nicht zum Bösen wirst, der sich irgendwelche Rechte herausnimmt. Hast du das verstanden?"

Kat sieht mich still an. Ich kann förmlich durch ihre Augen hindurch sehen, wie die Gefühle in ihrem Kopf gegeneinander ankämpfen, doch schlussendlich nickt sie.

„Und weiß du was?"
Sie schüttelt ehrlich den Kopf.

Ein kleines Grinsen schleicht sich unweigerlich auf meine Lippen: „Einen Schlag von Nesrin wird der Kerl in seinem Leben nicht mehr vergessen!"

𓅿

Ich hab meine Klausurphase endlich hinter mir! 🥳

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