• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 11 •
Zuvor...
Kat
Ich kann noch den eisigen Blick von Nesrin erkennen, ehe ich ebenfalls zu der Stimme herumfahre. Es müsste mich irritieren, dass meine Finger zittern, als ich ihn erblicke. Der Fremde ist ein junger Mann in unserem Alter, groß gebaut und gutaussehen. Das lässt sich nicht abstreiten. In dem trüben Licht kann ich die genaue Farbe seiner dunklen Haare nicht erkennen, aber ich sehe wie seine blauen Augen zwischen uns hin und her huschen. Er ist einer von diesen Menschen, von denen man nicht erwartet, sie könnten jemals in den Spiegel sehen und sich hässlich finden. Nur dass er sich wahrscheinlich nicht nur alles andere als schlecht, sondern außergewöhnlich gut finden – viel zu gut!
„Auch neu im Club?", fragt der Typ mit einem schiefen Lächeln, das offenbar verführerisch sein soll.
„Nein und jetzt verschwinde", knurrt Nesrin hinter mir. Ihre Stimme knallt wie eine Peitsche, die den Fremden hätte zurückweichen lassen müssen, doch er bleibt bloß entspannt stehen. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, stapft Nesrin auf die Toilettentür zu.
Ich bin mir bewusst, dass ich ihr nachrennen sollte. Es wäre mit Sicherheit das Sinnvollste, die schwere Tür hinter uns zuzuschlagen, während wir unsere Rücken dagegen pressen und versuchen, entspannt weiter zu atmen, dabei nicht zugeben wollend, dass unser Herz vor Panik rast. Aber so kommt es nicht, denn ich bin zu langsam. Als die Klinke von Nesrin heruntergedrückt wird, stehe ich noch immer im Flur, ohne dass ich mich auch nur einen einzigen Zentimeter gerührt habe und starre den Kerl an.
Im Stillen verfluche ich mich selbst dafür so gelähmt zu sein, aber ich kann auch nicht anders – denn ich habe Angst!
„Gefällt dir, was du siehst?", will der Typ leicht amüsiert wissen. Mein Blick ruckt noch immer unsicher hin und her. Ich will mich nach Nesrin umsehen, doch ich schaffe es nicht, mich ihr zuzuwenden. Eigentlich ist es eher das Problem, dass ich mich nicht traue, dem Fremden meinen Rücken zuzuwenden.
„Lass sie in Ruhe, verstanden?", zischt Nesrin genervt. Hinter mir kann ich ihre Schritte hören. Langsam – geradezu gelassen – kehrt sie zu mir zurück.
„Wir unterhalten uns doch nur", verteidigt der Typ sich und beginnt gleichzeitig auf mich zuzukommen.
Sofort spüre ich, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht. Ich bin so nicht, sagt eine Stimme in meinem Kopf und eigentlich hat sie Recht. Noch nie in meinem Leben kam ich mir so hilflos überfordert vor wie gerade.
„Dann ist diese Unterhaltung jetzt eben beendet", entgegnet meine Freundin, doch der Fremde ist vor ihr bei mir.
„Ich bin Samuel", stellt er sich schleimig vor, ohne Nesrin eines weiteren Blickes zu würdigen, „und du bist?"
Ich antworte ihm nicht – zu sehr bin ich mit dem Konflikt in meinem Inneren beschäftigt, als dass ich irgendetwas tun könnte. Kalter Schweiß bricht auf meiner Haut aus und ich unterdrücke meinen schwerer werdenden Atem.
„Das geht dich immer noch nichts an!", Nesrin hat mich erreicht. Mit einem Griff packt sie meine Hand. Mehr stolpernd als gehend mache ich einen Schritt zu ihr – weg von dem Fremden, doch nicht einmal das scheint ihn in irgendeiner Weise abzuschrecken. Er ist sich seiner Sache einfach zu sicher!
„Ach komm schon", meint er zu Nesrin, „ich seh passable aus, ihr seht umwerfend aus – was gibt es da einzuwenden, Süße?"
„Erstens bin ich verlobt", sie hält demonstrierend ihren Ringfinger hoch, „und zweitens stehen wir auf Frauen!"
Ich sende wortloses Danke in Nesrins Richtung, dass sie mich mit einbezogen hat, anderenfalls würde der Typ nach dieser Ansage wohl nicht aufgeben. Doch ein einziger Blick zu ihm, sagt mir, dass er auch jetzt nicht einzusehen scheint, dass es zwecklos ist.
„Ja und?", er zuckt mit den Schultern, „deine kleine Freundin zuhause kriegt nichts mit und wir drei machen uns einen schönen Abend zu dritt!"
Seine Hand schnellt vor und ich wünsche mir, ich hätte zurückweichen können, aber das tue ich nicht. Stattdessen dreht er eine meiner dunklen Locken um seinen Finger. In meinem Bauch verkrampft sich alles.
„Spinnst du?", schon zerrt Nesrin mich hinter sich, sodass er meine Strähne loslassen muss.
Sein verärgerter Blick trifft den Ihren und es wundert mich, dass er nicht zurückzuckt, denn Nesrin schäumt regelrecht vor Wut.
„Süße, jetzt beruhig dich einfach mal! Wer sich so anzieht", er zeigt auf meine enge Jeans, „der schreit doch regelrecht nach ein bisschen Vergnügen."
„Steck dir dein ‚Süße' sonst wo hin und hör mir jetzt mal gut zu", Nesrins Stimme ist ruhig geworden – zu ruhig, „es wäre das Beste für dich, wenn du deinen hässlichen Arsch jetzt auf direktem Weg nach Hause bewegst, denn hier bist du nicht erwünscht. Außerdem ist es vollkommen egal, was Kat trägt. Selbst wenn sie nackt hier stehen würde, gäbe dir das nicht das Recht, in irgendeiner Weise darüber zu urteilen, was sie will und genauso wenig erlaubt es dir, sie auch nur mit dem kleinen Finger anzufassen! Hast du das verstanden?"
Die Antwort auf diese Frage lautet anscheinend ‚Nein', denn er wendet sich beinahe schon desinteressiert mir zu: „Du heißt also Kat! Wollen wir deine spießige Freundin hier stehen lassen und du kommst mit auf die-?"
Er kommt nicht mehr dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen, denn im nächsten Augenblick trifft Nesrins Faust mit voller Kraft sein Gesicht. Es geht so schnell, dass er sich nicht einmal irgendwie verteidigen kann, sondern beim nächsten Wimpernschlag bereits vor Schmerzen flucht.
Nesrin, die ihre Hand nur kurz schüttelt, will nach der meinen greifen, als Samuel sich von seiner Schockstarre löst. Blitzschnell packt seine Hand ihr Oberteil. Nesrin fehlt sowohl die Kraft als auch das nötige Gewicht, um sich nicht an ihn ran zerren zu lassen.
„Dir hat wohl noch niemand Respekt gelehrt, kleine Schlampe!"
Ich will um Hilfe schreien, aber noch immer bin ich nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Stattdessen starre ich Nesrin bloß an, die in seinem Griff tief Luft holt.
„LUKE!", der Name geht in einen schrillen Schrei über, als Samuel sie heftig von sich stößt. Das Nächste, was ich sehe, ist Nesrins Kopf, der mit einer ungeheuren Wucht gegen die Wand des Flurs prallt, ehe sie an derselben hinabsinkt. In diesem Augenblick lösen sich die unsichtbaren Fesseln der Angst, die mich bis eben daran gehindert haben, in die Situation einzuschreiten.
Mit einem spitzen Schrei stürze ich mich auf Samuel, doch noch ehe ich ihn erreiche, sind bereits Schritte zu hören. Ruckartig reißt Luke Samuel herum, der gar nicht zu wissen scheint, wie ihm geschieht. Denn in der nächsten Sekunde hat er schon nicht mehr Luke, sondern Theo vor sich, während ersterer auf Nesrin zueilt, die sich noch immer nicht bewegt hat. Auch ich stolpere in ihre Richtung. Meine Knie fühlen sich seltsam weich an.
Hinter uns werden David, Theo und Samuel laut, aber ich bin zu durcheinander, um weiter auf die drei zu achten. Von der Angst erschöpft sinke ich neben Nesrin auf den Boden. Luke hat bereits sein Handy herausgeholt. Ich kann erkennen, wie seine Finger zittern, als er die Nummer des Notrufs eintippt. Auch ich bebe am ganzen Körper. Zögerlich lege ich zwei Finger auf Nesrins Hals. Das leichte Pochen unter der Haut lässt mich erleichtert aufatmen. Sie scheint nur bewusstlos zu sein. Dieses ‚nur' fühlt sich unglaublich fehl am Platz an.
Was wäre passiert, wenn ich mit ihr zu den Toiletten geeilt wäre? Oder wenn ich etwas gesagt hätte? Oder wenn ich einfach nur panisch um Hilfe geschrien hätte? Nichts, ist die Antwort – wahrscheinlich wäre nichts passiert und diese Erkenntnis fühlt sich schlimmer an als jeder Schlag, den ich hätte bekommen können, wenn ich Nesrin geholfen hätte.
𓅿
Ich weiß, das Kapitel Ende ist gemein, aber weiter geht es leider erst Donnerstag, weil dann meine Klausurphase endet...❤️
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top