• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 1 •
Kat
„Nächste Haltestation Kiehsau", erklingt die vom Rauchen raue Stimme des Busfahrers.
Eilig greife ich nach meinem Wanderrucksack. Außer mir ist es im Bus fast leer. Nur eine alte Dame sitzt in der hintersten Bankreihe und strickt friedlich. Der letzte andere Mitfahrer ist bestimmt schon vor einer halben Stunde in einem kleinen Dorf ausgestiegen.
„Sie können noch sitzen bleiben", meint der Fahrer in meine Richtung. Er ist ein älterer Mann mit kurzem grauen Haar und ein breiter Schnäuzer lässt nicht erkennen, ob er wirklich so gelangweilt guckt oder sein Lächeln nur verdeckt wird. Dennoch tippe ich auf ersteres. Er wirkt nicht gerade wie eine lebensfrohe Person, was ich ehrlich gesagt nicht verstehe. Wenn ich die Chance hätten, den ganzen Tag lang neue Leute kennenzulernen, wäre das wahrscheinlich wie ein niemals endendes Abenteuer.
Trotz seines Hinweises gehe ich durch den schmalen Flur, bis ich mich auf den vordersten Platz fallen lassen.
„Wie ist es so, Busfahrer zu sein?", will ich wissen und lege den Arm um meinen Rucksack, so als wäre es ein guter Freund, der neben mir sitzt.
Der Fahrer wirft mir einen leicht irritierten Blick zu: „Was?"
„Na, wie ist ihr Job?", erkläre ich, „sie treffen doch bestimmt so viele interessante Menschen am Tag."
„Nicht wirklich."
„Aber sie sind Busfahrer!"
„Ein Busfahrer, der den Bus nach Kiehsau fährt", korrigiert der Fahrer, wobei er dieses Mal nicht in meine Richtung sieht, sondern wieder die leere Landstraße mustert. Wahrscheinlich könnte man mit verbundenen Augen hier entlang fahren, wenn man das Lenkrad immer gerade hält und es würde niemals jemand entgegenkommen.
„Kein Mensch fährt nach Kiehsau", fährt er erklärend fort.
„Doch, dort hinten sitzt noch eine alte Dame!"
„Das ist Friede", brummt der Fahrer und die Mundwinkel hinter seinem Schnäuzer scheinen sich zu einer schmalen Linie zu ziehen, „sie ist dement und fährt hier jeden Tag mit. Heute Abend bringe ich sie dann zurück ins Altersheim."
Das erklärt auch, warum er ihr nie erlaubt hat, auszusteigen. Einmal hat Friede versucht, durch die Tür zu gehen, doch ehe sie es konnte, hatte der Fahrer sie bereits wieder vor ihren Augen geschlossen. Ich hatte mich bereits gewundert, war aber trotzdem davon ausgegangen, dass eine gewisse Richtigkeit dahintersteckt.
„Sehr nett von Ihnen", meine ich mit einem Lächeln, das triumphierender wird, als ich fortfahre, „aber ich bin ja auch noch da und fahre in diesem Bus mit!"
„Sie sind ja auch Kiehsauerin", grummelt er, was mich die Augenbrauen heben lässt.
„Ich bin keine Kiehsauerin!", stelle ich sofort klar, „ich komme von einem Landgut in der Nähe von Paderborn, das liegt in Nordrhein-Westfalen. Von hier ist das wahrscheinlich sogar weiter entfernt als Dänemark – verrückt irgendwie, oder? Es wäre wahrscheinlicher, dass ich in ein paar Stunden in einem anderen Land bin als zuhause. Und Polen ist auch so nah!"
Kaum merklich zuckt der Fahrer mit den Schultern: „Dann habe ich mich wohl getäuscht."
„Aber wieso?", ich rücke ein Stück auf meinem Stuhl vor, als könnte ich die Antwort so von seinen Augen ablesen, „habe ich etwa schon einen norddeutschen Dialekt? Mir haben die Leute oft gesagt, ich würde spezielle sprechen, aber ich dachte immer, dass das daran liegt, dass ich früher zwei Jahre bei der Sprachtherapie war. Sie wissen schon – Lispeln und die üblichen Probleme."
Er geht gar nicht darauf ein, sondern fährt stumpf weiter – wenn er das nicht tun würde, wäre ich wahrscheinlich auch ein wenig verwirrt. Es wäre sehr ungewöhnlich gewesen, wenn der Fahrer eine Vollbremsung gemacht und mich gefragt hätte: ‚Was? Sie waren bei der Sprachtherapie? Das sieht man ihnen gar nicht an!'
„Also, habe ich einen Dialekt?", will ich neugierig wissen.
„Nein!"
„Was hat sie dann glauben lassen, ich wäre Kiehsauerin?", forsche ich weiter nach. Gibt es irgendetwas an mir, das wirkt, als wäre ich an der Ostsee geboren? Diese Frage habe ich mir tatsächlich noch nie zuvor gestellt!
„Kommen Sie", flehe ich mit einem versucht koketten Lächeln, „wiese haben sie angenommen, ich käme aus Kiehsau?"
„Sie haben einen Knall – das ist der einzige Grund!"
„Oh", mehr fällt mir dazu nicht ein. Schon hält der Bus. Ohne dass ich es bemerkt habe, sind wir an der Haltestelle angekommen. Wirklich viel gibt es durch die Fenster auch nicht zu sehen. Neben einer kleinen gelben Bank steht am Straßenrand ein einzelnes Schild, welches verrät, das hier die Busse halten müssen. Ansonsten könnte es genauso gut einfach nur eine verlassene Sitzmöglichkeit sein.
„Na dann", ich hüpfe von meinem Platz, „auf in ein neues Abenteuer, stimmts!"
Der Fahrer brummt bloß irgendetwas unverständliches. Ich gehe zögerlich die kleine Stufe hinab, doch noch ehe die Tür hinter mir wieder schließt, platzt eine letzte Frage aus mir heraus.
„Sind Sie eigentlich Kiehsauer?"
Der alte Mann tut das, mit dem ich wohl am wenigsten gerechnet hätte, denn er stößt ein tiefes offenes Lachen aus und schüttelt seinen Kopf, so als hätte ich gerade den Witz des Jahrhunderts gemacht. „Zum Glück nicht", schafft er es schließlich zwischen zwei schnappartigen Atemzügen zu sagen, bevor er die Türen zufahren lässt. Ich erkenne noch, wie er breit unter seinem Schnurrbart weiter grinst, während er den Bus wieder in Gang setzt.
Ich bleibe vor der Haltestelle stehen und blicke dem großen Wagen hinterher. Dieser fährt ruckelnd weiter die Landstrafe entlang, bis er schließlich in der Ferne verschwindet. Erst dann drehe ich mich um. Ein schmaler Weg führt hinter der Haltestelle entlang. Ich atme tief durch und raffe die Träger meines Wanderrucksacks. Dann mache ich den ersten Schritt, aber anstatt weiterzulaufen, halte ich wieder an. Mein Blick gleitet auf meine Füße. Das war der erste Schritt in ein neues Abenteuer! Grinsend sehe ich wieder auf und gehe weiter – auf direktem Weg hinein ins Herz von Kiehsau!
𓅿
Was lernen wir im Voraus? Alle Kiehsauer haben einen Knall! 😂
Donnerstag geht's weiter...
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