• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 26 •
Molly
Ich nehme gar nicht wirklich wahr, wie alle um mich herum von links nach rechts und wieder zurückeilen, um die letzten noch nötigen Vorbereitungen für die Hochzeit treffen, denn ich bin mit dem Kopf noch immer in dieser einen Situation vor gerade einmal zwei Stunden. Gestern waren sowohl Kat als auch ich mit der Planung schwer beschäftigt, sodass wir einander kaum über den Weg gelaufen sind, aber als ich sie heute Morgen angesehen habe, konnte ich mich plötzlich nicht mehr daran erinnern, jemals etwas anderes getan zu haben. Da waren nur noch ihr Blick und der meine, die nicht im Stande waren, sich voneinander loszureißen.
Während ich sie geküsst habe, ist mir eine Erkenntnis gekommen, von der ich bis dahin nie gedacht hätte, dass ich sie mir wirklich eingestehen würde. Ich habe mich in dieses verrückte, planlose Mädchen so sehr verliebt, dass mein Herz allein bei diesem Gedanken wie verrückt zu rasen beginnt. Zum ersten Mal bin ich diesem Bewusstsein so nahegekommen, als Frau Stiegler mir meinen Traum zu Füßen gelegt hat und ich, ohne groß darüber nachzudenken, wusste, dass ich über ihn hinwegspringen werde, um bei diesem anderen Traum bleiben zu können, dem ich mir von Tag zu Tag mehr bewusst werde.
„Molly", Herr Schiffke tippt mir plötzlich auf die Schulter.
Leicht erschrocken blicke ich auf: „Was ist?"
„Ronja hat gerade David geschrieben, dass Nesrin und Fiona fast fertig sind. Wir haben jetzt angeordnet, dass sie uns Fiona zuerst bringen, weil Nesrin von ihrem Bruder dann zum Altar geführt wird. Hast du noch irgendwelche Einwände, weshalb wir noch nicht starten könnten?"
Meine einzige Antwort ist ein abwesendes Nicken. Um uns herum hat sich bereits ein großer Teil des Dorfs versammelt so wie Nesrins Onkel Hakim, eine kleine Gruppe von Fionas alten Schulfreunden und vereinzelte Angehörige der Dorfbewohner, die aus den benachbarten Orten angereist sind.
Der Bürgermeister will schon verschwinden, als ich ihn zurückrufe: „Herr Schiffke?"
Fragend blickt er über seine Schulter.
Ich lächle ihn kurz an: „Alles Gute zum Geburtstag!"
„Danke, Molly!", schon ist er wieder im Gewusel verschwunden und ich allein mit meinen Gedanken.
Noch immer nachdenklich gehe ich langsam nach vorne, um neben Theo in eine Bankreihe zu rutschen. Ich habe keine Augen für den wunderschön hergerichteten Obstgarten neben der Scheune, an dessen Bäumen rosa-blaue Girlanden hängen, die sich in langen Bahnen über die Gäste erstrecken. Man könnte meinen, Herr Schiffke hätte alle Stühle in Kiehsau aufgetrieben. In der letzten Reihe erkenne ich sogar Kiehsaus Anglerverein mit ihren Klappstühlen. Die alten Herren und Damen scheinen sich gerade laut über die Hochzeit auszutauschen. Zumindest kann ich ihre Stimme klar bis zu meinem Platz hören. Ich lasse meinen Blick weiter zu Melinda, Nesrins Mutter, gleiten, die aufgeregt in der ersten Reihe sitzt. Von meinen Eltern ist keine Spur zu sehen. Obwohl Nesrin so unglaublich oft nachmittags bei uns am Tisch gesessen hat, nimmt keiner von ihnen sich die Zeit, an ihrer Hochzeit teilzunehmen. Ich kann innerlich nur den Kopf schütteln. Es ist schon verwunderlich, wie für manche Kiehsau der größte Segen und für andere ein schrecklicher Fluch zu sein scheint. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht erklären, dass man diesem Dorf so sehr den Rücken zuwenden könnte.
Zwei Lautsprecher knacken, als die Musiktruppe beginnt, ein letztes Mal nachzustimmen. Neben Lisa, die mit ihrer Geige reichlich überfordert wirkt, haben sich noch ein paar weitere Musiker zusammengefunden. Keiner von ihnen scheint sich seiner Sache wirklich sicher zu sein und dennoch lächeln sie einander zuversichtlich zu. Im Stillen schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Gruppe ihr Talent nur maßlos unterschätzt.
Mit einem Mal werden die Saitenklänge von einem Klopfen unterbrochen. Mein Kopf ruckt nach vorne. Herr Schiffke hat sich mit einem Mikrofon aufgestellt. Seinen geröteten Wangen nach zu urteilen ist der Bürgermeister tatsächlich aufgeregt, doch er lächelt genauso zuversichtlich wie die Musiker weiter. Anscheinend ist sich hier niemand seiner Sache sicher – hoffentlich gilt das nicht für das Brautpaar!
„Liebe Anwesenden, unsere Bräute sind auf dem Weg zu uns, deshalb bitte ich euch alle, schon einmal Platz zu nehmen. Es kann sich nur noch um Minuten handeln!", verkündet der Bürgermeister kurz angebunden.
Ausnahmsweise hören die Gäste wirklich auf Herr Schiffke und lassen sich nacheinander nieder.
„Aufgeregt?", fragend blickt mein Bruder auf mich hinab.
Ich nicke lächelnd: „Vor zwei Jahren hätte ich keinem geglaubt, der meint, mir einreden zu können, dass Nesrin die Erste von uns wäre, die heiraten würde."
„Sie ist immer für eine Überraschung gut."
„Das stimmt wohl!"
Wieder sehe ich nach vorne, wo die Trauzeugen Lissy und Luke sich schief angrinsen, doch in diesem Moment huscht sein Blick über die Menge, welche mit einmal mal still zu werden scheint. Ich folge ihm. Auch die restlichen Gäste scheinen seinem Beispiel zu folgen und sehen zurück ans Ende des Gangs, wo Fiona erschienen ist. Doch während alle die Braut in ihrem knöchellangen hochgeschlossen Kleid ansehen, dessen Dekolleté mit dünner Spitze verziert und überdeckt ist, starre ich zu dieser einen Person, an der ich einfach nicht vorbeisehen konnte.
Kat sitzt in einer der hinteren Reihen. Das lockige Haar trägt sie offen, sodass es hinab auf ihre Schulter fällt, auf denen die gelben Träger ihres beinahe mädchenhaften Kleides liegen. Als sie meinen Blick erwidert, befindet ein Ausdruck in ihren Augen, den ich nicht deuten kann, ganz egal wie sehr ich es will.
Endlich schaffe ich es, meine Aufmerksamkeit von ihr loszureißen. Fiona hat mich mittlerweile fast erreicht. Mit beiden Händen klammert sie sich aufgeregt an ihren rosafarbenen Brautstrauß. Kurz lächelt sie mir zu, bevor sie weiter zu Herr Schiffke geht, der ihr ebenfalls schon entgegen strahlt.
„Sie sieht atemberaubend aus", raunt Theo beinahe andächtig in mein Ohr. Wahrscheinlich hätte ich dasselbe gedacht, wäre mir mein Atem nicht bereits von jemand anderem geraubt worden, der jetzt überall in meinem Kopf herumspukte. Ich ermahne mich dazu, mich nicht noch einmal umzudrehen. Erst als die Menge sich wieder nach hinten wendet, tue ich es ihnen gleich.
Nesrin steht fast schon schüchtern neben David am Ende des Gangs, der mindestens so nervös wie sie wirkt. An ihrer Stelle hätte ich mir keine Sorgen gemacht, denn so wie Nesrin aussieht, wird Fiona nur ja sagen können. Ihr Kleid wirkt schlicht, aber dennoch wunderschön mit einem luftigen Rock, der seitlich einen Schnitt bis zum Oberschenkel hat, dem Dekolleté mit einem tiefen V-Ausschnitt und den hängen Trägern an ihren gebräunten Oberarmen. Im Gegensatz zu Fiona trägt sie keinen Brautstrauß, sondern hat nur eine einzelne rosa Rose in ihrem hochgesteckten Haar.
Ein kurzer Blick in die Richtung ihrer Verlobten reicht, um meine Vermutung zu bestätigen. Fiona ist regelrecht die Kinnlade heruntergeklappt.
Langsamen Schrittes führt David seine Schwester bis nach vorne, wo er sie an Fiona übergibt, die sofort ihre Hand nach der von Nesrin ausstreckt. Gemeinsam lassen sie sich auf zwei weißen Stühlen vor Herr Schiffke nieder, der mit dem Grinsen gar nicht mehr aufhören zu können scheint. Auch die Menge setzt sich, während der Bürgermeister feierlich mit seiner Rede beginnt.
𓅿
Lasst die Hochzeit beginnen! 🎉
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