Prolog


***

Ein Tränenschleier trübt mein Blickfeld, während ich auf den leeren Zettel vor mir starre.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, einen Stift in der Hand, ohne zu wissen, wie ich das alles erklären soll, wie ich das Ganze in passende Worte formulieren soll, was mich gerade bewegt.

Mein Blick wandert zum Fenster. Regentropfen bahnen sich einen Weg über die besprenkelten Scheiben und hinterlassen Streifen, die einen Kontrast zu dem dazwischenliegenden Punktemeer bilden.

Es heißt immer, dass man reden solle, wenn einem etwas Schreckliches widerfahren ist, wenn man großes Leid empfindet und keinen Ausweg mehr sieht. Warum ich das sage? - Weil mir genau das passiert ist.

Ich habe niemanden zum Reden, also schreibe ich es auf, vielleicht lindert es den Schmerz, den ich tief in mir trage, der mein Herz zerbricht und der mich nicht mehr verlassen will.

Nie hätte ich gedacht, dass es das Schönste auf der Welt ist, das einen gleichzeitig auch zerstören kann, was mich am meisten zerstört hat - die Liebe.

Ich habe ihn so unbeschreiblich stark geliebt, er war mein Leben! Was ich für ihn war, war der Grund, warum ich so war, wie ich es jetzt bin, am Boden zerstört, nichts wert.

Ich öffne den Stift und schiebe dessen Kappe zur Seite.

Vielleicht wird es ja diejenigen interessieren, die ich zurücklassen werde, was ich gedacht habe und was mich letztlich zu dieser Tat getrieben hat.

'Ihr Lieben...', krakele ich mit unordentlicher Schrift auf den Zettel. Meine Hände zittern. Die Vorahnung auf das, was ich tun werde, tun muss, lässt mich erschaudern.

'Es tut mir leid!, schreibe ich weiter. Eine Träne rollt über meine Wange und tropft auf das frisch Geschriebene, sodass die Tinte auf dem Blatt verschwimmt und einen großen hellblauen Fleck hinterlässt.

Frustriert zerknülle ich das Papier und schmeiße es achtlos neben mich.

Der Regen wird stärker und trommelt nun auf die Scheibe.

Ein neuer Zettel liegt vor mir und erneut beginne ich, zu schreiben:
'Hallo Ihr Lieben!
Es tut mir von Herzen leid, euch das schreiben zu müssen.
Es tut mir insbesondere für euch leid, Mom und Dad, denn wenn ihr das lest, wenn ihr es tut, bin ich nicht mehr auf dieser Welt.'

Ich wische mir eine neue Träne von der Wange, die das Papier zu verderben droht.

'Dennoch sollt ihr wissen, dass ich euch immer geliebt habe, aus tiefster Seele, und dass ihr keinerlei Schuld an all dem tragt.
Ich bin euch unglaublich dankbar, dass ihr mich großgezogen habt, immer für mich da wart, mich versorgt habt, mir so viele glückliche Momente in meinem Leben geschenkt habt und vor allen Dingen, dass ihr die zwei Menschen wart, die mich immer geliebt haben, egal was ich gemacht habe, ob es gut war oder schlecht.'

Ein Stich durchdringt bei diesen Zeilen mein Herz, die ich mit steifen Händen zu schreiben versuche. Sie hatten es nicht verdient, das wusste ich, aber es musste so sein, es ging nicht anders.

'Ich weiß, es ist egoistisch, was ich tun werde, aber ich sehe keinen anderen Weg!
Es tut mir leid, dass ich es so kommen musste!'

Ein Schluchzer unterbricht mich, der sich einen Weg aus meiner Brust bahnt.

'Trotzdem werde ich euch für alle Ewigkeiten lieben, das sollt ihr immer wissen!
Auf bald, in einer besseren Welt!'

Mit letzter Kraft schreibe ich die Grußformel.

'Eure Carmen'

Dann kann ich nicht mehr an mich halten und weine los, hindere die Tränen nicht mehr, sich einen Weg über meine Wangen zu bahnen.

Ich schlinge meine Arme um die Beine und wiege mich sanft hin und her, um mich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.

Lange sitze ich so da, biss mein Tränenfluss versiegt und meine Augen rot, dick und verschwollen sind.

Ich greife zu meiner Jacke, die über meinem Stuhl hängt und streife sie mir über.

Den geschriebenen Zettel falte ich sorgfältig zusammen und lege ihn auf den Tisch.

Leise schließe ich die Tür hinter mir und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. 19:35Uhr soll die Bahn kommen, mein Weg aus dieser Welt.

Ich denke und fühle nichts mehr und gehe mechanisch auf mein Ziel - mein Ende - zu.

Der Regen durchweicht mich.

Meine Haare kleben in meinem Gesicht. - Ich streiche sie nicht weg.

Mir ist kalt. - Ich laufe einfach weiter, den Weg zum Bahnhof, meinen Weg, meine Erlösung von diesem Schmerz. Es gibt kein Zurück!

Der Bahnhof ist verlassen.

Es ist 19:15Uhr.

Ich rutsche die Kante runter und lande auf den Schienen.

Ich gehe noch ein Stückchen dem Zug entgegen. Falls noch jemand kommt, könnte er mich hier sehen und würde mich wahrscheinlich aufhalten. Außerdem wäre die Bahn hier viel zu langsam, da sie im Bahnhof praktisch schon hält.

Es ist 19:25Uhr. - Die Sekunden sind gezählt.

Mein Handy vibriert in meiner Tasche. Ich drücke den Anruf sofort weg, ohne zu gucken, wer es ist.

Ich lege mich auf die Schienen. Die Kälte durchdringt mich bis auf die Knochen. Ich versuche das Zittern meines Körpers zu unterdrücken und kugele mich zusammen, drücke das Kinn an meine Knie und schließe die Augen.

Die Dämmerung bricht ein.

Es ist 19:30Uhr.

Ungewollt beginnen neue Tränen zu fließen.

In der Ferne höre ich den Zug.

Ich bekomme ein flaues Gefühl im Bauch, Angst.

Es ist 19:32Uhr.

Ich höre das Rattern auf mich zukommen und öffne die Augen. Ich sehe den Lichtkegel des Zuges immer näher kommen.

Wieder vibriert mein Handy. - Ich ignoriere es.

Ich stehe schwankend auf.

Der Wind bläst in mein Gesicht und lässt meine offene Jacke flattern, wie ein kleines Segelboot im Sturm.

Ich schmecke das Salz meiner Tränen.

Ich werde vom Licht des Zuges erfasst und höre kurz darauf das schrille Quietschen, doch es ist zu spät, der Zug ist zu schnell, er kann nicht mehr rechtzeitig bremsen.

Wie ein Vogel breite ich meine Arme aus.

Das grelle Licht blendet mich und ich schließe wieder die Augen.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und schreie mit aller Kraft, die mein Körper in diesem Zustand noch bieten kann, gegen das unerträglich laut werdende Quietschen des Zuges, seinen Namen:

"Ssssshhhhhhhaaaaaaaawwwwwnnn.....!"



***

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