Kapitel 6
Michelle und ich sahen uns entsetzt an, bevor wir uns ganz langsam zu der Stimme hinter uns umdrehten.
Das würde jetzt gewaltig Ärger geben und das auch noch am ersten Schultag.
Doch zu meiner Überraschung stand keine wütende Frau Schumann vor uns, sondern ein korpulenter, dunkelhaariger Junge mit leichtem Bartwuchs, der sein Lachen nicht mehr unterdrücken konnte.
„Eure Gesichter...", fing er an, der Rest ging allerdings schon in einem gewaltigen Lachanfall unter. „Ihr... ihr müsstet mal... mal eure Gesichter sehen..."
Ich bekam vor Verblüffung keinen vernünftigen Ton heraus. „Wie, wie.... wie hast du das mit der Stimme hinbekommen?", stotterte ich.
Michelle war auch absolut erstaunt, realisierte aber schneller als ich und lachte nun ebenfalls.
Ich hingegen musste mich erst einmal von meinem Schock erholen. „Mach das nie wieder!", ermahnte ich ihn. Um ehrlich zu sein, war es mir etwas peinlich, dass wir auf die fast perfekt verstellte Stimme hineingefallen waren.
„Ich bin Vincent", fing er an, nachdem er sich so einigermaßen gefangen hatte.
Ich erinnerte mich wieder. Er hatte in der ersten Reihe gesessen, bei denen, die ich als Streber eingestuft hatte, aber anscheinend besaß er doch ziemlich viel Humor und schien sich nicht bei jedem Lehrer einkratzen zu wollen, wenn er sich über Frau Schumann sogar lustig machte.
„Ich bin Michelle und das ist Carmen", übernahm Michelle die Vorstellungsrunde.
„Sehr erfreut", erwiderte Vincent und rückte sich sein kariertes Hemd etwas zurecht.
Er hatte eine relativ hohe Stimme, weswegen es mich mittlerweile nicht mehr wunderte, dass er Frau Schumann so gut imitieren konnte.
„Aber nun zum eigentlichen Gesprächsthema", fuhr er fort, „Ich kenne Frau Schumann schon eine ganze Weile, genau genommen seit der siebten Klasse. Sie war bis jetzt zur elften meine Klassenlehrerin. Wenn jemand weiß, wie diese Frau tickt, dann bin ich das wohl."
„Mein Beileid", warf ich ein. „Ist die eigentlich immer so schräg drauf?"
„Jop, ist sehr selten, dass sie mal einen guten Tag hat. Das merkt man leider auch an den Noten."
Na großartig! Ich hatte in Mathe ohnehin schon große Schwierigkeiten alles zu verstehen und wenigstens eine drei auf dem Zeugnis zu schaffen. In Kombination mit Frau Schumann als Lehrerin würde das die reinste Katastrophe werden.
„Habt ihr nicht mal mit dem Direktor darüber gesprochen?", startete ich einen Versuch, die Lage nicht ganz so aussichtslos wirken zu lassen und mir irgendwie Hoffnungen aufzubauen.
„Wir haben eine Direktorin und nein, das würde absolut nichts bringen. Dann würde Frau Schumann nämlich erzählen, was wir für Rotzlöffel sind und wie wir ihr Tag für Tag das Leben zur Hölle machen", blockte Vincent sofort ab.
„Aber wenn ihr als Klasse zusammenhaltet...", mischte sich nun Michelle ein.
„Nein", wurde sie gleich wieder von Vincent unterbrochen, „Es gäbe bestimmt ein paar Streber, die petzten würden."
„Was meinst du mit petzten?", hakte ich nach.
„Na ja, sie hätte leider nicht ganz unrecht, mit dem was sie sagt. Sie hat es schon nicht leicht mit uns, was aber definitiv nicht unsere Schuld ist", erklärte er. „Sie hat permanent schlechte Laune und wir stänkern halt zurück, um wenigstens ein bisschen Spaß in ihrem Unterricht zu haben."
„Was auch absolut verständlich ist", stimmte Michelle zu.
Vincent begann zu grinsen: „Na ja, heute werde ich mich mal wieder ransetzen und ein paar Pranks ausarbeiten."
Ich war nicht ganz so begeistert: „Hältst du das wirklich für eine so gute Idee? Dir ist schon klar, dass wir noch von ihr benotet werden müssen und es hier um unser Abi geht."
Vincent verdrehte die Augen. „Jetzt sei doch keine Streberin! Außerdem bekommen wir sowieso nur schlechte Noten von ihr, viel schlimmer kann's doch eh nicht mehr werden."
„Da hat er recht." Michelle war offensichtlich schon auf Vincents Seite.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte Angst, dass das Ganze nach hinten losgehen könnte. Aber ich wollte auch nicht als Streber abgestempelt und von allen gehasst werden.
Erinnerungen an meine alte Schule kamen wieder hoch.
Mit geistigem Auge sah ich mich vor mir, wie ich alleine auf dem Schulhof stand, von den Mädchen ausgegrenzt, von den Jungs beleidigt und beschimpft und zu schüchtern, jemandem von meinem Leid zu erzählen.
Den Grund dafür verstand ich selbst nicht.
Zum damaligen Zeitpunkt trug ich sicherlich nicht die modernsten Sachen, lernte vielleicht sehr viel für die Schule und hatte auch keine Modelfigur, aber deswegen einen gleich zu mobben?
Das Ergebnis waren starke Depressionen, Minderwertigkeitskomplexe und Panikattacken, Angst davor, einfach nur in die Schule zu gehen, Furcht davor, was als nächstes geschehen würde.
Ich versuchte mich zu ändern. Ich sparte mein Taschengeld zusammen, um mir modernere Kleidung und Schminke zu kaufen, hungerte mich auf mein „Idealgewicht" runter und zwang mich, nicht die ganze Zeit vor dem Schreibtisch zu sitzen und zu lernen.
Doch das Einzige, was das brachte, waren weitere Mobbingattacken.
Ich wehrte mich nicht dagegen, sondern fraß alles in mich hinein und zog mich immer weiter aus meinem sozialen Umfeld zurück.
Nachmittags lag ich nur noch in meinem Bett, ging nicht mehr raus, erschien nur noch zu den Mahlzeiten, wo ich fast gar nichts aß und sagte keinen Ton.
Meine Noten verschlechterten sich rapide und mein seltsames Verhalten fiel auch meinen Eltern auf, obwohl sie zu dem Zeitpunkt sehr viel arbeiten mussten und kaum zu Hause waren.
Trotzdem waren sie mein Anker in dieser Zeit, halfen mir, die Essstörungen zu überwinden und mir mehr Selbstbewusstsein zu geben, um das alles zu überstehen.
Als sich das mit dem Mobbing nicht besserte, nahmen sie mich von der Schule runter.
Das war auch der Zeitpunkt, wo mein Vater eine neue Arbeitsstelle angeboten bekam und damit war der Umzug quasi fest beschlossen.
„Hallo? Jemand zu Hause?"
Die wild vor meinem Gesicht herumfuchtelnde Hand von Vincent holte mich wieder in die Gegenwart zurück.
„Jaja", antwortete ich schnell.
„Gut", fuhr Vincent fort, „Ich erstelle heute Nachmittag eine Gruppe auf WhatsApp. Ich bräuchte nur noch eure Nummern."
Ich hatte gerade überhaupt nicht aufgepasst, gab ihm meine Nummer aber trotzdem.
„Das wird ein Spaß werden!", freute sich Vincent. „Frau Schumann wird ihr blaues Wunder erleben."
Aha, darum ging es also.
Ich erwiderte aber sicherheitshalber nichts mehr, ich wollte nicht als Streberin abgestempelt werden, ich wollte nicht mehr gemobbt werden, ich wollte nicht mehr so leiden wie früher.
Also würde ich wohl mitmachen.
„Perfekt!", sagte Vincent, als er unsere Nummern in seinen Kontakten abgespeichert hatte. „Was habt ihr jetzt?"
„Biologie", antwortete Michelle für uns beide.
„Perfekt, ich auch!"
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