Kapitel 1


                                                                                                                1 1/2 Jahre früher

"Carmen!", ertönte die gedämpfte Stimme meiner Mutter.

Ich vergrub mein Gesicht noch tiefer in meinem Kissen und versuchte ihre Stimme auszublenden, da ich hoffte, dass sie sich geirrt hatte, es nicht Zeit zum Aufstehen war und ich einfach noch ein wenig weiterschlafen konnte.

Doch dieser Wunsch wurde sofort durch eine sich öffnende Tür zerstört. "Carmen, heute ist Schule. Du musst langsam aufstehen, sonst wird es nur wieder stressig."

Ach ja, heute war ja Schule. Der erste Schultag nach den Sommerferien. Ich seufzte. Meine Lust auf Schule war wie immer verschwindend gering. Meinetwegen könnten die Ferien noch einen Monat oder vielleicht sogar länger andauern. Wieso vergingen sie jedes Jahr immer schneller? Früher waren sechs Wochen für mich eine Ewigkeit gewesen, doch mittlerweile glitten sie wie Sand durch meine Finger und ich fühlte mich nicht unbedingt erholter als davor.

"Hörst du mich?", fragte mich meine Mutter und riss mich somit wieder aus meinen Gedanken.

"Ja", grunzte ich mit einer vom Schlaf noch sehr kratzigen Stimme in mein Kissen.

Ich hörte Schritte auf mich zukommen und ehe ich mich versah, saß meine Mutter auch schon auf der Bettkante und hatte meine Decke beiseite geschlagen.

"Was soll das?", murrte ich und blinzelte sie verschlafen an. Ich spürte, wie mich die Bettwärme verließ und somit das Gefühl der Ruhe und Gemütlichkeit nun vollends zerstört war.

Die Antwort blieb aus und stattdessen vernahm ich das herzliche Lachen meiner Mutter und kurz darauf kitzelte sie mich ordentlich durch, sodass ich nun ganz von selbst aus dem Bett sprang.

"Mann, Mama! Das ist gemein!", schmollte ich und warf ihr einen bitterbösen Blick zu, der sie nur noch weiter zum Lachen brachte.

"Ich kenne dich doch! Am Ende wärst du doch nur wieder eingeschlafen", schmunzelte sie. - Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Das war schon das eine oder andere Mal vorgekommen.

Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und ich machte mich auf den Weg ins Bad.

Draußen im Flur standen immer noch einige Kartons vom Umzug, die wir noch nicht geschafft hatten, auszuräumen. Zu Beginn der Sommerferien sind wir nämlich hierhergezogen, weil mein Vater in dieser Stadt ein gutes Jobangebot bekommen hatte und wir mit unserer alten Wohnung sowieso unzufrieden gewesen waren. In meiner alten Schule hatte ich obendrein große Probleme mit Mobbing gehabt, was letztendlich der Auslöser für den Umzug war. Wir hofften auf einen Neubeginn, der unser Leben ein bisschen besser machen würde.

Im Bad putzte ich mir zuerst die Zähne und wusch mir noch die Haare, was ich am Vorabend nicht mehr geschafft hatte. Da kaum Zeit war, sie zu föhnen, wickelte ich sie schnell in ein Handtuch und zog mich vorher erst an. Heute sollte es warm werden, wie mir ein Blick aufs Thermometer verriet. Also zog ich mir Hotpants und ein schlichtes weißes T-Shirt an. Anschließend schminkte ich mich ein wenig und machte mich dann die Treppen hinunter auf den Weg in die Küche.

Mein Vater saß schon am Tisch und war in seine Zeitung vertieft, die er jeden Morgen zu lesen pflegte. Ab und zu nippte er an seiner dampfenden Kaffeetasse und knisterte mit dem Papier, als er gelegentlich die Seite umblätterte.

Ich schlich mich von hinten an ihn heran und schlang dann meine Arme um seinen Hals. "Guten Morgen Papa", nuschelte ich in sein Ohr.

"Guten Morgen, mein liebes Kind", kam gut gelaunt zurück. "Wie hast du geschlafen?"

"Leider viel zu kurz", seufzte ich und blickte über seine Schulter auf die Neuigkeiten des Tages. Es gab nichts Interessantes zu lesen, wie immer eigentlich, weswegen ich mich von ihm löste und mich auf meinen Platz setzte. Ich verstand absolut nicht, was an Ergebnissen von Fußballspielen und anderen Sachen so interessant sein sollte.

Meine Mutter betrat die Küche und gesellte sich zu uns an den Tisch, nachdem sie sich noch einen Kuss von Papa abgeholt hatte.

Das Frühstück war bereits fertig.

Ich beschmierte mir schnell ein Brötchen und aß es dann zusammen mit einer heißen Schokolade, die ein absolutes Muss in meiner Morgenroutine war.

Endlich packte mein Vater die Zeitung weg und sah mich verschmitzt an: "Na, heute ist ja dein erster Schultag an der neuen Schule. Endlich keine Langeweile mehr! Freust du dich nicht?"

"Ach, Papa", seufzte ich und sah ihn mit dem typischen "Ist-das-dein-Ernst"-Blick an.

"Was denn? Man wird doch wohl fragen dürfen. Immerhin ist es keine Selbstverständlichkeit, in die Schule gehen zu können." Sein Grinsen wich immer noch nicht von seinem Gesicht.

"Du kannst ja gerne noch einmal in die Schule gehen und die ganzen Teste und Klausuren schreiben", konterte ich. Er wusste ja gar nicht, wie anstrengend die Schule mittlerweile war. Ständig war man mit Lernen und Hausaufgaben beschäftigt, also nichts mit Freizeit. Dass es an der neuen Schule anders seien sollte, bezweifelte ich. Immerhin begann mit der elften Klasse das Abitur, also stand bestimmt doppelter Stress an.

"Darauf verzichte ich, einmal im Leben reicht mir aus", lachte er und griff wieder nach seiner Zeitung.

"Außerdem hast du es doch bald geschafft", schaltete sich nun meine Mutter ein, "Es sind jetzt nicht mal drei Jahre mehr. Du hast es bis jetzt immer durchgehalten, also schaffst du den Rest auch noch."

"Zwar werden das die drei schlimmsten Jahre, aber das macht ja nichts", entgegnete mit einem sarkastischen Unterton. "Na gut, ich muss langsam los", fügte ich nach einem Blick auf die Uhr noch hinzu.

"Weißt du, wo du hin musst?", erkundigte sich Mama mit einem raschen Seitenblick. "Wenn nicht, kann Papa dich bestimmt noch schnell vorbeibringen, bevor er zur Arbeit fährt."

Ich sah Papas Augen entgeistert über den Rand der Zeitung hervorgucken, die er für kurze Zeit etwas gesenkt hatte.

"Nein, nein... Ich schaffe das schon alleine. Die Schule ist in der Friedrich-Schiller-Straße, also leicht mit dem Bus zu erreichen", beschwichtigte ich.

Mein Vater vertiefte sich wieder grummelnd in die Zeitung.

"Na gut, musst du wissen. Es war nur ein Angebot", erwiderte sie und begann den Tisch abzuräumen.

"Es geht schon. Aber Danke trotzdem", sagte ich und lächelte zu Bestätigung.

Mit diesen Worten verschwand ich erneut nach oben und kämmte meine noch leicht feuchten Haare durch, die in der Sonne aber sicherlich schnell trocknen würden. Zu guter Letzt packte ich noch Block und Federtasche in meinen Rucksack und verschwand mit einem: "Tschüss, bis später!" und einer letzten Umarmung für meine Eltern aus dem Haus.

Draußen merkte ich sofort, dass es heute warm werden würde. Es war gerade mal 7:00 Uhr und es waren jetzt schon laue Temperaturen. Das konnte ja ein Spaß werden. Aber wenn wir Glück hatten, würden wir in den nächsten Tagen vielleicht verkürzten Unterricht oder sogar Hitzefrei bekommen, wenn sich die Temperaturen weiterhin steigerten.

Da die Bushaltestelle nicht weit vom Haus entfernt war, war mein Weg dorthin entsprechend kurz und ich hatte auch Glück, dass in dem Moment, wo ich ankam, gerade ein Bus hielt.

Ich grüßte nickend den Busfahrer, zeigte ihm meine Fahrkarte und erwähnte, wo ich aussteigen musste.

Der Bus war relativ leer und deshalb verkrümelte ich mich gleich in die hinteren Reihen, die sonst immer als erstes besetzt waren.

Nach einer circa zehnminütigen Fahrt, hielt der Bus in der Friedrich-Schiller-Straße und ich stieg aus.

Das Schulgebäude war wirklich nicht zu übersehen, da es mindestens die Hälfte der angrenzenden Fläche besetzte. Es handelte sich um ein mehrgeschossiges, rechts und links nach hinten abzweigendes, rotes Backsteingebäude mit weißen Fenstern, das von beiden Seiten von ein paar Bäumen eingebettet wurde. Rechts neben dem Gebäude befand sich ein Parkplatz und hinter dem dahinter liegenden Mäuerchen vermutete ich den Schulhof.

Auf dem gepflasterten Platz vor dem Eingang scharten sich bereits kleine Grüppchen von Schülern, die sich sicherlich über die Erlebnisse in den Sommerferien austauschten.

Ich traute mich nicht, irgendjemanden anzusprechen, da ich nicht wusste, wer alles in meinem Jahrgang war und wer mir helfen konnte.

Also beschloss ich erst einmal, alles auf eigene Faust zu erkunden. Vielleicht gab es ja in der Eingangshalle eine Ausschilderung, an der ich mich irgendwie orientieren konnte. Zur Not müsste ich im Sekretariat nachfragen.

Drinnen entdeckte ich tatsächlich kurz hinter dem Eingang eine Pinnwand. Mein Blick schweifte über die angehefteten Zettel und blieb an einem hängen, der mit "Kursverteilung - Klasse 11" beschriftet war. Bingo! Anscheinend gab es vier Parallelkurse. Ich suchte meinen Namen. Nach langem Suchen, fand ich ihn unter Tutorium 11d, das anscheinend von einem gewissen Herrn Bittner unterrichtet wurde. In der oberen rechten Ecke war auch noch eine Raumnummer, OG 21, angegeben.

Seufzend machte ich mich auf den Weg, diesen Raum zu suchen, der wirklich überall sein konnte. Ich arbeitete mich vom Unter- bis zum Obergeschoss durch. Die Räume im untersten Flur waren anscheinend alle mit "UG", im mittleren mit "EG" und im oberen mit "OG" beschriftet.

So, jetzt nur noch die richtige Nummer finden. In die rechte Richtung wurden die Nummern größer, also noch einmal umdrehen und es mit der linken Richtung probieren. Auf beiden Seiten wechselten die Nummern immer zu nächst niedrigeren. Für mich im Moment kompliziert, später bestimmt ein Kinderspiel.

Die Flure füllten sich langsam und ich musste mich nun durch die Mengen drängeln, die sich alle vor bestimmten Räumen sammelten und warteten, bis der zuständige Lehrer aufschloss.

Das laute Klingeln der Schulglocke ließ mich zusammenzucken. Nun aber Beeilung!

Gerade rechtzeitig fand ich dann die OG 21 und schlüpfte schnell durch den Türspalt, als ein Mann mittleren Alters, dessen braune Haare schon von grauen Strähnen des Alters durchzogen wurden, sich bereit machte, die Tür des Raums hinter sich zu schließen.

Ich ließ meinen Blick über die freien Plätze schnellen und entdeckte eine Zweierbank in der letzten Reihe, wo noch niemand, bis auf ein Mädchen mit schwarzbraun gelockten Haaren, saß. Sie machte einen sehr zurückhaltenden Eindruck und wirkte einsam, aber trotzdem irgendwie sympathisch, weswegen ich mich sofort für diesen Platz entschied.

Ich eilte zu der Bank. "Es ist doch okay, wenn ich mich neben dich setzte, oder?", fragte ich mit einem kurzen Seitenblick. Ich wartete kaum ihr Nicken ab und ließ einfach meinen Rucksack neben dem Tisch fallen und kramte meinen Block und meine Federtasche raus.

"Ich bin Carmen", flüsterte ich ihr zu, da ich es einfach unhöflich finden würde, wenn ich mich nicht mal vorstellte.

"Michelle", flüsterte sie lächelnd zurück.

Der Mann mittleren Alters stellte sich inzwischen vor die Tafel. Ich vermutete stark, dass es Herr Bittner war. Wenn nicht, wäre das sehr sehr dämlich.

"Guten Morgen", ertönte seine tiefe Stimme.

"Guuuten Taaag", kam gelangweilt zurück.

Herr Bittner ignorierte das gekonnt und startete stattdessen sein Programm. "Also, die meisten von euch kennen mich ja schon. Ich bin Herr Bittner, Geschichts - und Sportlehrer und ab heute euer Tutor."

Er legte eine kurze Pause ein. "Ihr seid ab heute elfte Klasse und das bringt einige Änderungen mit sich. Erstens, mit diesem Jahr beginnt euer Abitur. Das bedeutet, dass jede Note zählt. Strengt euch also an! Da ihr nun zu den Ältesten gehört, habt ihr automatisch auch eine Vorbildfunktion für die jüngeren Jahrgänge. Zweitens, wie ihr bestimmt schon gemerkt habt, seid ihr nun verkurst. Das wiederum heißt, dass wir kein fester Klassenverband mehr sind, sondern in diesem Fall nur Geschichte und Sport zusammen Unterricht haben. Da jeder andere Leistungskurse hat, werden alle Schüler aus allen Kursen je nach Fach miteinander vermischt worden sein. Aber das solltet ihr ja bereits wissen."

Er kramte für kurze Zeit in seinen Unterlagen. "Ich würde euch gerne eure Stundenpläne austeilen, aber da ich hier noch ein paar neue Gesichter unter uns sehe, würde ich vorschlagen, dass wir uns alle gegenseitig kurz vorstellen. Dann notiere ich mir den Sitzplan und habe eure Namen gleich besser im Kopf."

Sein Blick ruhte auf uns. "Gut, jeder nennt seinen Namen und erzählt ein bisschen was über sich. Wenn derjenige fertig ist, ist sein Nachbar dran. Am besten wir fangen..."

Weiter konnte Herr Bittner nicht reden, denn er wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.

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