~4~
"Er hatte mich vor einer Blamage beschützt. Ich war ihm dankbar, hatte aber immer Angst, ihn anzusprechen. Ich meine, er war damals in der Oberstufe. Ich war ein einfaches vierzehnjähriges Mädchen. Erst nachdem er mich zum jährlichen Winterball einlud, konnte ich meine Angst überwinden und mit ihm reden. Dort kamen wir dann auch zusammen."
Der Mann vor ihr nickte interessiert. Er hatte während des ganzen Gespräches nicht einmal den Blick von ihr abgewendet. Die Hände sorgfältig vor sich gefaltet, seine Haltung war gerade und wirkte interessiert.
Er hatte ihr wirklich zugehört. Sie fühlte sich plötzlich um eine Last leichter. Sie fühlte sich befreiter als jemals zuvor. Auch wenn ihre Probleme noch alle da waren und nicht verschwunden waren, dachte sie nun, dass alles viel leichter werden würde. Der Fremde hatte recht gehabt, dass reden ihr helfen würde.
Da fiel Scarlett auf, dass sie ihm gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Er war bisher nur der Fremde oder der Mann gewesen. Sie kannten sich vielleicht nicht lange, aber sie wollte wissen, wer er war.
"Wie heißen Sie eigentlich?", fragte sie vorsichtig.
"Mein Name ist Jonathan Foley. Und Ihrer?"
"Scarlett Christensen."
Jonathan lächelte leicht und schüttelte den Kopf. Fragend legte die junge Mutter den Kopf zur Seite und sah ihn schief an. Mochte er ihren Namen nicht? Fand er ihn komisch? Am liebsten würde sie ihn fragen, doch sie traute sich nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er reagieren würde. Außerdem fand sie keine Frage, die irgendwie normal klingen würde, die auf dieses Thema zurückkäme.
Oder aber auch sie machte sich wieder mal zu viele Gedanken. Bestimmt verband ihn eine Erinnerung an den Namen. Erwähnte er nicht, dass er selbst mit dem Trinken angefangen hatte, weil er auch eine schlimme Zeit durchmachte? In Scarlett wuchs die Neugier. Sie wusste, dass dies ein sehr persönliches Thema war, aber schließlich hatte sie ihm auch ihr Herz ausgeschüttet. Aber wie sollte sie das Thema ansprechen? Scarlett wollte nicht einfach frei heraus mit der Frage kommen.
"Scarlett, du kannst ruhig Fragen." Verwundert hob sie den Kopf. Er konnte ihre Mimik verstehen. Er musste viele Gesichter gesehen haben um zu erkennen, dass sie nachdachte. So überlegte es sich Scarlett. Schließlich lächelte sie leicht und fragte: "Was hat dich dazu gebracht mit dem Trinken anzufangen?"
"Wow", brachte er kurz hervor und atmete tief ein und wieder aus. Scarlett lächelte schief. Sie schämte sich für die Frage und bereute sie. Er hatte sie zwar dazu aufgefordert, doch seiner Reaktion zu urteilen hatte er mit allem gerechnet, nur nicht damit. Diese Frage war dann doch zu persönlich gewesen.
"Meine Frau nahm sich nach unserer Hochzeit das Leben." Sie stockte in der Bewegung und sah Jonathan mit einer ernsten, erschrockenen Miene an. Sie hatte nicht mit einem so schlimmen Grund gerechnet. Sie hätte jetzt eher auf Trennung oder einer Affäre seiner Frau getippt, aber nicht an Selbstmord! Sie konnte nicht nachempfinden, was ihr Gegenüber gerade dachte, aber sie konnte es sich vorstellen. Es musste eine unendliche Leere ihn ihm sein, die immer und überall da war. Alles musste Erinnerungen an sie hervorrufen. Erinnerungen, die ihn ins Schmunzeln brachten, dazu brachten, den Kopf zu schütteln.
"Sie hieß Britney. Sie konnte nicht schwanger werden, deshalb wollten wir ein kleines Mädchen adoptieren. Sie hieß Scarlett."
Eine kleine Träne rollte über seine Wange. Auch Scarlett konnte sich eine kleine Träne nicht verdrücken. Es war schlimm, was Jonathan alles durchmachen musste. Sie wollte ihm einfach in den Arm nehmen und trösten. Sie wollte ihm zeigen, dass er nicht alleine war. Scarlett wollte ihm das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit geben.
"Nathan war ein Feuerwehrmann. Ich war nie mit dieser Berufswahl einverstanden. Ich hatte immer Angst, dass ihm was passieren könnte. Kurz bevor er einen Einsatz hatte, haben wir uns wieder gestritten. Ich wollte, dass er seinen Job kündigt und endlich etwas Sichereres macht. Ich sagte ihm, dass sein Sohn nicht ohne ihn aufwachsen sollte. Doch Nathan meinte nur, dass er nicht ohne Risiko leben kann und seinen Job braucht. Er küsste mich noch auf die Stirn und ging. Ein paar Stunden später klingelten seine Kollegen an meiner Tür und sagten, dass Nathan von einem fallenden Dachstuhl erschlagen wurde, als er ein Kind retten wollte."
Scarlett konnte sich nun nicht mehr zusammenreißen und weinte all ihren Kummer aus. Sie konnte einfach nicht mehr. Wie gerne würde sie alles ändern? Scarlett wollte ihm so vieles sagen! So vieles war noch unausgesprochen. Nie wieder würde sie sein Lachen hören, seine liebliche Stimme. Nie wieder würde sie sich an seine Brust schmiegen können, seine Hand halten oder über sein wunderschönes Gesicht streicheln.
Er war fort, für immer. Er würde nicht kommen und sie in die Arme nehmen. James würde nie seinen Vater sehen. Alles, was Nathan mit ihm machen wollte, könne er nun nicht mehr machen. Scarlett konnte nie wieder mit ihm reden.
Da spürte sie plötzlich zwei kräftige Arme, die sich um ihren Körper schmiegten. Jonathans Wärme zu spüren gab ihr Trost. Vielleicht auch Hoffnung. Aber dies konnte Scarlett noch nicht wissen, denn sie wusste nun, was sie tun musste.
Sie wischte sich mit ihrer freien Hand die Tränen aus dem Gesicht.
"Jonathan, ich muss gehen." Der Mann nickte und ließ sie los. Scarlett umarmte ihre neue Bekanntschaft innig. Sie dankte ihm für seine Hilfe. Auch wenn es nichts großes war, schätzte Scarlett sehr, wie aufmerksam er war. In den letzten Wochen hatte ihr niemand so gut zugehört. Es war, als wäre sie in einer Blase gewesen. Jeder achtete auf seine Worte oder mied das Thema. Aber bei Jonathan war eine gewisse Vertrautheit, die sie zu schätzen wusste.
Entschlossen verließ sie die Kneipe und machte sich auf den Weg zum Friedhof. Sie wollte mit Nathan Hayden reden. Alles sollte er erfahren, was er noch wissen sollte.
Sie kniete vor seinem Grabstein und strich vorsichtig über die weißen Blumen. In der Nacht strahlten sie und gaben dem Grab eine gewisse Aura von Frieden, Ruhe. Gelassenheit. Sie kniete schon seit einigen Minuten einfach nur dort und tat nichts. Zwar hatte sie sich vorgenommen mit ihm zu reden, doch als sie den Friedhof dann betrat, versagte ihre Stimme. Vielleicht war da die Angst, die ihr sagte, dass er sie nicht hören würde. Und die Unsicherheit, die ein ständiger Begleiter war. Warum bloß fiel es ihr so schwer? Sie musste doch nur zu einem Stein sprechen. Er würde ihr nicht mal antworten. Außerdem hatte sie beschlossen erst zu gehen, wenn alles gesagt war. Vorher hatte sie nicht vor zu gehen.
"Nathan", begann sie leise und zog ihr Hand langsam zurück, "ich vermisse dich. Ich weiß, du hörst mich nicht. Doch trotzdem will ich mit dir reden. Irgendwie." Sie schluckte und setzte sich nun im Schneidersitz auf den Boden. Es war zwar unerträglich kalt, doch Scarlett ignorierte diese Kälte.
"Du weißt nicht, wie sehr es mir leid tut! Ich hätte mich nicht streiten dürfen. Ich weiß, dass du alles gegeben hast, bevor du gegangen bist. Ich weiß, dass du... Nathan, ich weiß einfach nicht weiter. Ich habe das Gefühl, dass mein ganzes Leben zerstört ist. Du bist nicht mehr da. James vermisst dich und braucht dich. Wie soll ich ihm bloß erklären, dass sein Vater nun nie wieder kommt? Wie soll ich die ganzen Schulden abbezahlen ohne deine Hilfe? Wie soll ich James erziehen? Ich brauche deinen Rat. Bitte."
Scarlett konnte ihre ganze aufgestaute Trauer, Wut und Enttäuschung nicht mehr zurückhalten. Sie brach vor Nathans Grab zusammen und weinte. Alles, jeder kleinste Gedanke, alle Zweifel und Ängste kam aus ihr raus. Jetzt erst verstand sie richtig, dass Nathan nie wieder kommen würde. Jetzt realisierte sie, was war. Nathan war tot, Scarlett und sein Sohn James lebten. Die junge Mutter musste verstehen, dass nun dies ihr Leben war.
Zitternd sah sie zum Grabstein und lächelte schwach. Sie würde Nathan nicht enttäuschen. Er war in jeder Sekunde in seinem Leben mutig gewesen. Scarlett würde dies nun auch sein. Sie raffte sich langsam auf, ließ den Stein dabei nicht aus dem Augen.
"Ich liebe dich, Nathan Hayden!" Sie wand sich vom Stein ab und ging. Sie musste ihr Leben auf die Reihe bekommen. Zu lange hatte sie nichts getan, sich gehen lassen und alles ignoriert. Doch jetzt war alles anders!
Da spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Ruckartig drehte sie sich um, doch sie sah niemanden. Sie zuckte kurz mit der Schulter, doch dann sah sie etwas aus den Augenwinkeln. Es war ein Mann, der sie mit einem schiefen Lächeln ansah. Seine Haare hingen ihm leicht in seinem Gesicht. Er trug einen dunklen Smoking.
"Ich liebe dich, Scarlett Hayden", dann verblasste er durch einen leichten Windhauch. Scarlett wusste nun, dass Nathan immer an ihrer Seite war. Selbst wenn sie dachte, dass alles verloren war, war er bei ihr. Nathan war ihr persönlicher Schutzengel. Er war James' Schutzengel.
Nathan würde seine Familie niemals alleine lassen.
Mit diesem Gedanken ging Scarlett nach Hause. Sie hatte zwar noch einen harten Weg vor sich, doch nun war neue Hoffnung da. Hoffnung, die sie stark machte, alles schaffen zu können.
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