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"Mutter, es ist alles in Ordnung!", rief Scarlett in ihr Telefon, während sie versuchte ihren kleinen Sohn einen blauen Pyjama anzuziehen. Der kleine Junge strampelte mit den Füßen und zog sich so immer den Pyjama aus. Er hieß James, war ein aufgewecktes kleines Kind und war das freundlichste Wesen auf Erden, fand Scarlett.
Erst vor ein paar Wochen war er ein Jahr alt geworden.

"Scarlett, ich denke du brauchst mal eine Pause. Ich kann den Kleinen nehmen, während du dich mit deinen Mädchen vergnügst." Scarlett verdrehte die Augen, sagte aber nichts weiter dazu. Sie wusste, dass es nichts brachte mir ihrer Mutter zu diskutieren. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte oder eine bestimmte Meinung vertrat, blieb sie dabei. Scarlett hatte diese Angewohnheit auch, aber sie war nicht so ausgeprägt wie bei ihrer Mutter. Sie konnte sich auch anderen Meinungen beugen und diese von ihren Blickwinkeln betrachten. Wenn sie sich in die Lage ihrer Mutter versetzte, dann konnte Scarlett sie verstehen. Schließlich hatte sie seit Monaten selten das Haus verlassen. Meist gingen Freunde oder Familie für sie einkaufen und brachten James zum Kindergarten. Vielleicht sollte sie wirklich mal wieder mit ihren Freundinnen etwas unternehmen.

"Kannst du heute Abend auf James aufpassen?", fragte sie schließlich, leise und kaum hörbar. Innerlich hoffte sie, dass ihre Mutter keine Zeit hatte. Oder dass sie die Frage nicht verstanden hatte. Doch ihrer Mutter hatte für ihr Alter noch ein sehr intaktes Gehör. Gefühlt konnte sie sogar das leiseste Wispern hören, so empfand es Scarlett.

Von der anderen Leitung konnte Scarlett ein lautes Lachen hören. Verwirrt zog sie eine Augenbraue hoch, schüttelte aber dann nur den Kopf und nahm James auf ihren Arm. Seine kleinen Händen umarmten sie sofort. Scarlett strich James über seine dichten, wuscheligen Haare. Sie waren schwarz, so wie die seines Vaters.

Warum war er bloß gegangen? Sie hatte zwar gesagt, dass wenn er gehen würde, dass er es nicht wagen solle wieder Heim zu kommen, doch sie hatte es niemals ernst gemeint. Sie hatte ihn geliebt! Er war ihr Leben, ihr einziger Halt. Und dieser Halt war gegangen.

"Ich bin in einer halben Stunde da!", sagte ihre Mutter und legte auf. Scarlett seufzte kaum merklich, akzeptierte es aber. Ihre Mutter meinte es nur gut und wollten ihr helfen.
Sie drückte James noch einmal fest an sich und trug ihn in sein Zimmer. Er war leicht, und zappelte nicht herum, wie es manchmal der Fall war. Er schmiegte sich an seiner Mutter und war ruhig.

James' Zimmer war in einem hellen blau gestrichen. An den Wänden klebten lauter Poster von Piraten und Robotern, die er von Freunden geschenkt bekommen hatte oder aus Zeitschriften hatte. Auch selbst gemalte Bilder von seiner einst heilen Familie hatte er dort hängen. Scarlett konnte diese Bilder nicht ansehen. Sie erinnerte sie an die Zeit, die nie wieder kommen würde.
Vorsichtig legte sie ihren Sohn in sein Bett und deckte ihn zu. Damals hatte ihr Ehemann es immer gemacht. Es war sein und James' Ding gewesen. Noch vor acht Wochen hätte Scarlett sich beschwert, dass sie James nicht zu Bett bringen durfte. Heute wünschte sie sich, dass sie es nicht machen müsste.

"Daddy?", fragte James verschlafen und rieb sich über seine kleinen grünen Augen. Sie atmete langsam aus und gab dem kleinen Kind ein Kuscheltier, welches er sofort fest umarmte. Es war ein kleiner Koala, den er seit seiner Geburt hatte. Sie hielt nichts von Kuscheltieren, aber dieses war besonders. Ihr damaliger Ehemann hatte ihn gekauft, nachdem er von der Arbeit schnell ins Krankenhaus gekommen war.

Doch James sah sie jetzt fragend an, das Kuscheltier fest in seinen kleinen Armen.
"Daddy kommt bald nach Hause", sprach sie, küsste ihn auf seine Stirn und verließ sein Zimmer.

Sie hasste sich für jede Lüge, die sie ihrem Sohn erzählte. Sie hasste sich für jedes falsche Versprechen, was sie ihm machte. Aber wie sollte sie einem einjährigen Jungen erzählen, was Sache war? Er würde es doch nichts verstehen. Aber wann würde er es verstehen? Wann war es der richtige Zeitpunkt, ihm die Wahrheit zu sagen?

Sie raufte sich die Haare und
schlenderte in das einst gemeinsame Schlafzimmer. Das Bett auf seiner Seite war noch gemacht. Er hatte nicht mal in seinem Bett schlafen können.
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und sich in ihrem Hals ein fetter Kloß bildete. Wie gerne würde sie in die Zeit zurückreisen und ihm ihre Gefühle sagen. Alle Beleidigungen und Flüche zurücknehmen und ihn umarmen, küssen und sagen, wie wichtig er ihr war. Dass sein Sohn doch jemanden brauchte, der ihn in Sachen Frauen beriet und ihn die richtigen Tipps zum flirten gab.

Doch Scarlett wusste, dass das nun ihre neue Realität war. Vielleicht würde sich dies bald ändern, doch jetzt sah es aussichtslos aus. Wer wollte denn schon eine Frau mit Kind aus erster Ehe haben? Da gab ihr Handy ein kleines Geräusch von sich. Sie entsperrte es und sah, dass ihre Mutter ihr geschrieben hatte.
Sie seufzte, als ihre Mutter ihr schrieb, dass sie in einer Viertelstunde da sein würde. Vielleicht hatte Melanie Zeit, um sich mit ihr in einer Bar rumzutreiben?
"Nein, sie geht Essen", fiel ihr ein.

Sie würde sich später darum kümmern. Jetzt war es wichtig, dass sie sich einigermaßen zurecht machte. Wenn ihre Mutter sie so sehen würde, müsste sie sich noch einem Vortrag darüber anhören, wie schlecht es doch für James war, wenn sie sich so gehen ließ.

Sie wusste, dass es schlecht war, doch sie fand nie die nötige Motivation sich die Haare zu kämmen oder zu Duschen. Heute war sie da, wegen ihrer Mutter.
Sie kramte sich aus dem großen Kleiderschrank schnell irgendwelche Sachen zusammen und ging ins Badezimmer. Sie stellte sich unter die Dusche und stellte das Wasser an. Sie erschrak, als sie plötzlich ein kalter Strahl Wasser am Kopf traf.
Doch sie stellte das Wasser nicht auf eine wärmerer Temperatur. Die Kälte gab ihr die Möglichkeit abzuschalten, ihre jetzige Realität zu verlassen und frei zu sein. Es möge vielleicht albern klingen, aber so war es.

Sie wusch sich die Haare, rasierte sich und trat aus der Dusche. Sie fror nicht, ihr war aber auch nicht kalt. Sie war nun wieder in ihren Alltag getreten. Konnte das wirklich sein? Träumte sie vielleicht einfach?

"Er ist weg. Für immer", meinte die junge Mutter gedankenverloren und schüttelte den Kopf.
Scarlett trocknete sich ab, zog sich an und betrachtete sich im Spiegel. Ihre dunklen Haare hingen nass vom Kopf herunter. Ihre Augen sagen fahl und traurig aus. Da entdeckte sie ein heruntergefallenes Bild im Spiegel, das achtlos in einer Ecke lag. Verwundert schlenderte sie zur Ecke und hob es auf, zerriss es und spülte es im Klo herunter. Sie brauchte es nicht anzusehen um zu wissen, was darauf abgebildet war.

Sie stellte sich wieder vor den Spiegel und begann damit sich fertig zu machen. In nur wenigen Minuten würde ihre Mutter da sein, bis dahin musste sie zumindest fertig sein. Den Haushalt konnte hoffentlich ihre Mutter übernehmen. Ihre Haare föhnte sie trocken und kämmte sie zu einer halbwegs ordentlichen Frisur. Ihre Augen belebte sie mit Augentropfen, die sie von Celina bekommen hatte. Sie trat aus dem Bad, da klingelte es auch schon.

"Pünktlich wie immer." Sie öffnete die Tür. Sofort schob ihre Mutter sie zur Seite und ging geradewegs ins Wohnzimmer. Scarlett blieb verdattert stehen, überlegte kurz, was sie eigentlich wollte und schloss die Tür.
"Schätzchen, wie sieht es denn hier aus? Haben sich hier die Müllwagen entleert?" Scarlett rollte mit den Augen, zog sich die Schuhe an und nahm sich eine grau-blaue Jacke vom Haken. Wie viel hatte diese Jacke schon durchmachen müssen? Sie war ein Erinnerungsstück an die alte Zeit, die sie so genossen hatte. Und sie passte immer noch hinein.

Scarlett's Mutter kam zu ihr und betrachtete sie von oben nach unten. Sie wusste, dass ihre kleine Tochter längst eine junge Frau war, die auf sich selbst achten konnte, doch loslassen konnte sie nicht. Sie wusste, dass ihre Tochter sie brauchte, auch wenn sie es ungern zugab.

"Hab Spaß", meinte die alte Frau. Scarlett nickte abwesend und verließ das Haus.

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