III.
Überraschungen
Ida zog die Beine an und legte ihren Kopf auf den Knien ab. Stimmen sprachen miteinander und lachten vereinzelt auf. Von ihrem Stuhl aus beobachtete sie ihre Verwandten, die sich zuerst gegenseitig begrüßten und im nächsten Moment den neuesten Dorftratsch besprachen. Mit zusammengebissenen Zähnen vermied sie es, den Blick über ihre Häupter zu schwenken. Sie wusste genau, wie die Vögel aussahen und was sie die meiste Zeit machten. Je länger sie die Wesen beobachtete desto unangenehmer wurde es.
Das Gezwitscher mischte sich unter die normalen Stimmen, was einen piepsigen Brei ergab, der bei Ida Kopfschmerzen verursachte. Doch solange die Vögel nicht zu kreischen begannen, war es halbwegs erträglich. Am hässlichsten krächzte das Wesen, das über Tante Kiggi schwebte. Immer wenn es seinen Schnabel öffnete und sein Höllengeschrei ertönen ließ, liefen Schauder über Idas Rücken. Das über Onkel Zunu lachte kratzig und spuckte dabei. Cousine Elfas Vogel hingegen sah aus wie ein Flamingo und klang wie eine überdimensionale Grille.
Ida hob das Kinn, um nachzusehen, ob das Essen schon kam. Soweit sie es überblickte, waren alle Gäste zur Geburtstagsfeier ihres Vaters eingetroffen. Das Klirren der Sektgläser nahm ab, da die meisten bereits ausgetrunken hatten. Ihr Magen knurrte. Sie wollte endlich futtern. Das Glucksen eines blau-weiß gepunkteten Vogels ließ sie zusammenzucken und ihre Augen richteten sich auf Tante Silli. Diese griff nach ihrer Perlenkette und zupfte daran. Sie lehnte sich zu Onkel Blulu, ohne dass es jemand bemerkte.
„Sieht nicht so aus, als würde Elfas Freund noch kommen", flüsterte Tante Silli mit weit aufgerissenen Augen. Ihr Mascara bröselte ab und verschmierte die Haut unter ihren Augen. Ida richtete sich auf und spitzte die Ohren. Das gepunktete Wesen schüttelte sich bei den Worten seiner Besitzerin und fuhr sich mit dem Schnabel durch die blau-weißen Federn.
„Vielleicht haben sie sich getrennt", überlegte Onkel Blulu mit gerunzelter Stirn. Der kahle Vogel auf seiner Glatze war damit beschäftigt, nach Fusseln in der Luft zu schnappen. Seine gelben Augen starrten suchend in verschiedene Richtungen. Manchmal erwischte Ida ihn dabei, wie er an Onkel Blulus Kopfhaut zupfte.
„Das will ich doch hoffen", erwiderte Tante Silli spöttisch und ihr blau-weißer Vogel platzte vor Lachen. Zum Geschnatter stimmten sie und Onkel Blulu ein, woraufhin sich Idas Mundwinkel nach unten verzogen. Hoffentlich steckten sie mit ihrem Gepiepse nicht die anderen Wesen an.
Plötzlich betrat jemand das Zimmer und grüßte in die Runde. Alle Köpfe und Vögel drehten sich zum Eingang und verstummten geisterhaft. Ida blickte auf, um herauszufinden, was los war. Zum ersten Mal seit Langem war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen lassen können. Sie strich sich eine Strähne nach hinten und erkannte, dass ein junger Mann mit wuscheligen Haaren eingetreten war. Er trug weite Hosen, ein schlabbriges Hemd und hatte weder Schuhe noch Socken an. Sein Vogel war kunterbunt wie ein Papagei. Ida musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszukichern.
Auf einen Schlag begannen die Vögel aller Verwandten panisch zu kreischen. Es war, als schlugen sie Alarm. Ihre Schnäbel rissen sich weit auf, um möglichst laute Töne von sich zu geben und die Flügel flatterten wild. Idas Herz rutschte ihr in die Hose und sie presste sich ihre Hände auf die Ohren. In ihren Augen glitzerten Tränen auf. Das Bild vor ihr war verrückter, als sie es sich je vorgestellt hätte. Grässlich. Am liebsten wollte sie unter den Tisch krabbeln und im Erdboden versinken.
Der bunte Vogel über dem Mann mit den wuscheligen Haaren sagte nichts. Aus kugelrunden Augen beobachtete er seine Artgenossen, ohne etwas auf die wüsten Beschimpfungen zu erwidern. Der Typ streckte seine Hände in die Hosentaschen und nickte einigen zu, die ihn skeptisch beäugten. Ida mahlte mit ihrem Kiefer. Manchmal war es kaum greifbar, dass niemand etwas vom Lärm mitbekam. Die Geräusche bohrten sich wie Flaschenöffner in ihr Ohr. Meist blieb nach so einer Situation ein Sirren übrig, das sie bis in die Nacht hinein hörte. Diesmal befürchtete sie, dass es für immer bleiben würde.
Der Mann mit den ungeordneten Haaren schlenderte auf die Terassentür zu und begab sich ins Freie. In jenem Moment, in dem er hinter sich schloss, brachen alle Vögel ihr Geschrei ab. Die unbändigen Viecher verwandelten sich zurück zu zahmen Haustieren. Sie putzten ihre Federn und polierten ihre Schnäbel. Tante Sillis Vogel beobachtete den bunten Artgenossen noch einige Zeit durch das Fenster, aber danach wandte er sich ab und hob seinen Kopf wie seine Besitzerin stolz an. Onkel Blulu schenkte ihr ein steinernes Lächeln, das sie nicht erwiderte.
Ida kehrte aus der Höhle in ihren Gedanken zurück, in der sie sich innerlich verkrochen hatte. Sie reckte sich zaghaft und runzelte die Stirn. Die Gefahr schien vorbeizusein. Das Bedürfnis wegzulaufen, hatte sie dennoch nicht verlassen. Sie erhob sich und tappte zwischen den tratschenden Verwandten hindurch. Falls das Essen jetzt kam, interessierte es sie kein bisschen mehr. Der Hunger war verschwunden und würde nicht so schnell zurückkehren. Vor der gläsernen Terassentür blieb sie stehen und blickte hinaus. Müde sah sie in den Garten, als ihr Blick auf einen Schlag bei dem Mann mit den wuscheligen Haaren hängenblieb. Sie rieb sich die Augen.
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