II.
Angst
Idas Mutter hielt ihr Handgelenk so fest, dass es weh tat. Sie sog scharf die Luft ein und versuchte, mit dem Tempo mitzuhalten. Der Gehweg war leer, doch sie hielt ihre Augen offen. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, aber das war es auch. Ihr Heimatdorf war nicht gerade der größte Ort der Welt. Umso mehr packte sie die Neugierde, wenn sie an die Vögel der Spaziergänger dachte. Wie sie wohl aussahen? Hoffentlich lief ihnen jemand über den Weg. Das Blut floss nicht mehr zu ihrer Hand hindurch, doch sie unterdrückte den Schmerz und lehnte sich ein wenig zur Seite, damit sie um die Ecke sehen konnte. Das Klacken der hohen Schuhe ihrer Mama hallte an den Häusern wider.
Nachdem Ida gestern die Erkenntnis ihren Lebens gehabt hatte, wollten ihre Augen nicht mehr aufhören zu glänzen. Voller Erstaunen hatte sie festgestellt, dass auch ihr Vater und ihr kleiner Bruder einen Vogel hatten. Sie flatterten wild über deren Köpfe und piepsten hin und wieder etwas Verrücktes. Jeder sah anders aus. Der ihres Papas war feuerrot und sang temperamentvolle Lieder. Der ihres Geschwisterchens war hellblau und winzig klein. Er hatte nicht viele Geräusche von sich gegeben.
„Komm jetzt, Ida. Beeil dich ein bisschen", knurrte ihre Mutter. Der gelbe Vogel lachte sich tot und drehte sich im Kreis. Ein Lufthauch seiner Flügelschläge wehte ihr ins Gesicht und brachte sie zum Niesen. Sie schüttelte sich und passte ihr Tempo erneut dem ihrer Mama an. Diese schien über dieses Thema nicht gerne zu reden. Jedes Mal, wenn Ida auf den Kopf ihrer Mutter zeigte, senkte sie das Haupt und sah nach unten. Nie nach oben! Mit aller Kraft hatte Ida sie dazu bringen wollen, ein einziges Mal hinaufzublicken, aber sie hatte sich immer geweigert.
Nun waren sie unterwegs zu Doktor Trillili. Ihre Mutter hatte vorgeschlagen, dass Ida ihm von den Vögeln erzählte. Das würde sie aber nicht tun. Sie war die Einzige, die das hier verstand. Aus diesem Grund hatte sie beschlossen, die Sache für sich zu behalten. Erst mal würde sie die Wesen über den Köpfen der Menschen beobachten und ihr Verhalten erforschen. Ihre Augen blitzten auf, als sie in der Ferne einen Mann sah. Ein Spaziergänger. Je näher er kam desto besser erkannte sie die Gestalt über seinem Kopf.
Ida blinzelte zu ihrer Mutter. Sie schien in Gedanken versunken zu sein und den Typen gar nicht zu bemerken. Ihre Augen waren zu Schlitzen verengt und fokussierten in der Ferne das Ziel; die Ordination von Doktor Trillili. Das Mädchen presste ihre Lippen aufeinander und beobachtete den Vogel des Spaziergängers. Bis jetzt hatte sie nur die Wesen ihrer Familie und der Menschen im Fernsehen gesehen. Mit jedem der flügelschlagenden Tiere lernte sie etwas dazu. Ihre Augen begannen zu leuchten.
Der Mann war nur noch einige Meter entfernt, sodass Ida jede Feder des Vogels erkennen konnte. Leider sah er aus der Nähe nicht schön aus. Er war buckelig und besaß einen Hakenschnabel. Seine Farbe glich der grauen Hausfassade rechts von ihnen. Als der Spaziergänger an den beiden vorbeiging, kreischte das Wesen urplötzlich auf und fauchte den gelben Vogel ihrer Mutter an. Das Mädchen zuckte zusammen. Der Mann verströmte einen beißenden Alkoholgeruch, weswegen sie für den Bruchteil einer Sekunde den Atem anhalten musste.
Ida drehte sich nach hinten, doch ihre Mutter zerrte unnachgiebig an ihrem Handgelenk. Der graue Vogel und der ihrer Mama lieferten sich wilde Schreiduelle entgegen. Die beiden Wesen waren so verfeindet, dass sie gar nicht aufhörten, drohend zu krächzen. Das Mädchen zog den Kopf ein und schluckte. Der Lärm drückte sich in ihre Schläfen hinein und durchbohrte das Gehirn. Blitzschnell befreite sie sich aus dem Griff ihrer Mama und hielt sich die Ohren zu. Sie kniete sich nieder und presste die Augenlider fest zusammen. Aufhören. Das Gekreische musste aufhören.
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