I.
Erkenntnis
Bunte Vögel schmückten den Garten mit ihrem Gesang. Der Wind wehte in einem sanften Rhythmus durch die Blätter der Bäume. Dicke und dünne Äste tanzten fröhlich, als Ida ihre Fingernägel in die Rinde schob, um nicht hinunterzufallen. Ihre Beine bewegten sich kreisend, um ihrem Lieblingsplatz zu zeigen, dass sie das melodische Zwitschern genoss. Das kleine Mädchen wandte ihren Blick dem Himmel zu und strahlte ihm freudiger entgegen als die Sonne. Ein Lüftchen umschmeichelte ihr als Antwort durch ihre blonden Locken. Die Natur hörte sie, auch wenn ihre Mutter es leugnete.
Eine Horde bunter Singvögel flog wie aus dem Nichts in die Krone des Baums hinein, den Ida schon immer geliebt hatte. Wie aus dem Himmelreich gesandte Engel flatterten sie zwischen den Ästchen umher. Während sie die Wesen beobachtete, kribbelte ihr Bauch, als befänden sich Schmetterlinge darin. Die Vögel versuchten, sich mit ihrer Musik gegenseitig zu übertrumpfen. Am liebsten hätte Ida ihnen zugerufen, dass sie das nicht brauchten. Jede Stimme war auf ihre eigene Art und Weise einzigartig.
„Ida, wo steckst du schon wieder?", hörte das Mädchen ihre Mutter rufen. Ihr Kopf drehte sich überrascht in Richtung des Hauses. Die blauen Augen zwinkerten wild. Eigentlich waren Tante Silli und Onkel Blulu zu Besuch. Wenn sie zu ihnen kamen, tranken sie viele Tassen Kaffee und redeten stundenlang mit ihren Eltern. Es wunderte sie, dass ihre Mama das Kränzchen bereits so früh unterbrochen hatte.
„Ida, Schatz!", hauchte ihre Mutter empört. „Komm zu mir runter!" Sie stolperte durch die Wiese und machte einen Krach, woraufhin die Gruppe der bunten Vögel innehielt. Ihren anmutigen Gesang ersetzten sie durch Warnrufe und flatterten davon. Die Äste zitterten wie Wackelpudding. Ida sah den Tieren sehnsüchtig nach und überlegte, wie schön es sein musste, Flügel zu besitzen. Seufzend erhob sie sich und kletterte nach unten. Ihre Hände ergriffen einen Ast nach dem anderen. Sie kannte den Baum auswendig und könnte ihn sogar zu Mitternacht erklimmen.
„Sind Tante Silli und Onkel Blulu schon gegangen?", fragte Ida und klopfte sich an ihrem Hemd ab. Ihre Mutter taumelte mit ihren hohen Schuhen - die alles andere als gartenkonform waren -, die letzten Schritte auf sie zu und hockte sich vor sie hin. Sie hielt eine kleine Dose in der Hand.
„Ja, sie sind noch bei Cousin Henne eingeladen und trinken dort Tee", gab ihre Mama wieder. Sie verzog ihr Gesicht zu einer gequälten Miene. „Schatz, schau dir mal deine Knie an. Ganz trocken ist deine Haut mal wieder, ganz trocken. Kurz vor dem Aufreißen. Weißt du, das ist sehr unangenehm, wenn die Haut aufreißt. Sie könnte vielleicht sogar bluten!" Sie schraubte den Behälter auf und griff mit zwei Fingern hinein, um eine großzügige Portion Creme herauszuholen. Ein synthetischer Rosenduft kletterte in Idas Nase.
„Mama, meinen Knien geht's gut", wollte das Mädchen ihre Mutter beruhigen, doch sie hatte bereits begonnen, ihre Haut einzucremen. Ihrer Meinung nach war sie kein bisschen trocken. Sie konnte nämlich ausgezeichnet klettern, besser als alle anderen Kinder im Kindergarten. Sie verletzte sich so gut wie nie! Wenn doch, dann regte sich ihre Mutter schrecklich auf. Mit zusammengepressten Lippen beobachtete sie, wie ihre Knie mit der weißen Substanz eingerieben wurden. Da es viel zu viel war, zog die Creme nicht richtig ein. Die Stelle fühlte sich kalt und klebrig an.
„Man kann nie oft genug sicher gehen", erklärte ihre Mama und hob einen ihrer perfekt manikürten Nägel hoch. Sie schraubte die Dose erneut auf, woraufhin Ida ihre Stirn runzelte.
„Noch mehr?", frage das Mädchen. Ihre Mutter sagte nichts, sondern holte gefühlt die Hälfte des Inhalts heraus und begann erneut, ihre Haut damit einzureiben. Ihre Knie leuchteten unter der weißen Substanz ein wenig rosa auf. Die Creme sah so aus wie klebriger Leim. Ida legte den Kopf in den Nacken und atmete durch. Ihrer Meinung nach konnte man sehr wohl zu oft sichergehen. Wieso gab es sonst eine Mengenbeschränkung bei ihrem Hustensaft?
Ida richtete den Blick auf ihre Mutter und ihr klappte die Kinnlade herunter. Ein grellgelber Vogel flatterte über ihrer makellos frisierten Mähne. Es zwitscherte schrill, sodass Ida den Drang unterdrücken musste, sich die Ohren zuzuhalten. Sie wollte etwas sagen, doch ihr Mund war ausgetrocknet. Jedes Mal, wenn ihre Mutter den Kopf drehte, passte sich das geflügelte Wesen der Bewegung an. Als wäre es ein Geist, der sie verfolgte. Warum hörte Mama das ohrenbetäubende Gepiepse nicht?
„Mama, du hast einen Vogel", rutschte es Ida heraus und sie zeigte mit dem Finger darauf. Aus großen Augen starrte sie das leuchtend gelbe Vieh an, das über dem Kopf schwebte. Ihre Mutter hielt bei den Worten inne und starrte ihr Kind entsetzt an. Der Vogel quiekte empört auf, als ob er beleidigt wäre. In diesem Moment hatte Ida eine Erkenntnis. Sie hatte die Erkenntnis, dass nur sie das gelbe Wesen sehen konnte. Nur sie und niemand sonst. Nicht mal ihre Mutter, die gewöhnlich alles besser wusste.
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