Kapitel 9
Schon am nächsten Tag lud Keely die Emerson-Kinder auf den Farmwagen und fuhr mit ihnen zu dem Waisenhaus, in dem sie auch Rachi abgegeben hatte. Terry und Abbie plapperten zum ersten Mal seit vielen Tagen ungezwungen und fröhlich vor sich hin. Amilia, die vor Nervosität immer wieder mit der Hand über den Stoff ihres schwarzen Kleides glitt, hatte ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Keelys Gedanken fuhren Achterbahn. Mit einem halben Ohr lauschte sie den Stimmen der Kleinen und sagte ab und an etwas dazu, aber eigentlich dachte sie darüber nach, wie sie beim Anblick von dem Waisenhaus reagieren würde und was Callum zu ihrem Vorhaben sagen würde. Zudem machte sie sich sorgen um Amilia. Mattie hatte darauf bestanden trotz des Trauerjahres zu heiraten. Keely hoffte inständig, dass die Leute in Weston sich nicht das Maul darüber zerreißen würden, über eine so unschickliche Handlung. Unter anderen Umständen wäre auch sie dagegen, aber sie wusste, dass es das Beste war, wenn Amilia und Mattie nicht warten würden. Innerlich seufzte sie. Bitte, himmlischer Vater, lass alles gut werden. Gib den Leuten Verständnis für Amilia und Mattie und gib mir die Kraft für die mir bevorstehende Aufgabe. Amen.
Geschickt lenkte sie den Wagen in die Einfahrt des Waisenhauses. Ein hochgewachsener Mann öffnete das Tor für sie. Die Kinnladen von Terry und Abbie fielen wie auf Kommando gleichzeitig herunter. „Das Haus ist ja riesig!"
Keely lächelte und hielt den Wagen vor den Stufen, die zum Eingang hinaufführten. „Es wohnen immerhin beinahe sechzig Kinder in diesem Haus und dann gibt es auch noch eine Schule darin und vieles mehr. Vielleicht können wir es uns heute noch genauer ansehen." Elegant stieg sie vom Kutschbock und half Terry herunter. Abbie und Amilia sprangen mit einem Satz auf den Boden.
„Bevor wir da rein gehen", hielt Keely die drei Geschwister auf, „will ich, dass ihr mir etwas versprecht." Drei Augenpaare sahen sie erwartungsvoll und neugierig an. „Ich möchte niemals aus dem Mund von einem von euch dreien den Satz hören: Du hast mir gar nichts zu sagen, weil du nicht meine Mutter bist. Ich werde euch als meine eigenen Kinder ansehen und fände es schön, wenn ihr mich genauso respektiert wie eure richtige Mutter."
Amilia lächelte sie an. „Ich verspreche es dir."
Gott sei Dank! Wenn sie es tut, dann werden es die anderen auch tun.
„Ich verspreche es auch!", sagten Terry und Abbie wie aus einem Mund.
Keely lächelte strahlend. „Gut. Dann wollen wir also?"
Sie machte eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung des Einganges. Alle drei nickten und Amilia hakte sich bei ihrer Schwester und Keely ein. Keely schnappte sich noch Terrys Hand und dann betraten sie, nachdem ihnen auf ihr klopfen hin geöffnet wurde, das Waisenhaus.
Eine Welle der Gefühle überrollte Keely. Freude darüber, was gleich geschehen würde. Aufregung darüber, was Callum dazu sagen würde. Wehmut und Trauer, weil sie vor dreizehn Jahren Rachel hier hingebracht hatte, um sie nie wieder zu sehen. Bevor Keely an die Tür von Callums Büro klopfte schloss sie kurz die Augen. Lass Rachi los. Du bekommst jetzt eine neue Aufgabe, beschwor sie sich.
Endlich ballte sie ihre Hand zu einer Faust und schlug gegen die Tür.
„Herein!" Zaghaft drückte Keely die Tür auf.
„Hallo, Callum." Warum hörte sie sich nur so schüchtern an?
„Keely! Das ist aber eine Überraschung. Du kommst immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet." Lachend erhob sich Callum von seinem Stuhl und kam um den wuchtigen Schreibtisch herum.
Einige Dinge ändern sich nie.
Er streckte ihr beide Arme entgegen und schüttelte ihre zierliche Hand mit seinen beiden großen so doll, dass Keely dachte, er würde ihr die Hand ausreißen. Keely kam das alles wie ein Déjà-vu vor.
„Wie kann ich dir heute helfen?"
Sie lächelte ihn glücklich an. Dann drehte sie sich zu den drei Geschwistern um, die schüchtern vor der geschlossenen Tür standen und zu ihnen rüber blickten. Keely winkte sie heran. „Callum, das sind Amilia, Abbie und Terry Emerson."
Callum reichte jeden von ihnen die Hand und nickte ihnen freundlich zu. Die drei erwiderten seinen Gruß etwas scheu. Keely wollte gerade zu ihrer Erklärung ansetzen, als Callum ihr dazwischenkam. „Wollen wir uns nicht setzen? Ich habe zwar nicht für jeden von euch einen Stuhl, aber die beiden Damen könnten ja zumindest Platz nehmen." Fragend schaute er von Abbie zu Amilia und wieder zurück. Die beiden nickten und setzten sich, leise kichernd. Amilia zog Terry auf ihren Schoß und sah in Keelys Augen dabei viel älter aus, als sie eigentlich war. Callum ging zurück zu seinem Platz hinter dem Tisch und sah Keely auffordernd an. Sie stellte sich hinter Abbie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Irgendwie brauchte sie etwas woran sie sich festhalten konnte. „Die drei haben vor zwei Wochen ihre Mutter verloren und ich würde sie jetzt gerne bei mir aufnehmen."
Ungläubig starrte Callum sie an. Kaum merklich hob er eine Augenbraue. Bist du dir sicher, dass du das machen willst?, schien sein Blick zu fragen. Sie nickte. Er strich sich mit der Hand nachdenklich über seinen Bart und lächelte dann. „Ich glaube, das ist eine gute Idee. Du solltest in diesem großen Haus nicht alleine sein. Außerdem brauchst du Leben um dich und diese Kinder brauchen eine Mutter."
„Naja, Abbie und Amilia sind nicht mehr wirklich Kinder. Aber wir vier brauchen uns und wir haben uns alle lieb."
Wie zur Bestätigung legte Abbie ihre Hand über die von Keely, die noch immer über auf ihrer Schulter ruhte. Abbies Hand war eiskalt. Hatte sie Angst vor den nächsten Schritt oder war es nur Aufregung?
Callum lächelte jeden einzelnen von ihnen an. In seinen Augen stand noch immer ein Funken Überraschung. „Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich bin ein bisschen überwältigt." Er beugte sich etwas über den Tisch und faltete seine Hände darauf. Sein Blick, der Keely jetzt traf fragte: Was ist mit Rachel? Wissen sie von ihr? Erneut nickte Keely und er lehnte sich wieder zurück. Keely musste lächeln. Vor drei Jahren waren seine Frau Stella und er das letzte Mal in Weston gewesen. Seitdem hatten sie nur in engem Briefkontakt gestanden. Wie schön, dass sie sich noch immer ohne Worte verstanden!
Callum, erhob sich und zog einen Ordner aus dem Regal, dass hinter ihm stand. Als er sich wieder gesetzt hatte schlug er den Ordner auf und begann darin herumzublättern. Schließlich wurde er fündig, heftete mehrere Papierbögen aus und schob sie, den vor ihm Sitzenden hin. „Das müsst ihr euch durchlesen und unterschreiben – jedenfalls alle, die schon volljährig sind. Keely, du musst noch auf dem letzten Blatt unterschreiben und außerdem müsst ihr diese Formulare ausfüllen." Er schob noch weitere drei Bögen zu ihnen rüber. „In der Zwischenzeit hole ich Stella. Sie wird dich nicht, wie beim letzten Mal einfach so davonfahren lassen, Keely." Er lächelte und verschwand aus der Tür.
Amilia, die schon eifrig dabei war die Blätter durchzusehen schnaubte ungeduldig. „Puh, das sind schrecklich viele."
Keely machte eine wegwerfende Handbewegung. „Da wird schon nichts allzu Wichtiges drinstehen. Ich denke wir können einfach unterschrieben. Durchlesen können wir alles noch zu Hause." Erst unterschrieb Amilia und dann auch noch Keely. Sie lächelten sich an, als das erledigt war und begannen dann, die drei Formulare auszufüllen.
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Ein lautes Donnergrollen ließ Keely aus dem Schlaf schrecken. Schwere Regentropfen trommelten gegen die Fensterläden, an denen ein pfeifender Wind rüttelte. Durch die Ritze der Fensterläden hindurch drang das grelle Licht eines Blitzes. Das Licht warf unförmige Schatten. Ein weiterer Donner und der sofortdarauffolgende Blitz zeigten Keely, dass das Gewitter direkt über ihnen war. Sie erschauderte und ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Vater im Himmel, gib, dass kein Baum auf das Haus oder die Scheune fällt. Beschütze unsere kleine Stadt und die Menschen darin. Amen. Gut, dass sie noch rechtzeitig vor dem Regenguss zu Hause angekommen waren. Sie seufzte zufrieden, zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen.
Leise Schritte auf dem Flur ließen sie die Stirn runzeln. Wer von den Kindern spazierte denn jetzt durchs Haus? Sie lauschte angestrengt. Die Schritte kamen auf ihr Zimmer zu, verstummten und dann wurde ihre Tür ganz langsam geöffnet und ein dunkler Schatten huschte herein.
„Wer ist da?"
„Ich." Terrys Stimme triefte vor Furcht.
„Was ist denn, Schatz?" Sie stützte ihren Oberkörper auf ihre Ellbogen.
Terry trat näher und als ein weiterer Blitz das Zimmer erhellte, konnte sie die Angst in seinem Gesicht sehen. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Kinn bebte. „Kann ich bei dir schlafen? Ich fürchte mich vor dem Gewitter."
Keely lächelte und streckte ihre Hand nach ihm aus. Er setzte sich auf die Bettkante und ergriff sie. Seine kleine Hand war kalt und schmal. Sie schien in Keelys Hand ganz zu verschwinden. „Natürlich darfst du bei mir schlafen, aber du brauchst keine Angst vor dem Gewitter zu haben, weil Gott auf uns aufpasst. Er stellt immer seine Engel um uns, wenn wir in Gefahr sind. Immer so viele wie wir sie gerade brauchen."
„Stehen heute welche um unser Haus und passen auf, dass es nicht einstürzt?"
Wieder lächelte Keely liebevoll. „Ja, Terry. Und auch um deinem Bett stehen welche und bewachen deinen Schlaf. Wenn du einen Albtraum hast, dann halten sie deine Hand. Wenn du krank bist, streichen sie dir über die Stirn und bitten Gott dich schnell gesund zu machen. Gott und seine Engel sind immer bei dir. Ausnahmslos immer. Wollen wir zusammen beten, bevor wir schlafen, ja?"
„Mm-hm", machte er und sie schlug daraufhin die Decke beiseite, stellte sich auf ihre Knie und Terry kniete sich neben sie. „Allmächtiger Vater im Himmel, beschütze du uns in dieser Nacht. Stelle deine Engel um Terry, Amilia, Abbie und mich und um alle die wir lieben. Nimm Terry seine Angst und gib seinem Herzen tiefen Frieden. Amen."
„Amen", echote Terry kräftig und mit einem leisen kichern krabbelte er ins Bett. Keely kuschelte sich neben ihn, zog die Decke über sie beide und legte einen Arm um seine Schulter. Ein lautes Donnern und ein Blitz ließen Terry die Augen wieder öffnen. Er schaute zu Keely hoch und murmelte schon im Halbschlaf: „Ich habe keine Angst mehr. Die Engel sind ja da."
Sie drückte ihm zur Antwort einen Kuss auf den Scheitel und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Während Terry jetzt schlief, lag Keely noch wach, mit weit offenstehenden Augen in ihrem weichen Bett und dachte darüber nach, was sie Terry gerade erzählt hatte. Vor vielen, vielen Jahren hatte sie während eines Gewitters bei ihren Großeltern übernachtet und hatte eine Todesangst ausgestanden. Barfuß war sie ins Zimmer ihrer Großeltern getappt und hatte ihrer Großmutter, um sie zu wecken, gefühlte hundertmal auf die Schulter getippt. „Kannst du nicht schlafen, Liebes?", hatte diese gefragt und als Keely dies bejaht hatte, hatte Großmutter ihr dasselbe erzählt wie sie es heute Terry erzählt hatte. Sie liebte diese Vorstellung, dass sich eine Schar von Engeln in ihr Zimmer drückte und ihr beistand, wenn sie große Angst hatte. In jener Nacht hatte sie sich das, was ihre Großmutter ihr gesagt hatte, tief eingeprägt und seitdem nie mehr Angst bei einem Gewitter gehabt. Ein erneutes Lächeln kräuselte ihre Lippen.
Danke, Herr, für Großmutter und dass ich ihre weisen Worte an meinen Sohn weitergeben darf. Danke, dass du bei uns bist und danke für Terry. Amen.
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