Kapitel 6
Rachel
Arm in Arm schlenderten Madison Stuart und Catlen May Gillwater glücklich schwatzend durch die Felder am Stadtrand. Ihre Köpfe zierten feinsäuberlich geflochtene Blumenkränze. Auf Catis Walnussbraunem Haar lag einer aus Butterblumen und auf Maddies Zimtfarbenem einer aus Kamille. Die beiden Freundinnen hatten am Ende der Stadt eine wunderschöne Blumenwiese entdeckt und hatten dort heute ihren Nachmittag zugebracht. Zwischen den verschiedensten Blumenarten eingeklemmt saßen sie konzentriert über ihre Blumenkränze gebeugt und genossen die Stille. In den Bäumen, die die Wiese von der Stadt abgrenzten und somit bis jetzt verhindert hatten, dass jemand dieses Fleckchen Erde entdeckt hatte, zwitscherten die Vögel. Die beiden Mädchen hatten noch verträumt der Sonne beim Untergehen zugesehen und waren dann, mit ihren Blumenkränzen geschmückt, aufgebrochen.
Sie beide wussten, dass ihnen mächtiger Ärger bevorstand, aber sie hatten sich fest versprochen niemandem von der Blumenwiese zu erzählen. An einer Weggabelung – der eine Weg führte zu der Farm der Stuarts der andere zu der der Gillwaters – trennten sie sich.
Halb laufend halb hüpfend kam Cati zu Hause an. Mit einem etwas mulmigen Gefühl in der Magengegend schlüpfte sie ins Haus. „Guten Abend, junges Fräulein. Weißt du eigentlich wie spät es ist?", kam scharf die Stimme ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer.
Wie leise muss ich eigentlich sein, damit Mutter mich nicht hört, wenn ich nach Hause komme?
Zögernd trat Cati in die Zimmertür. „Nein, Ma'am." Beschämt sah sie zu Boden.
Mutter kam auf sie zu und legte die Hände auf ihre Arme. „Hör zu, Catlen May. Vater und ich begrüßen es sehr, dass du viel Zeit draußen verbringst, aber wir werden dich bestrafen müssen, wenn du es nicht endlich lernst, pünktlich nach Hause zu kommen. Wir machen uns Sorgen um dich, ist dir das überhaupt klar?"
Schuldbewusst sah Cati ihrer Mutter in die Augen und war ganz überrascht Tränen darin schimmern zu sehen. „Es tut mir leid, Mutter. Es wird nie wieder vorkommen."
„Das hoffe ich, du kleiner Racker." Mutter umarmte sie und Cati verbarg kurz das Gesicht an ihrem Hals.
Es war ein schönes Gefühl, das sie da überkam. Mutter machte sich Sorgen um sie und das bedeutete, dass sie sie liebte. Immerhin brachte ihre Versäumnis ihr diese wunderbare Erkenntnis und nahm ein wenig von ihrem Schuldbewusstsein. Sie wollte ja gar nicht frech sein oder gar ihren Eltern Sorge bereiten. Sie wollte ihnen Freude bereiten, aber sie schaffte es einfach nicht sich so zu verhalten, wie ihre Mutter es sich wünschte: nämlich wie eine Dame. Sie kam immerhin aus gutem Hause, dass führte ihr ihre Mutter immer wieder vor Augen. Doch obwohl sie brav sein wollte, hasste sie es sich an Regeln und Etikette halten zu müssen.
Vielleicht, so dachte sie oft, vielleicht sind Mutters Erwartungen einfach zu hoch oder ich zu dumm.
Jetzt kam Vater ins Zimmer und die beiden lösten sich voneinander. „Catlen May Gillwater, ich hoffe Mutter hat dir gehörig die Leviten gelesen."
Cati lächelte schief und nickte knapp.
„Na Gott sei Dank, dass es dir gut geht." Er kniff sie in die Wange. „Einen hübschen Kranz trägst du da."
Catlen strahlte zu ihm auf. „Den habe ich heute geflochten. Das sind Butterblumen."
„Hast du auch etwas gegessen, meine Butterblume?" Er blinzelte ihr zu. Kichernd schüttelte sie den Kopf. „Na dann komm, ich gebe dir etwas." Er legte seinen Arm um ihre Schultern und plappernd gingen Vater und Tochter in die Küche. Catis Fehler war verziehen.
Keely
Es wurde sehr spät an diesem Abend. Keely und Liljan waren müde und Keely sehnte sich danach in ihr Bett zu kriechen und in einen erquickenden Schlaf zu fallen.
Die Fahrt verlief still und Keely ließ den Abend Revue passieren. Obwohl sie sich gut mit Dianne und Liljan unterhalten hatte, hatte sie oft allein dagestanden, als Dianne nach Hause gefahren war und Liljan von einer Freundin oder Verwandten angesprochen wurde. Keely hatte keine Ahnung mehr, wie man sich mit anderen Menschen außer Di unterhielt –dabei waren die Anwesenden an diesem Abend nicht mal Fremde. Sie hatte eine Person nach der anderen gemustert, während sie still in der Menschenmenge stand. Jeden einzelnen kannte sie mit Namen. Sie sah sie alle jeden Sonntag im Gottesdienst. Mit einigen war sie zur Schule gegangen und war mit ihnen sogar per Du, andere waren neu dazu gezogen oder die Eltern oder Geschwister ihrer Altersgenossen, doch mit einem Mal merkte Keely, wie fremd ihr diese Personen in den Jahren ihrer Zurückgezogenheit geworden waren. Mit keinem stand sie auf wirklich freundschaftlichem Fuß. Sie alle hatten sie höflich behandelt, aber sich nie viel Mühe um sie gemacht. Sie mussten in ihr eine Frau sehen, die an ihrem Kummer und ihrer Trauer zerbrochen war und mit der man jetzt nichts anfangen konnte, weil sie nie ein Lächeln auf ihr Gesicht bringen konnte, weil ein wehmütiger Zug permanent um ihren Mund lag, weil sie nicht mehr so redselig wie früher war, weil sie nicht mehr Lachen und Scherzen konnte, weil sie ihre Lebensfreude verloren hatte. Keely hatte kaum gemerkt wie Tränen in ihr hochgestiegen waren. Tränen der Wut auf sich selbst und auf die Menschen, die sie so schnell aufgegeben hatten und denen sie eigentlich egal war. Tränen der Trauer um die schönsten Jahre ihres Lebens, die sie weggeworfen hatte. Tränen der Reue, dass sie immer in Selbstmitleid versunken war und nicht mehr an die anderen gedacht hatte. Schnell hatte sie sie hinuntergeschluckt und hatte einen zittrigen Atemzug getan und sich zu einem falschen Lächeln gezwungen. Stark sein. Nur noch wenige Stunden und es ist alles vorbei. Mit diesen Worten hatte sie sich Mut gemacht. Zu Hause würde sie weinen können, aber nicht hier. Auf dieser Feier hatten Tränen nicht hingehört.
Keely sah zum Sternenhimmel rauf und sog die milde Nachtluft ein. Sie hatte heute trotz allem so viel geredet und gelacht wie schon lange nicht mehr.
Danke, Gott. Danke, dass Liljan mich mitgenommen hat und ich wieder etwas unbeschwert sein durfte und danke für diese schönen Sterne da oben. Und danke, dass du auf mich aufpasst. Amen.
Ganz unverhofft musste sie wieder an das Gefühl der Verlorenheit denken, dass sich in ihr Herz geschlichen hatte, als sie so ganz allein in dieser großen Menschenmasse gestanden hatte und sich darunter keiner befunden hatte den sie hätte ansprechen können, weil sie alle plötzlich Fremde für sie waren. Sie schluckte.
Reiß dich zusammen, Keely. Wenigstens noch ein paar Minuten.
Endlich hielt Liljan den Wagen vor dem Gartentor zu Keelys Haus. „Danke, dass Sie mich mitgenommen haben, Liljan."
Die Frau des Doktors winkte ab. „Nicht der Rede wert. Danke, dass Sie mitgekommen sind. Das hat mir sehr viel bedeutet."
Das war zu viel für Keely. Sie brach in Tränen aus.
„Keely, meine Liebe, was haben Sie denn?"
Keely konnte nur den Kopf schütteln.
„Hat jemand Sie verletzt?"
Wieder schüttelte Keely den Kopf.
„Was ist denn dann mit Ihnen?"
„I-ich", schluchzte Keely.
„Hören Sie mal: Beruhigen Sie sich erst und dann sprechen Sie, ja?"
Keely nickte und ließ sich von Liljan in die Arme nehmen. Langsam versiegte der Tränenstrom und sie begann: „Ich kann nicht mehr die Gesellschaft anderer Menschen genießen. Ich kann nicht mehr glücklich sein. Gott will nicht, dass ich glücklich bin und deshalb versuche ich es auch erst gar nicht. Er hat für mich ein Leben in Einsamkeit bestimmt, damit ich für meine Sünden büße." Sie verstummte. Das alles hatte sie doch niemals jemanden sagen wollen! Was war nur in sie gefahren, dass sie sich der Frau ihres Arbeitgebers öffnete?
„Aber Keely! So einen Unfug habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Kommen Sie, wir gehen in Ihr Haus, damit wir ungestört reden können, in Ordnung?"
Keely nickte, auch wenn sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte. Liljan verstand sie nicht. Wie könnte sie auch? Niemand verstand sie, weil niemand in ihrer Situation war. Liljan bugsierte sie in den Morgensalon und drückte sie auf ein Sofa.
„Sie sollen nicht denken, dass ich Sie nicht verstehe, Keely, das tue ich sehr wohl, aber Ihre Denkweise ist schlicht und einfach falsch. Gott liebt Sie so wie Sie sind. Wenn Sie gesündigt haben, dann müssen Sie ihn um Vergebung bitten und dann ist die Schuld von Ihnen genommen. Sie müssen nicht selbst für Ihre Schuld bezahlen, weil Jesus das am Kreuz schon längst für Sie getan hat, verstehen Sie?" Das ergab Sinn. War es nicht das was Pastor Jones auch immer wieder im Gottesdienst klar und deutlich sagte?
„Aber warum ist Dereck dann gestorben, wenn nicht als Strafe für meine Sünden?" Sie sah der Doktors Frau in die Augen.
„Hm... Ich glaube das Naheliegendste ist folgendes: Gott möchte Sie formen und verändern. Er möchte Ihnen zeigen, dass er ein Fels im Sturm ist. In allem Leid ist er da und aus all diesem Leid gehen wir stark bereichert hervor. Aber genau, kann das natürlich niemand sagen."
Keely nickte schwach.
„Gott lässt und mit unserer Sünde nicht einfach stehen. Er gibt uns immer wieder eine neue Chance. Eine Chance besser zu werden, seine Stimme deutlicher zu vernehmen, immer besser darin zu werden ihm zu vertrauen und unsere Entscheidungen mit ihm zu besprechen. Gott hat nur gutes mit uns im Sinn. Wir müssen ihm einfach nur vertrauen und die Wege gehen, die er uns führen will."
Warum hatte sie damals nicht Gott gefragt? Sie hatte einfach geglaubt, dass er Dereck und sie zusammengeführt hat, aber sie hatte nicht im Gebet um diesen Punkt gestanden und das muss ein Fehler gewesen sein. Außerdem hatten sie den Willen ihrer Eltern ignoriert. Wenn sie nur gewartet hätten... Wenn sie nur auf ihre Eltern gehört hätten! Immer mehr Tränen strömten über ihre Wangen. Ich bin selbst schuld an meinem Schicksal!
Keely seufzte. „Dereck ist also nicht gestorben, weil wir ohne den Segen meiner Eltern geheiratet haben?", fragte sie kleinlaut. Endlich sprach sie es laut aus, in Gegenwart einer fast fremden Frau.
Mrs Dondsen zuckte die Achseln. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es kann sein, dass er etwas anderes damit bezwecken wollte. Eines Tages wird alles seinen Sinn ergeben. Vielleicht werden Sie es erst verstehen, wenn Sie schon im Himmel sind, vielleicht aber auch schon hier auf der Erde. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit (1Joh.1,19). Denken Sie immer daran, Keely. Gott will, dass wir glücklich sind. Er ist unser Vater und ein Vater wünscht sich auch, dass seine Kinder glücklich sind. Wenn die Kinder glücklich sind, dann ist der Vater es auch, verstehen Sie?"
Das musste Keely erst verdauen. Es machte alles Sinn, was Liljan sagte und sie wollte es von ganzem Herzen glauben. „Liljan, ich habe fast ein ganzes Jahrzehnt meines Lebens sinnlos verschwendet." Ihr Kinn zitterte und neue Tränen quollen aus ihren Augen.
„Ja, aber jetzt ist es vorbei und Sie werden Ihr Leben wieder genießen und alles nachholen, was Sie versäumt haben."
Keely fühlte sich zu Liljan in diesem Moment sehr hingezogen. Ihre Offenheit war erfrischend und wärmte ihr Herz. Ungelenk wischte sie sich ihre Tränen ab. „So wie Sie reden, könnten Sie die Frau eines Pastors sein."
Liljan lachte. „Diese Möglichkeit hatte ich wirklich, aber behalten Sie das für sich. Vielleicht erzähle ich Ihnen die Geschichte einmal, wenn es Sie denn interessiert."
„Es interessiert mich sehr. Ich habe Sie und Gemeinschaft generell nötiger als ich je gedacht hätte."
„Ich nehme das Angebot nur zu gerne an. Aber eine Bedingung habe ich." Ernst blickte sie in Keelys Augen und diese fragte sich was jetzt kommen mochte. Über Liljans Gesicht huschte ein schalkhaftes Lächeln. „Wir sagen Du zueinander."
Keely lachte beherzt auf. Ein echtes, freies Lachen. „Na wenn es weiter nichts ist. Ich denke, damit komme ich zurecht." Und jetzt fühlte sie sich nicht länger wie eine alte Frau, sondern wieder jugendlich und frisch.
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