Kapitel 4


1890

Rachel

Williams Augen funkelten belustigt während er ihr den Wurm vor die Nase hielt. Catlen May wich angeekelt zurück und zog eine Grimasse. William lachte. „Du hast ja richtig Angst, Cati." 

„Habe ich gar nicht. Ich finde es einfach nur ekelhaft und der Wurm tut mir leid." 

William lachte. „Wenn du keine Angst hast, dann nimm ihn doch in deine Hand." 

Entrüstet schüttelte Catlen May den Kopf. „So etwas machen Mädchen nicht." Wenn Mutter das erfährt...

William grinste schief und drehte sich zu den Mitschülern um, die sich als Zuschauer in einem kleinen Kreis um sie versammelt hatten. „Ladys, wer von euch traut es sich diesen Wurm in die Hand zu nehmen?" 

Cati verdrehte die Augen. „Na gut, William Karp, gib mir den Wurm." Ich werde dir schon zeigen, dass ich keine Angst habe. 

Williams Grinsen wurde noch breiter und er trat wieder auf sie zu. Sie streckte ihm die Handfläche entgegen. In ihr sträubte sich alles dagegen das glitschige, dreckige Ding anzufassen, aber sie musste es tun, um nicht für immer die Zielscheibe für Williams Gespött zu werden. 

„Bitte sehr, Catlen May Gillwater", sagte Will während er den Wurm in ihre Hand fallen ließ. 

Ein Schauer schüttelte Cati und unwillkürlich schloss sich ihre Hand um das glibberige Lebewesen. „Bäh!" Sie riss ihre Faust wieder auf und warf den Wurm zu Boden. Angewidert schüttelte sie ihre Hand und sprang auf und ab. „Das ist so widerlich!" 

Die Umstehenden lachten. „Ich sagte doch, dass du Angst hast. Catlen May ist ein Angsthase! Catlen May ist ein Angsthase!", sang William und einige andere stiegen mit ein. 

Wütend funkelte Cati jeden von ihnen an und kniete sich hin, um den Wurm zu suchen. Dieser hatte sich schon zur Hälfte in der Erde verkrochen. Mutig zog Cati ihn wieder heraus und streckte ihn triumphierend William entgegen. „Bin ich jetzt immer noch ein Angsthase?"

Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breitbeinig hin. „Nein, jetzt nicht mehr." 

„Ich hatte keinen Augenblick Angst, das sagte ich doch schon, aber du traust es dich nicht, William Karp, diesen Wurm zu essen, stimmts oder habe ich recht?" 

Williams Kinnlade fiel herunter und er starrte sie an, als verstände er sie nicht richtig. Hinter Cati schnappten einige nach Luft. „Du hast richtig gehört, Will. Ich fordere dich dazu auf diesen Wurm zu essen, sonst bist du der Angsthase." Sie warf einen flüchtigen Blick zu ihren Klassenkameraden, um zu sehen wie sie reagierten. 

„Tja, Will, jetzt musst du deine große Klappe verteidigen", spöttelte einer. 

„Halt mal lieber deine eigene! Ich bin doch kein Vogel, Cati." 

Nachdenklich schaute Catlen May auf den Wurm. „Also gut, ich will nicht, dass du wegen mir Bauchschmerzen bekommst, aber du sollt ihn einmal ablecken und ihn dann für... fünf Sekunden in den Mund nehmen." 

„Das ist gerecht." Madison Stuart stand selbstverständlich auf Catlens Seite. 

„Wenn du es dir nicht traust William -" „Ist ja schon gut. Ich mach's." Er klaubte den Wurm aus Catlen Mays Hand und begann mit hochrotem Gesicht den Wurm abzuschlecken. Es sah widerwärtig aus, aber dennoch hingen alle mit ihren Augen an diesem Bild. 

„Das ist so ekelig!", rief Florence Drace und sprach damit die Gedanken aller aus. 

Einige Jungen begannen jetzt William anzufeuern, während er noch einmal tief durchatmete und dann den Wurm in seinen Mund stopfte. „Iiiih", kreischten gleich mehrere der Mädchen und sogar Catlen May verzog angewidert das Gesicht. Bis jetzt hatte sie noch keine Gefühlsregung deutlich werden lassen, aber jetzt konnte sie ihren Ekel nicht verbergen. 

Madison sprang herbei und öffnete Williams Hände, die er vor Anstrengung zu Fäusten geballt hatte, um zu prüfen, ob der Wurm auch wirklich nicht mehr darin war, während die anderen laut bis fünf zählten. Kaum war die Zeit um da spuckte William den Wurm aus und hustete und keuchte. Alle applaudierten. 

Madison beugte sich hinunter, um nachzusehen, ob der Wurm wirklich erst jetzt in Freiheit entlassen wurde. „Du hast nicht betrogen. Ich gratuliere dir, William." Sie streckte ihm die Hand entgegen und er schüttelte sie stolz. 

„Natürlich hat er nicht gelogen", pflichtete Florence Maddie bei. „Ich habe doch gesehen wie der Wurm aus seinem Mund flog." 

Auch Catlen May hatte das gesehen und sie gratulierte Will jetzt ebenfalls. Auch die anderen schlugen ihn anerkennend auf die Schulter oder streckten ihm ihre Hände entgegen. Williams Gesicht verlor allmählich seine röte und er begann breit zu grinsen. „Jetzt muss ich erstmal was trinken." Er flog hinter das Schulhaus, wo die Wasserpumpe stand, um seinen Mund auszuspülen und seinen Durst zu löschen. 

„Cati, du hast echt Nerven ihm so eine Aufgabe zu stellen", lachte Maddie und legte einen Arm um ihre Schultern. 

Catlen grinste. „Er hat angefangen und ich habe ihm einfach nur das zurückgegeben, was er verdient hat. In doppeltem Maße." Die beiden lachten. 

„Sah sein rotes Gesicht nicht köstlich aus? Ich weiß, es ist nicht gerade nobel sich über die Leiden anderer lustig zu machen, aber das-" Madison lachte. „Diesen Tag werden wir bestimmt nie vergessen; was meinst du Cati?"

Catlen zwickte ihrer Freundin in den Arm. „Ich meine, dass du recht hast - so wie praktisch immer." 

„Danke für die Blumen." 

Die beiden schlenderten über den Schulhof und gelangten an die Wasserpumpe, an der William immer noch stand und seinen Mund ausspülte. 

„Na, immer noch den Wurmgeschmack im Mund?", spöttelte Cati. 

William sah sie an und verzog das Gesicht. „Wenn du es genau wissen willst: Ja. Mach so etwas nie wieder Catlen May Gillwater, klar?" 

Cati verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer hat denn angefangen? Du hast mich zuerst herausgefordert, da ist es doch logisch, wenn ich es auch tu." 

„Du solltest einfach nur beweisen, dass du keine Angst hast." Catlen verdrehte die Augen. „Ich habe keine Angst vor Würmern. Außerdem solltest auch du deinen Mut beweisen, also sind wir Quitt. Frieden?" Sie streckte ihm die Hand hin. Er musterte diese kurz und schlug dann mit dem Wort: „Frieden" ein.

Keely

Keely saß am Schreibtisch im Vorzimmer der Praxis und beugte sich über den Papierkram, den sie bis heute Abend noch erledigen wollte. Sie runzelte die Stirn, um die Handschrift des Doktors zu entziffern, als die Tür, die zu den Wohnräumen der Dondsens führte, geöffnet wurde und Liljan, die Frau ihres Arbeitgebers, hereintrat. 

Keely sah auf und lächelte die Dame gezwungen freundlich an. „Guten Tag, Mrs Dondsen." 

„Guten Tag, Mrs Brownan. Hat mein Mann gerade einen Kranken zu verpflegen, oder kann ich hinein?" Sie deutete auf die Tür, die zum Behandlungszimmer führte. 

„Es ist gerade niemand da. Der Doktor bereitet sich gerade für Hausbesuche vor." Mrs Dondsen runzelte die Stirn. 

„Mehrere?" Keely warf einen Blick in den Terminkalender von ihrem Arbeitgeber. Heute Morgen noch hatte er zwei weitere Personen in das Feld für den heutigen Tag eingetragen. „Ja, mehrere und zwischendrin hat er noch eine kleine OP." 

„Dieser Gauner", murmelte die Frau des Doktors und ging in das Behandlungszimmer. Keely hörte noch wie sie sagte: „Jeb Dondsen, glaub ja nicht, dass ich deine Schummeleien nicht entdecke." 

Keely musste schmunzeln. Liljan, die Frau des Doktors, liebte Gesellschaften über alles, während ihr Mann sich immer wieder um dieselben drückte. Ob seine Frau ihn heute überreden könnte? Keely bezweifelte es, aber dachte nicht länger darüber nach. Sie beugte sich wieder über ihre Arbeit.

Es dauerte nicht lange und da wurde Keely wieder unterbrochen. Das Ehepaar kam aus dem Behandlungszimmer. Doktor Dondsen nickte ihr noch zu und verabschiedete sich. Mrs Dondsen blieb vor Keelys Schreibtisch stehen und sah ihren Mann hinterher. Kaum war dieser aus der Tür, da seufzte sie. „Ich frage mich, wie man seine Arbeit so lieben kann. Er hasst den Trubel bei großen Gesellschaften, aber mag den Stress, der mit seiner Arbeit verbunden ist. Man könnte meinen, dass er nicht nur ein Mensch ist, sondern gleich mehrere auf einmal." Liljan lachte kurz glucksend. Keely zwang sich erneut zu einem Lächeln. 

„Wissen Sie, meine Liebe", fuhr die redselige Frau fort, „Er hat sich um den Geburtstag heute Abend gedrückt. Dabei ist es doch seine Tante, die heute Abend ihren fünfzigsten Geburtstag feiert. Alleine möchte ich auch nicht hin. Sagen Sie, Mrs Brownan, Tante Elenor wird Sie doch sicher auch eingeladen haben, oder? Sie lädt ja immer die ganze Stadt ein, wenn sie eine große Gesellschaft gibt. Kommen Sie doch mit. Ich sehe Sie immer nur fleißig am Arbeiten. So kann man doch nicht das Leben genießen. Also, kommen Sie?" 

Alles in Keely sträubte sich. Natürlich war sie eingeladen worden und Dianne hatte eine halbe Stunde auf sie eingeredet, um sie zum Mitgehen zu bewegen, aber Keely war hart geblieben. Gesellschaften waren für sie die reinste Qual. Alle wuselten in auffälliger Kleidung herum, lachten und amüsierten sich. Keely konnte das nicht. Sie hatte verlernt was es war unbeschwert zu Lachen und einfach nur zu Leben und glücklich zu sein. Sie verkroch sich lieber in einem Haufen Arbeit oder hinter einem Buch. Dianne und Andy versuchten alles sie aufzumuntern, aber Keely hatte das Gefühl, dass ihr Leben nie mehr so werden würde wie es war. Immer wieder versuchte sie das Di klarzumachen, aber diese wollte in dieser Hinsicht gar nicht mit sich reden lassen. Einmal, als Keely wieder eine Einladung abgeschlagen hatte, hatte Dianne zornig ausgerufen: „Werf' dein Leben doch nicht weg, Keely! Auch Dereck würde wollen, dass du weiterlebst und nicht, dass du dich hier in deinem Haus versteckst, wie in einem Bunker." Sie hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war nach Hause gegangen. Keely war daraufhin hin- und hergerissen gewesen, hatte sich aber trotzdem nicht aus ihrem Schneckenhaus gewagt. Zu der Gesellschaft war sie dann doch gegangen, aber es war ihre letzte für lange Zeit gewesen.

Jetzt bat diese fast fremde Frau sie um ihre Begleitung. War das ein Fingerzeig Gottes? Sie räusperte sich und lächelte scheu. „Ich werde nicht gerade eine gute Gesellschaft sein, aber wenn Sie mich schon so freundlich bitten, dann komme ich mit. Soll ich Sie abholen?" 

Ein erfreutes Lächeln erhellte Liljans Gesicht. „Papperlapapp. Ich hole Sie ab. Pünktlich um zehn vor sechs stehen Sie bitte vor Ihrer Haustür." 

Fast hätte Keely widersprochen, dass sie niemals zehn Minuten von ihr zu dem Haus von Tante Elenor brauchten, aber unterlies es dann lieber. Sie nickte nur. „Ich werde bereit sein."

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