Kapitel 37
Rachel
Abbie hatte Cati zum Tee eingeladen, da Keely heute in der Praxis arbeiten musste. Gemeinsam hatten sie mit den Kindern gespielt und als Missy und Theo dann ihren Mittagsschlaf machten. Saßen sie gemütlich in der Küche am Tisch, tranken Tee und plauderten über alles Mögliche. „Abbie, darf ich dich was fragen?"
„Natürlich. Ich werde dir ehrlich antworten."
„Danke." Sie räusperte sich.
„Weißt du, warum Keely immer Kleider trägt, die dunkle Farben haben?"
Abbie senkte den Blick und starrte in ihren Tee, als müsse sie ganz gut überlegen, wie sie antworten sollte. Jetzt sah sie hoch und blickte ihrer Schwester fest in die Augen. „Weißt du, Rachel, Ma hatte Dereck über alles geliebt und dich auch. Ihr wart ihr Leben und an nur einem Tag wurdet ihr beide ihr geraubt. Als Dereck starb ist ihre Welt zusammengebrochen. Sie konnte sich nicht allein um dich kümmern und hat dich einige Tage später zur Adoption freigegeben. Sie hat viele Jahre getrauert und zum Zeichen dafür nur schwarze Kleider getragen. Das hat den Leuten zwar nicht gefallen und auch potenzielle Verehrer abgeschreckt, aber es war ihr egal. Sie war in einer Wolke der Trauer gefangen, so hat sie es einmal beschrieben. Als sie uns dann adoptiert hat, wurde sie ein wenige getröstet und Abwechslung und Licht kamen in ihren Alltag. Von da an hat sie angefangen auch braun und dunkelblau zu tragen, aber sie helle Sachen, auch im Sommer nicht. Für uns war es immer ein Zeichen, dass sie Dereck und dich über alles liebte und noch immer liebt und euch immer in ihrem Herzen getragen hat, tagein tagaus. Nur an den Hochzeiten von Abbie und mir hat sie sich hellgrüne Kleider angezogen, sonst nicht."
Diese Antwort stimmte Rachel nachdenklich. Ihr wurde immer mehr bewusst, was ihre wahre Mutter durchgemacht hatte, wie sehr sie gelitten hatte und wie sehr sie sie liebte. Sie hatte dafür Zeichen gesetzt, hatte sich Dinge angewöhnt, um an sie zu denken und sie zu ehren – in gewisser Hinsicht. „Danke, Abbie. Es bedeutet mir sehr viel das zu wissen."
Abbie lächelte leicht. „Ist gern geschehen."
„Wenn wir schon bei Kleidern sind, weißt du schon, welches du an meiner Hochzeit tragen möchtest?"
Abbie erhob sich lächelnd. „Komm mit und sieh dir meinen Kleiderschrank an. Ich bin ratlos, was das betrifft."
Sie gingen in Abbies Schlafzimmer und Cati guckte ihre Kleider durch. Ein bewunderndes Lächeln erhellte Catis Gesicht als sie ein wunderschönes Kleid erblickte. Sie holte es heraus und strich über den weichen, feinen Stoff. „Dieses Kleid ist exquisit. Zieh es an, Abbie. Ich muss sehen, wie du darin aussiehst."
Cati reichte ihrer Schwester das Kleid und diese verschwand damit hinter ihrem Paravent. Mit einem unsicherem lächeln trat sie eine Minute später wieder hervor und besah sich im Spiegel. „Oh, Abbie! Du siehst aus wie eine Königin!"
Abbie lachte. „Wo siehst du an mir etwas königliches?" Sie fuhr mit der Hand präsentierend in der Luft ihr Spiegelbild auf und ab.
Das beige Kleid hatte einen Glockenschnitt und war mit feinen Rüschen verziert. Lächelnd löste Rachel die Agraffe Brosche, die sie trug, von ihrem Kleid und steckte sie ihrer Schwester an. Dann trat sie einen Schritt zurück und schaute über Abbies Schulter in den Spiegel. „Sieh genau hin. Es ist nicht nur dieses Kleid, dass dir etwas Würdevolles gibt, sondern auch deine Haltung und deine Ausstrahlung. Alles, was du tust, tust du mit einer beneidenswerten Sicherheit. Außerdem strahlst du immerzu Friede und Freude aus."
Ein ernster, gequälter Ausdruck trat in Abbies Augen und sie trat vom Spiegel weg. Sie setzte sich auf das große Ehebett und blickte Rachel müde an. Diese war ganz überrascht von dem plötzlichen Umschwung, der Stimmung ihrer Schwester. Sie setzte sich neben sie und fragte besorgt: „Was ist los?"
Abbie heftete ihren Blick auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. „Es war nicht immer so. Ich... Eine Zeit lang... Willst du es wirklich wissen, Rachi?"
Sie sah wieder auf. „Ja. Sag mir, was gerade in dir vorgeht."
„Es kann aber lange dauern", warnte Abbie schwach lächelnd.
Rachel winkte ab. „Ich habe Zeit."
„Also gut", sie setzte sich aufrecht hin, „wie du schon weißt, sind Amilia, Terry und ich von Keely adoptiert worden. Unser Vater war... grausam – und das ist noch milde ausgedrückt. Er hat Mama nur auf Grund ihres Geldes geheiratet. Nach einiger Zeit war er so geldgierig, dass er angefangen hat, um Geld zu spielen. Dabei wurde er nicht nur zum Säufer und noch gefühlloser, sondern er verlor auch noch unser ganzes Geld. Abbie war neun und ich eins, als wir in eine kleine Hütte zogen. Mutter musste arbeiten gehen und so blieb Amilia mit mir zuhause. Manchmal hatte sie keine Lust auf mich aufzupassen und wollte lieber mit ihren Freundinnen spielen. Ich kann verstehen, dass sie mich damals, wenn ich geschlafen habe oft allein ließ. Aber das ist eine andere Geschichte... Kurz vor Terrys Geburt verließ mein Vater meine Mutter und nahm heimlich ihr ganzes Geld mit, dass sie sich angespart hatte, als er mit dem Spielen begann. Leider hat er das Versteck gefunden und so mussten Amilia und ich arbeiten gehen. Amilia ging zu Keely, als Dienstboten, wie ich danach. Ich ging in dieser Zeit von Haus zu Haus und verkaufte Blumen, oder half älteren Damen im Haushalt."
Die Familie tat Cati schrecklich leid. Sie hatte einen Arm um die Schultern ihrer Adoptivschwester gelegt und tätschelte ihr jetzt die Schulter. „Wie alt wart ihr damals?"
„Ich war acht und Amilia sechzehn. Sie hatte gerade noch die Schule abschließen können. Das war ein Segen. Ich ging fortan nur noch im Winter zur Schule." Sie wischte sich über die Augen. „Mutter hat dann angefangen als Näherin zu arbeiten und sich zu Tode geschuftet. Sie hasste es zu sehen, wie Amilia und ich arbeiten mussten und wir drei noch zusätzlich ohne Vater aufwachsen mussten. Amilia und ich hassten unseren Vater. Mutter hatte ihm vergeben und uns noch auf dem Sterbebett darum gebeten es auch zu tun. Wir taten es und seitdem fühle ich mich fei und unbeschwert."
Sie wischten sich beide die Tränen fort und lächelten sich schief an. „Hast du deinen Vater jemals wiedergesehen?"
Abbie schüttelte ernst den Kopf. „Und ich glaube, ich will es auch nicht. Es ist gut so wie es ist. Ich liebe Ma über alles und den andern beiden geht es genauso. Sie ist ein wundervoller Mensch, der ganz viel Liebe in sich trägt."
Rachel wurde nachdenklich. Sie liebte Keely inzwischen auch, aber so sehr, wie Abbie bestimmt nicht. Wie konnte es sein, dass Keelys Adoptivkinder mehr für sie empfanden, als ihre leibliche Tochter?
Abbie riss sie aus ihren Gedanken. „Ich wünschte, du wärest schon viel früher zurückgekommen, Rachi. Ich glaube, wir beide haben viel gemeinsam und passen gut zusammen."
Cati lächelte. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Ich bin mir sicher, dass wir beste Freundinnen werden können, Schwesterherz." Sie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Darf ich dich auch etwas fragen? Etwas persönliches."
Cati hatte keine Ahnung was das sein könnte. Sie würde auf jeden Fall ehrlich antworten. Sie wollte Abbie vertrauen und sie wollte, dass Abbie ihr vertraute. Also wappnete sie sich dafür eine schwere und sehr persönliche Frage gestellt zu bekommen.
„Sei mir dann aber bitte nicht böse, ja? Du musst auch nicht antworten, wenn du es nicht willst."
„Du verwirrst mich, Abbie. Frag mich einfach. Ich werde dir schon nicht den Kopf abreisen."
„Auch nicht die Schwesternschaft kündigen?"
Cati schmunzelte. „Nein, eher nicht."
„Also: Warum heiraten Will und du erst jetzt?"
Cati begann zu lachen. Sie lachte so sehr, dass Abbie sie schon ganz verwundert und auch ein bisschen beleidigt ansah. Cati schüttelte den Kopf. „Sei mir nicht böse, Abbie, bitte, aber ich habe wirklich damit gerechnet eine ganz andere Frage gestellt zu bekommen." Ihr lachen verklang. „Weißt du, Will und ich haben uns früher immer gepiesackt und es hat ziemlich lange gedauert, bis wir verstanden haben, wie sehr wir uns mögen. Dann hat es noch mal sehr lange gedauert, bis er sich es getraut hat, mir einen Heiratsantrag zu machen und dann mussten wir ja noch einen Ort finden wo wir nach unserer Hochzeit leben können. Wir haben lange überlegt in den Westen zu ziehen, uns dann letzten Endes aber doch dafür entschieden in Eighford zu bleiben. Wir haben eine alte Farm gekauft und mussten praktisch alles neu bauen. Das hat lange gedauert, aber jetzt ist es doch endlich so weit. Im Herbst können wir sogar ernten und sind für nächstes Jahr auch schon gut versorgt. Außerdem würde Mutter mich früher wohl auch gar nicht gehen lassen, da sie der Meinung ist, ich sei noch viel zu kindisch."
Sie wunderte sich, dass sie bei diesen letzten Worten nicht mehr die alte Kränkung spürte und es auch nicht mehr wehtat darüber zu sprechen, wie ihre Mutter sie haben wollte und wie sie in Wirklichkeit war. Das hast du gemacht, Jesus, nicht wahr? Du hast mir geholfen, ihr zu vergeben und mir eine ganz neue Liebe zu ihr geschenkt. Danke dafür!
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Am nächsten Morgen begann Cati ihre Sachen zusammenzupacken. Will würde mit dem Morgenzug fahren und sie mit dem am Nachmittag. Sie begleitet ihn zum Bahnhof, verabschiedete sich von ihm und kehrte dann nach Hause zurück. Ja, sie betrachtete Keelys Haus als ihr zuhause, denn sie fühlte sich dort geborgen, angenommen, geliebt und sicher. Und das waren die Dinge die ein Zuhause für sie aus machten.
Keely
Als Keely und Rachel dann am Mittagstisch saßen, klopfte es an der Tür. Judy öffnete die Tür und kam mit einem Telegramm in der Hand in die Küche. Sie legte es auf Keelys nicken hin auf den Tisch und verlies die Küche. Sobald die beiden zu Ende gegessen hatten, öffnete Keely das Telegramm. Sie erstarrte als sie es las. Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren. Die Zeit blieb stehen. Die Erde hörte auf zu drehen und doch drehte sich alles um sie herum in einer Geschwindigkeit, die sie beinah umhaute.
M.H. und E.H. verstorben – STOPP
Das Telegramm glitt Keelyaus der Hand, segelte auf den Küchentisch und sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen.
Verstorben!
Ihre Eltern waren tot und hatten sich nicht mehrmit ihr aussöhnen können. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Das hatte sie nun von ihrem dämlichen Ungehorsam! O wie sehr sie sich in diesem Augenblick dafür hasste.
Rachel nahm das Telegramm auf, las es durch und legte einen Arm um die Schultern ihrer Mutter. „Das tut mir soleid für dich", murmelte sie und drückte Keely etwas fester an sich.
Sie ließ sich fallen und war dankbar für die Arme, die sie so fest und sicher hielten. Sie konnte kaum denken. So viele Gedanken flogen in ihrem Kopf umher. Sie sind Tod. Wir haben uns nicht aussöhnen können. Gott ist bei mir in diesem Schmerz. Jetzt ist es zu spät. Danke für Rachel. Haben sie mir vielleicht doch vergeben? In der Stunde ihres Todes vielleicht? Gott hält mich in diesem Momentfest, so wie Rachel mich jetzt hält. Wir wissen aber das denen, die Gottlieben, alle Dinge zum Besten dienen (Römer 8,28).
An diesen letztenGedanken klammerte sie sich. „O Gott, steh mir bei!"
„Ja, Herr, bitte tu es.Lass sie jetzt nicht allein. Lass meine Mutter jetzt bitte nicht allein!"
Ob Rachel wusste, dass sie gerade laut betete? Vielleicht. Aber ganz sicher wusstesie nicht, wie viel Kraft diese Worte Keely gaben. Ja, Herr, bitte lass michjetzt nicht allein und danke für Rachel. Danke, dass du bei mir bist. Danke, Herr Jesus!
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