Kapitel 36




Rachel

Cati stellte den letzten Teller auf den Tisch und ließ einen prüfenden Blick über das Ensemble von Porzellan gleiten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht nickte sie sich selbst zu und öffnete die Hintertür, die zum Obstgarten der Dunns führte und rief den Kindern zu: „Kommt alle essen!"

Sofort legte Sophie den Pinsel beiseite mit dem sie auf eine Leinwand gemalt hatte und verließ ihren Platz unter einem Apfelbaum. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als sie auf Cati zu rannte.

O Gott, ich liebe dieses Kind und seine Geschwister so sehr. Wie habe ich nur jemals ohne sie leben können?

Am liebsten hätte sie die Arme ausgebreitet und Sophie nah an sich gedrückt, doch sie zögerte. Aber als Sophie dann vor ihr stand, zu ihr auf lächelte und sich gerade an sie vorbeidrücken wollte, zog Rachel sie einfach in ihre Arme. Das kleine Mädchen war ganz überrascht, aber dann erwiderte sie die Umarmung fest.

„Ich hab dich lieb, Sophie Dunn!", flüsterte Cati und drückte ihrer Nichte einen Kuss auf den Scheitel.

Sophie legte ihren Kopf in den Nacken und sah ihr ernst in die Augen. „Ich dich auch, Rachi!"

Liebevoll strich sie ihr übers Haar. Die anderen kamen nun auch herbei gestürmt und die beiden lösten sich aus der Umarmung der anderen.

„Was gibt's zu essen?" Jake strich sich mit kreisenden Bewegungen über den Bauch. „Ich habe einen Bärenhunger."

Cati lachte und wuschelte ihm mit der Hand durchs Haar. „Er hat immer einen Bärenhunger", neckte Veronica, die an Williams Hand ging.

„Klar! Ich muss doch so groß wie Pa werden. Irgendwann wirst auch du aufhören wie ein Spatz zu essen, Veronica."

Rachel schüttelte lachend ihren Kopf. „Kommt jetzt rein, sonst wird noch alles kalt." Sie trat einen Schritt zurück und ihre Nichten und Neffen polterten ins Haus. William folgte ihnen schmunzelnd. In der Küche bildeten die Kinder eine Schlange vor der Pumpe, um sich die dreckigen Hände zu waschen.

Wichtigtuerisch schob Sophie ihre Ärmel nach oben und sah jeden einzelnen an. „Ihr habt eure Hände nur beim Spielen dreckig gemacht, aber ich habe meinen Nachmittag sinnvoll verbracht, indem ich mein Können ausprobiert habe. Das ist viel wichtiger. So kann ich auch stolz auf die Farbflecke auf meiner Haut sein."

Jake und Finn verdrehten die Augen, während Veronica ihre große Schwester mit ebenso großen Augen anstarrte. William hingegen zwinkerte Cati kurz zu und machte dann ein ganz ernstes Gesicht. „Mit welcher Farbe hast du gemalt, Sophie?"

Sie sah ihn ganz verwundert an. „Mit meinen neuen Aquarellfarben, die Großmutter Brownan mir zum Geburtstag geschenkt hat, warum?"

William schüttelte traurig den Kopf. „Die Farbe bekommst du nicht mehr von deiner Haut, Sophie. Es hat heute Nacht geregnet, deshalb ist die Luftfeuchtigkeit heute sehr hoch. Wenn du bei diesen Umständen draußen malst, dann..."

Sophie wartete gar nicht bis er zu Ende sprach. Sie stürzte zum Waschbecken, schob Finnley beiseite und pumpte wie eine Verrückte Wasser, das über ihre Hand floss. „Oh, ich will das nicht, ich will das nicht", jammerte sie, den Tränen nahe. „Ich habe doch schon so oft damit gemalt und immer ging es weg."

Cati seufzte tragisch. „Vermutlich wird immer eine leichte Verfärbung an den Stellen zu sehen sein, Sophie."

Sophie drehte den Kopf zu ihrer Tante. Sie hatte einen gehetzten Gesichtsausdruck und auf ihrer Stirn glitzerten Schweißperlen. Sie hatte wirklich panische Angst. Verbissen rieb sie ihre Hände übereinander an den Stellen, wo die Aquarellfarbe auf ihre Haut gekommen war. Hinter ihr lehnte Jakob sich lässig an die Küchenzeile und kaute auf seinen Lippen herum, um nicht laut loszulachen. „Wird es niemals weg gehen?"

Cati zuckte mit der Schulter und hob ihre Hände mit nach oben gedrehten Handflächen hoch. „Ich fürchte nicht. Tut mir leid, Sophie."

Sophies Schultern sackten zusammen, sie drehte ihr Gesicht wieder zu ihren Händen und ließ den Kopf hängen. Aufmerksam begutachtete sie ihre Hände indem sie sie hin und her drehte. Auf einmal stockte sie und drehte sich mit vor Zorn blitzenden Augen um. „Ihr habt mich angelogen! Meine Hände sind sauber!"

William und Jake lachten aus voller Kehle los und ausgelassen fiel Cati in ihr Lachen mit ein. Endlich merkten auch die Kleinen, dass Sophie von Will und Cati nur hinters Licht geführt worden war und lachten mit.

Sophies wütende Miene verflog und sie lachte mit ihnen. „Ihr seid echt gemein", sagte sie, als sich alle wieder eingekriegt hatten und zog einen Schmollmund, mit vor der Brust verschränkten Armen.

William legte seinen Arm um ihre Schultern. „Sei nicht beleidigt, Sophie. Das war nur ein harmloser Spaß."

Sophie wand sich aus seinem Arm und funkelte ihn erneut an. „Das ist gar nicht harmlos! Was hätte ich gemacht, wenn es wirklich für immer so geblieben wäre?"

William zuckte mit den Achseln. Beschwichtigend legte Rachel ihrer Nichte die Hand auf die Schulter. „Ist schon gut, Liebes. Und glaub mir: Das war ein sehr harmloser Streich. Wenn ihr wüsstet, was Will und ich früher alles angestellt haben und was sein Bruder in der Schule meiner lieben Freundin antut, dann würdet ihr diesen Scherz nicht mal mehr erwähnen."

Neugierde blitze in Finns Augen auf. „Erzählt ihr uns davon beim Essen?"

Seine drei Geschwister bettelten jetzt so stark los, dass William und Cati nur ergeben lachten und zustimmten. Endlich setzten sie sich an den Tisch und aßen die Mahlzeit, die Cati zubereitet hatte, nachdem sie dafür gebetet hatten. So manch vergessener Streich wurde wieder in Erinnerung gerufen und es wurde ausgelassen gelacht, bis ihnen Tränen aus den Augen quollen.

„Ich wünschte, dass jemand in unserer Schule auch sowas machen würde. Unser Unterricht ist schrecklich langweilig." Finnley seufzte.

„Glaub mir: Miss Kings und Maddie finden es keineswegs so lustig wie wir."

„Aber deine Freundin hat damals doch selbst mitgemacht."

Cati schmunzelte. „Jetzt bereut sie es aber zutiefst."

„Oh, schaut mal da!", lenkte William vom Thema ab und zeigte zum Küchenfenster. Alle Augen flogen zum Fenstersims und William nutze die Gunst der Stunde, um bei Jake, der ihm gegenübersaß, eine Kartoffel zu stibitzen.

Cati, die sich in demselben Augenblick wieder umdrehte, weil nichts Bemerkenswertes auf dem Fenstersims zu sehen war, sah es noch und kicherte.

„Ich seh nichts." Veronica drehte sich enttäuscht zu William der genüsslich seine Kartoffel kaute. „Was hast du da denn gesehen, Will?"

Auch die anderen drehten sich um, doch William gab keine Antwort. Rachel lachte. „Jake, zähl mal lieber, ob noch alle deine Kartoffeln da sind."

Jakob sah entrüstet von seinem Teller zu Will und wieder zurück. „Hey, das ist gemein!"

Alle lachten.

„Du hast dir so viel auf den Teller geschaufelt, dass ich zu wenig abbekommen habe. Tut mir leid für dich, Jake."

Jakob stöhnte frustriert und stützte seinen Kopf auf seine linke Faust. „Warum passen nicht Abbie und Tim auf uns auf, so wie immer, wenn Ma und Pa bei den Mitchells sind?"

Rachel lachte amüsiert und warf William einen bedeutenden Blick zu. Er zwinkerte nur zurück. Sie beide wussten, dass ihr Neffe es nicht ernst meinte.

„Wenn du noch Hunger hast, kannst du meine Portion haben, Jaki", bot Veronica ihrem Bruder an und schob ihm ihren Teller hin. Liebevoll lächelte Catlen.

„Das ist lieb von dir, Veroni, aber du kannst es selber essen. Mir reicht das, was ich noch habe. Trotzdem danke." Jakob strich seiner Schwester über das dichte Haar und kitzelte sie mit dem Ende eines ihrer geflochtenen Zöpfe im Gesicht.

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Amilia und Mattie kamen spät zurück. Die Kinder schliefen schon tief und fest. Auch Rachel und Will waren sehr müde und verabschiedeten sich schnell von den beiden. William ging ins Hotel und Rachel zu Keely.

Verwundert darüber, dass noch Licht im Morgensalon brannte, ging Cati in den Raum und entdeckte ihre Mutter, die dort saß und sich ein Album anschaute. Sie sah traurig aus und schien tief in Gedanken versunken zu sein, denn sie bemerkte Rachel erst, als diese sich neben sie setzte.

Keely

Keely zuckte zusammen, als sie ihre Tochter bemerkte. Sie hatte den Erinnerungen erlaubt sie in die Vergangenheit zu tragen und hatte in längst verschlossenen Wunden herumgewühlt und längst vergessenes wieder lebendig werden lassen. „Du bist noch auf?"

„Ja, ich... ich habe dieses alte Album auf dem Dachboden gefunden und mich bei jedem Bild lange aufgehalten, dass die Zeit viel zu schnell verging." Sie drehte das Album so hin, dass Rachel mit hineingucken konnte. Sie erkundigte sich kurz nach den Kindern und tippte dann auf das letzte Bild, der aufgeschlagenen Seite. „Dies ist das letzte Bild, dass mich und meine Eltern gemeinsam abbildet." Sie schluckte.

„Was ist passiert? Du siehst dort noch sehr jung aus." Rachel lehnte sich vor, um in dem schwachen Licht, der Petroleumlampe besser sehen zu können.

„Ich war siebzehn. Das Jahr danach, war das verhängnisvollste meines Lebens."

„Warum?"

„Ich habe mich über den Willen meiner Eltern hinweggesetzt und mich klüger, als sie gehalten. Ich wollte unbedingt jetzt mit Dereck heiraten. Seine Tante und auch seine Eltern hatten zugestimmt – er war ja auch älter als ich -, aber meine Eltern fanden es noch viel zu früh. Mein Vater bat mich noch ein Jahr zu warten, meine Mutter noch mindestens drei."

„Puh... Drei Jahre warten! Das hätte ich niemals gemacht."

Keely lächelte ihre Tochter traurig an. „Ich habe es auch nicht getan. Stur, wie ich war, bin ich davongelaufen und habe mit Dereck bei einem Amtsrichter geheiratet. Daraufhin zogen wir hierher. Er hatte das Haus schon fertiggebaut und nach meinen Wünschen einige Räume eingerichtet. Einen ganzen weiteren Monat waren wir damit beschäftigt alles so herzurichten, wie wir es wollten. Meine Eltern waren stinksauer und schickten mir meine restlichen Sachen hinterher. Ich sollte nie wieder ihr Haus betreten."

Rachels Schultern sackten ungläubig nach vorne. „Wie grausam", hauchte sie.

„Sie waren enttäuscht von mir, ihrer einzigen Tochter." Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe in den nächsten Tagen viel geweint, aber Dereck hat mich getröstet. Ich vergab meinen Eltern und bat sie auch mir zu vergeben, doch es kam nie ein Antwortbrief. Das verletzte mich tief, aber ich konnte dennoch glücklich weiterleben. Nur selten dachte ich an meine Eltern. Ich lebte mich hier ein, gewann eine treue Freundin und verstand mich mit den Menschen dieser Stadt sehr gut. Nur Dianne wusste meine Geschichte. Inzwischen weiß es die ganze Stadt, aber es ist nicht schlimm für mich, da sie mich deshalb nicht anders behandeln. Einige waren schon lange Zeit nicht gut auf mich zu sprechen und verbaten ihren Kindern den Umgang mit mir, aber es legte sich schon bald."

Rachel lehnte sich vor. „Hast du je wieder etwas von deinen Eltern gehört, oder sie gar gesehen?" Mitleid, Entrüstung, Fassungslosigkeit sprachen aus ihren Augen.

„Ich schrieb ihnen noch einen Brief, in dem ich ihnen von Derecks Tod beichtete. Ihr Antwortbrief war eine Reihe von Vorwürfen." Traurig und den Tränen nahe schüttelte Keely ihren Kopf. „Danach kam kein Brief mehr. Nie wieder."

„Das tut mir so leid." Rachel nahm sie in den Arm und es tat Keely unglaublich gut von ihr gehalten zu werden.

„Ich bin Gott so dankbar, dass du diesen Fehler nicht gemacht hast, Liebes. Mir hat dieser Fehler alles gekostet."

Rachel drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und Keely kam es vor, als wäre sie das Kind und Rachel die Mutter. „Aber Gott hat alles wieder gut gemacht. Wir sind wieder vereint und können wieder glücklich sein."

„Ich will meine Eltern trotzdem zurück! Es ist mir egal, dass ich schon vierundvierzig bin und sie seit sechsundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich will sie zurück und ihre Vergebung erleben und sie sollen wissen, dass ich sie trotzdem liebe."

Rachel strich ihr übers Haar und wiegte sie tröstend hin und her. Eine Träne tropfte auf Keelys Kopf und zeigte ihr, dass ihre Tochter mit ihr fühlte. „Wir werden beten und dann werden wir ihnen einen Brief schreiben. Ihr werdet euch versöhnen und an meinem Hochzeitstag nebeneinander in der ersten Reihe sitzen. Ihr werdet neu anfangen und glücklich noch viele, viele Jahre miteinander verbringen. Das verspreche ich dir."

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Schon am nächsten morgen nach dem Frühstück holte Rachel ihrer Mutter Briefpapier, eine Feder und Tinte. Sie setzten sich in den Morgensalon und Keely schrieb den Brief. Cati probierte sich solange ein wenig am Klavier aus.

Liebe Ma, Lieber Pa,

wisst ihr noch wer ich bin? Ich bin eure langverschollene Tochter Keely. Sechsundzwanzig Jahre sind seit unserem letzten Gespräch, nein, es war ein Streit, vergangen. Den ersten Brief meiner Entschuldigung habt ihr leider nie beantwortet, doch das hält mich nicht davon ab, es noch einmal zu versuchen. Meine lieben Eltern, es tut mir so unendlich leid, was ich getan habe.

Sie hielt inne und wischte sich die Tränen aus den Augen, die ihre Sicht verschwammen.

Ihr hattet eine sture Tochter, wie mich, gar nicht verdient. Ich wünschte, ich könnte alles wieder rückgängig machen. Es scheint zwar schon mehrere Leben her zu sein, dass ich euch gesehen habe, aber ich möchte, dass ihr wisst, wie sehr ich euch noch immer liebe und dass ich euch gerne wiedersehen möchte. Wir sind doch eine Familie! Wir brauchen einander!

Erneut ließ Keely den Stift sinken. Ihr Blick glitt aus dem Fenster und sie sann über die letzten Jahrzehnte nach. Was wäre anders gekommen, wenn Dereck und sie, wie ihre Eltern es gewollt hatten, noch ein wenig gewartet hätten? Doch Keely hatte schon zu oft darüber nachgedacht und das Vergangene war ja doch immer gleichgeblieben. Sie nahm wieder ihren Stift zur Hand und schrieb weiter.

Ein Jahr nach unserer Hochzeit durften Dereck und ich unsere Tochter Rachel in den Armen halten. Leider war unsere gemeinsame Zeit als Familie nur sehr kurz, da Gott Dereck zwei Monate später zu sich rief. Verzweifelt, wie ich war, gab ich mein Kind zur Adoption frei. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich wünschte, ich hätte es nie getan, doch zu diesem Zeitpunkt war mir nichts anders übriggeblieben, oder doch? Manchmal glaube ich, ich hätte es auch mit meiner Rachel geschafft zu überleben.

Die nächsten zehn Jahre lebte ich allein, einsam und deprimiert in meinem Haus. Gott schaffte dann eine Wende und ich begann wieder zu leben.

1993 adoptierte ich drei Kinder aus meiner Stadt. Die beiden Mädchen hatten mir als Dienstboten gedient, daher kannte ich die Familie. Amilia und Abbie sind inzwischen verheiratet und Terry studiert Theologie. Ich bin, seit die drei meine Kinder sind, sehr aufgeblüht und dachte mein Leben könne kaum schöner werden. Doch am 14. Mai dieses Jahres (25 Jahre, nachdem ich meine Rachi zur Adoption freigab) fand ich meine Tochter wieder. Besser: Sie fand mich, aber das würde ich euch lieber persönlich erzählen.

An dieser Stelle bitte ich euch, meine geliebten Eltern, eurer reumütigen Tochter zu vergeben und ihr nicht länger zu zürnen. Ich sehne mich nach euerer Liebe, denn was kann die Liebe einer Mutter oder eines Vaters ersetzen? Nichts!

Bitte, Ma und Pa, antwortet mir. Es kann auch ruhig ein Telegramm sein, Hauptsache, ich höre etwas von euch.

In Liebe und tiefer Traurigkeit über meinen damaligen Fehler,

eure Tochter Keely

Keely fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Das Schreiben dieses Briefes hatte sie ermüdet. Sie reichte ihrer Tochter den Brief und beobachtete scharf ihre Gesichtszüge beim Lesen. Tränen schimmerten in Rachis Augen, als sie sie wieder anblickte. „So gut hätte selbst Maddie sich nicht ausdrücken können."

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