Kapitel 32
Die nächsten Tage vergingen sehr schnell, da sie bis in die letzte Sekunde mit Vorbereitungen auf die Hochzeit gefüllt waren. Cati versuchte so viel wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich erledigen zu könne. Sie hatte einen Plan und besprach diesen mit Will: Sie wollten Keely und ihre Familie noch vor der Hochzeit für einige Tage besuchen, um die Familie besser kennenzulernen. Das war zwar höchst ungewöhnlich und es forderte von ihnen auch ihre ganze Überredungskunst, bis ihre Eltern sich damit einverstanden erklärten – natürlich nur unter der Bedingung, dass sie beide unterschiedliche Züge nahmen – aber es war ihnen wichtig und Cati wusste, dass sie und ihre neue Familie das brauchten.
Entschlossen setzte Cati sich dann eines Abends an ihren Schreibtisch, holte Briefpapier, Feder und Tinte hervor und begann einen Brief an ihre Mutter zu schreiben. Unsicher überlegte sie, wie sie ihre Keely Ansprechen wollte. Ma wirkte so vertraut und nah. Sie entschloss sich für Liebe Keely. Das schien ihr angemessen.
Als der Anfang erst getan war, flossen auch die nächsten Worte ganz von selbst aufs Papier. Mit einem zufriedenen Lächeln überflog sie die geschriebenen Zeilen und schob den Brief in einen Umschlag. Aus einem unerklärlichen Grund überfiel sie ein nervöses flattern, als sie ihren Namen darauf schrieb. Zum ersten Mal nannte sie sich selbst Rachel Catlen May Gillwater.
Keely
Keely drehte den Briefumschlag um und las den Absender. Rachel Catlen May Gillwater stand in einer sauberen Handschrift darauf. Keely konnte einen Jubelschrei nicht unterdrücken. Rachel hatte akzeptiert wer sie war! Sie hatte sie akzeptiert. Sie lief nicht vor ihrer Vergangenheit davon. Sie wollte mit ihr in Kontakt bleiben. Sie gab ihnen eine Chance. Sie hatte ihr vergeben. Mit zitternden Händen riss sie den Umschlag auf und las den Brief.
28.05.1905
Liebste Keely,
Keely schluckte. Nicht „Ma", sondern „Keely". Gib ihr Zeit, mahnte sie sich und las weiter.
Ich habe Callum Gillis besucht und noch einmal nachgeprüft, was Du mir erzählt hast. Es ist alles wahr. Glaube nicht, dass Ich Dir nicht geglaubt hätte, aber Ich wollte es noch einmal bestätigt bekommen, das verstehst Du doch, oder? Die Sache ist mir zu wichtig. Du sollst wissen, dass Ich Dir von ganzem Herzen vergeben habe. Ich bin Dir nicht mehr böse, sondern kann Dich gut verstehen. Deine Liebe zu mir ist echt und das bewegt mich tief. Du bist eine gute Mutter. Gott hat alles so gefügt, wie es gekommen ist. Hättest du mich nie zur Adoption freigegeben, so hätte ich Will und Maddie nie kennengelernt. Außerdem hätte ich Gott, dem ich vorher nicht gerade nahestand, nicht gefunden. Ich bin durch all diese verschlungenen Wege ein sehr reicher Mensch geworden. Apropos Will... Hättest Du etwas dagegen, wenn wir beide gemeinsam nach Weston kämen? Ich möchte meine Familie nämlich noch etwas besser kennenlernen und natürlich sollt auch ihr Will kennenlernen. Zudem würde ich euch alle und Tante Dianne mit ihrem Mann und den Kindern persönlich zu meiner Hochzeit am 29. Juni einladen. Auch Großvater und Großmutter Harvey würde ich zu meiner Hochzeit einladen. Diesbezüglich können wir uns ja noch unterhalten. Deine Meinung ist mir, was das betrifft, die Wichtigste.
Gib mit bitte telegrafisch Bescheid, wie du über meinen Vorschlag zu kommen denkst.
In Liebe,
deine Tochter Rachel
Keely konnte es nicht verhindern, dass ihr eine Freudenträne die Wange hinunterlief und dann noch eine und noch eine. Deine Tochter Rachel! „Ich habe meine Tochter zurück, Herr. Rachel ist zu mir zurückgekommen!"
Doch dass Rachel Keelys Eltern zu ihrer Hochzeit einladen wollte, machte ihr Angst. Sie hatte seit über zwanzig Jahren keinen Kontakt zu ihren Eltern gehabt und fragte sich, wie diese reagieren würden, wenn sie wieder etwas von ihrer lang verschollenen Tochter hören würden. Es würde wehtun. Ihnen allen. Weil sie alle furchtbar gelitten hatten und es vermutlich noch immer taten. Es würde schwer werden, die Vergangenheit hinter sich liegen zu lassen und einen Neuanfang zu wagen, in dem die Liebe regieren würde.
Am Abend schrieb Keely in ihr Tagebuch:
02. Juni 1905 Freitag
Jahrelang bin ich jeden Tagein bisschen mehr gestorben. An dem Tag, an dem Gott Dereck zu sich gerufen hat, habe ich alles verloren. Dereck war tot und Rachel kam in eine andere Familie. Mein Leben hatte von da an keinen Sinn mehr, aber wenn ich jetzt zurückblicke, dann sehe ich, dass Gottes Hand die ganze Zeit mit mir gegangen ist. Immer wieder bin ich gefallen. Ich musste immer denken: „Es sind nicht Dereck und ich die Rachel erziehen. Es sind nicht wir, die sie mit ihrer Liebe umgeben. Es sind nicht wir, die ihr beim Wachsen zusehen. Es sind nicht wir, die ihre ersten Worte hören. Es sind nicht wir, die von ihr „Ma" und „Pa" genannt werden. Es sind nicht wir, die mit ihr zusammen die Welt entdecken. Es ist nicht Dereck, der sie mit in die Natur nimmt und mit ihr durch die Wälder streift. Es ist nicht Dereck, der mit ihr auf der Wiese vor unserem Hausspielt. Es ist nicht Dereck, der ihr einen Rat gibt, wenn sie nicht weiterweiß. Es ist nicht Dereck, der sie in Gottes Wort unterweist. Es bin nicht ich, die ihr alles im Haushalt beibringt. Es bin nicht ich, zu der sie gelaufen kommt, wenn sie sich verletzt hat. Es bin nicht ich, der sie ihre Ängste anvertraut. Es bin nicht ich, die ihr bei den Hausaufgaben hilft. Es bin nicht ich, die ihr schöne Kleider näht und ihr die Haare richtet. Es bin nicht ich, die sie tröstet und ermutigt. Das tun alles eine andere Mutter und ein anderer Vater."
Aber als Gott angefangen hat mein Herz zu heilen, da verwandelte sich meine Bitterkeit (ja ich war verbittert! Sehr sogar) und mein Schmerz und ich wurde getröstet. Und jetzt habe ich Rachel wiedergefunden. Sie stand einfach vor mir. Erst in der Praxis und dann auf dem Friedhof. Eines Tages - so erträume ich es mir – werden wir nebeneinander auf der Veranda ihres Hauses sitzen und ihren Kindern beim Spielen zusehen. Sie wird meine Hand nehmen und sagen: „Gott hat alles wohl gemacht, Ma. Wir müssen es nur sehen." Ich werde ihre Hand drücken und antworten: „Ja, er hat alles wohl gemacht. Aus Trauer wurde Freude und wir haben uns wieder."
Mein ganzes Herz singt. Ich fühle mich, wie ein kleines Mädchen, dass sich vor Freude nicht halten kann und jeden Augenblick zu tanzen beginnt. Gott hat einfach alles wieder wunderbar gemacht. Emanuel Geibel sagt in seinem Gedicht „Hoffnung": „Nur unverzagt und Gott vertraut! Es muss doch Frühling werden." Und ich sage heute „Amen!" dazu, denn der Winter meines Lebens ist nun endgültig vorbei und der Frühling hat für immer Einzug gehalten.
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