Kapitel 25
1902 Rachel
Catlen May riss die Haustür auf und stürmte, mit Will an der Hand, hinein. „Vater! Mutter! Wo seid ihr?"
„Hier im Salon", antwortete Mutter und Cati zog William in diese Richtung.
Erst auf der Türschwelle zu dem schmucken Raum ließ sie seine Hand los und rannte auf ihrem Buch lesenden Vater zu. „Wir sind verlobt! Wir sind verlobt!"
Ihr Vater lachte und umarmte sie. „Herzlichen Glückwunsch, meine Butterblume. Aber bitte, zerdrück mich nicht. Ich will lebend zu eurer Hochzeit kommen."
Catlen drückte ihm lachend einen Kuss auf die Wange, dann wandte sie sich ihrer Mutter zu, die Will gerade aus ihrer Umarmung ließ.
März 1905 Rachel
Rachel streifte sich ihre feingehäkelten Handschuhe über, legte sich eine erdfarbenkarierte Stola um, die perfekt zu ihrem beigen Rock und der weißen Bluse passte, und schnappte sich ihre Ridikül. Sie freute sich darauf mit Madison im Laden den geeigneten Stoff für ihr Brautjungfernkleid auszusuchen. Sie hatte sich fest vorgenommen einfach die Farbe zu nehmen, die sie am meisten ansprach und sich nicht vorher auf eine festzulegen. Leise vor sich hin summend schlenderte sie Richtung Schule, von wo sie ihre beste Freundin abholen sollte.
Sie bog gerade auf die breite Landstraße ein, als sie ein Rufen hinter sich hörte. „Cati! Warte doch!" Lächelnd drehte sie sich um, als sie Williams Stimme erkannte und wartete. „Wohin des Weges?", fragte er, als er vor ihr zum Stehen kam.
„Ich hole Maddie von der Schule ab. Wir wollen ein paar Besorgungen machen."
„Verstehe. Dürfte ich die verehrte Dame begleiten? Nicht, dass der böse Wolf kommt und Sie auffrisst." Er lächelte schelmisch.
Spielerisch drückte Cati sich die Hand aufs Herz und riss die Augen auf. „Oh, ich fürchte mich wirklich sehr im dunklen Wald. Da ist man doch immer froh über einen Weggefährten."
„Danke sehr. Das ist sehr gnädig von Ihnen, Miss."
Grinsend knuffte sie ihm in den Arm. Er bot ihr daraufhin seine Armbeuge an und sie legte ihre Hand hinein. Die Sonne hing schon etwas schief am Himmel und warf die Schatten der Bäume, die den Wegrand säumten, auf den Weg. Die weißen Blüten der Blätter bewegten sich sanft im Wind und das lange Gras, welches zwischen den Baumstämmen hervorsprießte, wog sich sanft hin und her. Cati sog die frische Luft ein und lächelte leicht. Sie war rundum glücklich und nichts, wirklich gar nichts, könnte ihr dieses Gefühl nehmen, da war sie sich sicher.
„Wie ging es dir in den letzten Tagen? Haben sich deine Anfälle gelegt?"
Catlen May verzog ihr Gesicht. Wie sie die Kopfschmerzen, die Übelkeit, den Schwindel und das Zittern doch leid war! „Ja, zum Glück. Ich hatte es wirklich satt immer wieder Tagelang im Bett zu liegen. In den letzten Tagen hatte ich nicht ein einziges Mal Kopfschmerzen oder anderes."
„Das ist gut." Er hörte sich erleichtert an. „Vielleicht war es nur ein vorübergehender Infekt, oder so etwas ähnliches."
Catlen zuckte die Schultern. „Ja, vielleicht. Ist ja auch egal."
Ein behagliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Cati liebte es nicht ständig unter dem Druck zu stehen irgendetwas sagen zu müssen. Bei William konnte sie auch still sein und sie konnten ihren Gedanken nachhängen und einfach nur den Augenblick genießen. Will brach das Schweigen indem er mit dem Finger auf einen Punkt vor ihnen tippte und fragte: „Ist das da vorne nicht Maddie?"
Catlen kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Tatsächlich! Maddie kam auf sie beide zu gerannt. Anscheinend hatte sie sie erkannt. Auch Cati und Will beschleunigten ihre Schritte.
„Ob sie den Unterricht heute früher beendet hat und nicht mehr auf mich warten wollte?"
„Kann sein." Doch als sie ihr näher kamen war schnell klar, dass es nicht so war. Madison sah ganz aufgelöst und blass aus. Irgendwas musste im Klassenraum oder nach dem Unterricht passiert sein. Irgendetwas schreckliches.
„Maddiechen, was ist geschehen?" Catlen May zog ihre Hand aus Williams Armbeuge und legte ihre Hände auf die Schultern ihrer Freundin. „Du bist ja ganz blass."
Madison, etwas außer Atem vom schnellen Laufen, schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete las Cati endlose Erschöpfung darin. Sie drückte die Schultern ihrer Freundin leicht. Das Gefühl des unzerstörbaren Glücks von vorhin war verschwunden und Sorge zog ihr Herz zusammen. „Sag uns endlich was geschehen ist, Maddie."
Madison stöhnte. „Oh, Will, dein Bruder schafft es alles, was wir drei bis herangestellt haben, in den Schatten zu stellen. Am liebsten würde ich mich jetzt hier auf dem Boden ausstrecken und ein Nickerchen halten."
Cati konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. So erschöpft ihre Freundin auch war, ein Fünkchen Kraft hatte sie definitiv noch.
„Was, in aller Welt, ist denn geschehen, Maddie? Spuks schon aus", drängte jetzt auch William.
Wieder stöhnte Maddie. Ihre Stimme war ganz schwach und verzweifelt, als sie erzählte: „Zuerst erschien er morgens nicht im Unterricht. Mitten in der Lesestunde begannen Kastanien durch die offenen Fenster zu fliegen und verletzten einige meiner Schüler. Woher hat er im Frühling überhaupt Kastanien? Naja, egal. Ich erwischte Tony, lies ihn den Raum aufräumen und dann musste er alles Versäumte nachholen. Nach der Mittagspause lag dann ein Haufen Butter auf meinem Stuhl, auf den ich mich beinahe gesetzt hätte und dann... dann hat er es noch irgendwie geschafft eine Blindschleiche auf mein Pult zu schmuggeln."
„Was?!", riefen die beiden im Chor. Cati konnte nicht anders, aber sie musste einfach lachen und William stieg schon bald in ihr Lachen mit ein. Empört starrte Madison ihre Freunde an und setzte sich dann tatsächlich auf die staubige und sandige Straße. Sie schien sich von dem Schock erholen zu müssen. „Es tut mir leid Maddie", brachte Catlen May lachend hervor, „aber, wenn du genauso reagiert hast wie Miss Kings damals, als wir ihr die Maus in die Unterlagen setzten, dann... dann..." Siekrümmte sich vor Lachen.
Madison lächelte nur schwach. „Eine Maus ist doch nichts im Vergleich zu einer Blindschleiche. Mäuse sind süß, aber Blindschleichen... Diese Tiere sehen so glitschig aus und..." Sie schüttelte sich angeekelt. „Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich aus diesem Gebäude, als ich das Untier sah. Den ganzen Nachmittag hatte ich das Gefühl, dass irgendwo noch eine sein müsste."
Die beiden lachten noch mehr, aber dann kriegten sie sich langsam wieder ein. William wischte sich eine Lachträne von der Wange. „Darf ich fragen, was du ihm für eine Strafe aufgebürdet hast?"
Maddie seufzte, stützte ihren rechten Ellbogen auf die Knie und legte ihr Kinn in ihre Hand. „Er muss einen Steckbrief über die Blindschleiche schreiben, einen Tadel von seinen Eltern unterschreiben lassen – von eurem Vater und eurer Mutter – und er muss hundert Mal schreiben: Ich darf keine Kastanien durch Fenster werfen und auch keine Butter auf Miss Stuarts Stuhl legen."
„Der Arme", lächelten Cati und William wieder wie aus einem Mund.
„Mannomann...Deine Strafen sind härter als die von Miss Kings, Maddie."
Die Lehrerin zuckte nur müde mit den Achseln. „Wenn ich wütend bin, kann ich mir so etwas am besten ausdenken – und ich war sehr wütend, wie ihr euch sicher denken könnt. Tony musste das Viech natürlich nach draußen bringen und stand dann den Rest des Unterrichts in der Ecke. Ich musste dabei, wie immer an dich denken, Will. Er sieht dann immer genauso aus wie du." Jetzt lächelte sie, doch dann wurde sie wieder ernst und seufzte erneut. „Ich habe die schlimme Befürchtung, dass ich gerade das ernte, was ich als Schülerin gesät habe. Heißt es nicht in der Bibel schon: Wer mit Liebe sät, der wird in Liebe ernten? Hach, wenn ich gewusst hätte, dass es auf alle Dinge im Leben zutrifft und hätte ich schon als junges Mädchen geahnt, dass ich alle Schikane wieder zurückbekommen würde, dann hätte ich es wohl bleiben lassen, Miss Kings so zu reizen."
„Dann wäre unsere Schulzeit aber schrecklich langweilig gewesen. Sieh es doch mal so: Auf diese Weise kommt ein wenig Stimmung in dein eintöniges Lehrerinnen Dasein."
„Mein Lehrerinnen Dasein, wie du es nennst, ist bestimmt nicht eintönig, Cati." Sie stand auf und umschlang sich selbst mit ihren Armen, als wäre ihr kalt.
Cati hob abwehrend die Hände. „Entschuldige, bitte, Maddie, so war das ja nicht gemeint. Du hast den wundervollsten Beruf, den ich mir nur für dich vorstellen kann, Liebste. Es würde mir ja auch nie einfallen mich in deine pädagogischen Angelegenheiten einzumischen, aber ich denke in diesem Fall kann ich eine Ausnahme machen." Sie sah ihrer Freundin fest in die Augen, „Hast du schon mal versucht ihn auf eine andere Art und Weise zu behandeln?"
Madison zwirbelte eine Strähne, die sich um ihr hübsches Gesicht rahmte. „Er ist nicht respektlos zu mir, aber er macht lieber Blödsinn, als dass er etwas zum Unterricht beiträgt. Wisst ihr, er lenkt im Unterricht meistens die anderen ab oder träumt vor sich hin. Manchmal verschwindet er auch einfach während ich etwas an die Tafel schreibe. Dabei bin ich mir ganz sicher, dass er ein sehr intelligenter Junge ist und es im Leben zu weit mehr bringen könnte, als nur zum Farmer. Versteht mich bitte nicht falsch. Farmer sind wichtige Leute, aber Tony könnte mit Leichtigkeit mehr aus seinem Leben machen, als auf irgendeiner Farm zu schuften. Er könnte irgendetwas weltveränderndes auf die Beine stellen." Sie schaute gedankenverloren in die Ferne.
William gluckste. „Mein Bruder soll etwas weltveränderndes tun? Sind das sicher nicht nur hochtrabende Träumereien einer Lehrerin, Maddie?"
Madison funkelte ihn wütend an. „Ganz sicher nicht, Will! Stille Wasser sind tief. Wir müssen an deinen Bruder glauben und ihm klarmachen was er kann. Du musst ihm das sagen."
William wich einen Schritt zurück und zeigte mit dem Finger auf sich selbst. „Ich?"
„Und ich", bestätigte Maddie nickend. „Es ist unsere Aufgabe als seine Lehrerin und sein Bruder. Bitte, William. Ich sage euch ganz ehrlich: Als ich die Blindschleiche auf meinem Pult sah, warf ich die Flinte ins Korn, dass Tony Karp sich jemals ändern würde, aber jetzt merke ich, dass noch lange nicht Hopfen und Malz verloren sind. Wir schaffen das. Wir drei zusammen." Die Augen der jungen Lehrerin sprühten vor Tatendrang und ihre ekstatische Art machte sich bemerkbar.
Cati war sofort Feuer und Flamme. Sie hackte sich bei ihrer Freundin unter und zog sie mit sich in Richtung Stadt. „Ich bin ganz deiner Meinung, meine Liebe. Meine Unterstützung hast du und Wills auch, oder Will?" Sie hob eine Augenbraue und blickte über ihre Schulter zu William, der ganz nachdenklich noch immer am selben Fleck stand.
Er nickte langsam.
Cati lächelte triumphierend und sah wieder nach vorne auf den Weg. „Oh ja, Maddie, wir werden diesen Jungen bearbeiten ohne das er es merkt und jeder in Eighford wird sich noch wundern, was für ein Prachtkerl aus ihm werden wird, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und alle werden stolz auf unsere junge Lehrerin sein."
Maddie lachte leise.
„Aber zuerst", Cati hob ihren rechten Zeigefinger und dabei schwang ihr Ridikül stark hin und her, „kaufen wir den Stoff für dein Brautjungfernkleid."
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