Kapitel 24

Keely

01. Februar 1900 Sonntag

Jedes Mal, wenn Abbie und Amilia mit ihrer Familie hier sind und dann wieder gehen, kommt mir das Haus noch leerer und ich mir noch einsamer darin vor. Terry ist zwar da, aber was ist die Anwesenheit eines Jungen schon im Vergleich mit der vier Erwachsener und drei Kindern – zumal Terry zurzeit viel mit seinen Freunden unterwegs ist -? 

Rachel fehlt. 

Ja, sie fehlt mir sehr, wenn die ganze Familie um den großen Tisch versammelt ist, alle lachen und scherzen und sich gut miteinander unterhalten. Vermutlich ist sie selbst schon längst verheiratet und zieht ihre eigenen Kinder groß. Mich braucht sie auf jeden Fall nicht, aber ich... ich brauche sie! 

Das Wissen, das in diesem Haus eine weitere Person großwerden und leben sollte und es nie getan hat, ja, dieses Haus womöglich niemals sehen wird, ist unerträglich für mich. Ihre fehlende Gesellschaft in den vergangenen Jahren, vor allem in den ersten nach Dereks Tod, setzt mir noch immer zu. 

Wie sie wohl aussieht? Ähnelt sie Dereck, oder mir? Was macht sie in ihrer Freizeit am liebsten und was mag sie nicht? Diese Fragen machen mich manchmal beinahe wahnsinnig. Ich hätte nie so dumm sein und sie weggeben sollen! 

Dieser Fleck in mir, der mit meiner Liebe zu ihr gefüllt sein sollte, ist nur halbvoll, da ich ihr meine Liebe nicht so zeigen kann, wie ich es gerne möchte. Ich liebe eine Person, die ich gar nicht mehr kenne. Ich kannte sie mal vor langer, langer Zeit, als sie noch ein hilfloses Baby war, aber jetzt ist sie eine Figur, eine Fremde in der Ferne, die unerreichbar für mich ist und in deren Leben ich nicht zu gehören scheine. 

Ich liebe Amilia, Abbie und Terry und auch Mattie und Timothy, keine Frage, aber Rachel können sie – kann niemand – mir ersetzen. Wie denn auch? Wie kann man jemanden ersetzen wollen, den man nicht kennt und der so oder so einen Platz in meinem Herzen hat, den er sich mit niemandem zu teilen braucht. 

Auch wenn ich Rachel, wie sie jetzt ist, nicht kenne, so bleiben sie und die Erinnerung an ihr doch für immer in meinem Herzen und die Liebe zu ihr erst recht. Und auch der Wunsch, dass sie doch zu mir zurückkommen möge. Vielleicht wäre es besser, wenn ich sie loslassen würde, aber das ist so schwer. Vermutlich kann ich es erst, wenn ich mir selbst vergeben habe, so wie Gott es von mir möchte. Aber das schaffe ich einfach nicht. Wie soll ich mir das jemals vergeben, wo ich mich dafür beinah selbst hasse. Ich weiß, Hass ist ein großes Wort und ich sollte es nicht zu schnell benutzen, aber manchmal, wenn der Schmerz am schwersten ist, dann hasse ich mich für meine Tat.

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Rachel

„Du musst mir helfen, Cati." Madisons flehender Blick bohrte sich in Catlens Augen. Sie umklammerte ihren Arm. 

„Warum bist du überhaupt noch hier, Maddie? Musst du nicht schon längst bei dem Fortbildungsvortrag sein?" 

Kläglich verzog Madison den Mund. „Das ist es ja. In weniger als einer Stunde beginnt der Vortrag, aber ich habe dummerweise Wills kleinen Bruder nachsitzen lassen. Ich kann ihn doch jetzt nicht gehen lassen. Bitte beaufsichtige du ihn, Cati. Du bist meine letzte Hoffnung." 

Catlen kicherte. „Was hat Tony, denn jetzt wieder angestellt?" 

„Das erzähle ich dir später, aber jetzt müssen wir uns beeilen, bevor er davonläuft." 

„Ist er alleine im Schulhaus?" 

„Ja! Stell, um alles in der Welt, nicht so viele Fragen, Cati, und komm einfach mit!" 

Catlen May lachte bei dem hysterischen Klang der Stimme ihrer Freundin. „Halt mal die Luft an. Ich komme sofort. Ich suche mir noch eben ein Buch." 

„Catlen May! Dafür ist jetzt keine Zeit! Du kannst dich im Bücherregal der Schule bedienen. Eins wird sicher dabei sein, das dir gefallen wird. Beeile dich jetzt endlich." 

„Jaja, ich hole nur noch eben meinen Hut. Du kannst schon mal vorgehen." 

Madison drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon. 

Wenig später folgte Catlen ihr und holte sie ein. „Was hat der kleine Rabauke denn zu tun?" 

„Er muss einen vierseitigen Aufsatz über gutes Benehmen und Manieren schreiben." 

Catlen pfiff leise durch ihre Zähne. Mutter würde es wohl auch für gut ansehen, wenn Cati einmal einen solchen Aufsatz schreiben und sie all die Regeln befolgen würde, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Vier Seiten! Der Arme junge... Und dann auch noch ein so elendes Thema und obendrein schien heute die Sonne so schön. 

Maddie tat, als hätte sie Catis wortlosen Kommentar nicht gehört und das hatte sie vielleicht auch nicht. Unbeirrbar eilte sie vorwärts. „Wenn er sich dir gegenüber nicht gut verhält, dann darfst du ihm noch eine weitere Seite aufbrummen, oder wenn er dich anlügt was seine Aufgabe betrifft." 

Catlen May warf ihrer Freundin einen Blick zu. „Meinst du nicht, dass du ein bisschen zu streng mit dem armen Kerl ins Gericht gehst, Maddie?" 

„Zu streng? Bei ihm kann man die Zügel gar nicht straff genug ziehen. Wer nicht hören will, muss fühlen. Im Übrigen, Cati, überlass mir bitte die Art der Bestrafungen und meines Unterrichtes, ja?" 

„Ich wollte mich nicht einmischen. Entschuldige, Madison." 

„Schon gut." 

Die beiden waren vom schnellen gehen und vielem reden schon ein wenig außer Atem, als sie beim Schulhaus ankamen. Sie schritten gerade auf die Eingangstür zu, als Catlen eine Gestalt entdeckte die sich seitlich des Hauses davonmachte. Sie musste unwillkürlich lächeln und legte ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter. 

„Was ist denn?" 

„Schau mal. Ich glaube, da will sich jemand aus dem Staub machen." 

Maddie folgte Catis Blick und ihr Gesicht wurde rot vor Wut. „O nein! Dieser freche, unverschämte Junge!" Sie raffte den roten Rock ihres Kleides hoch und rannte dem Ausreißer hinterher. 

Wenige Meter hinter ihr folgte Catlen ihr. 

„Tony! Tony Karp, bleib sofort stehen! Ich warne dich. Wenn du nicht sofort stehen bleibst, erhältst du eine Strafe die sich gewaschen hat." 

Doch der Junge ignorierte Maddies Warnung geflissentlich und lief weiter. „Oh dieser böse...", schnaufte die Lehrerin und erhöhte ihr Tempo. 

Woher nimmt sie nur diese Ausdauer? Catlen May bekam langsam Seitenstiche. 

„Tony Karp, bleib sofort stehen!" 

Wie der große so der kleine Bruder. 

Endlich war Madison nah genug an dem kleinen Ausreißer herangekommen, dass sie ihm am Ärmel packen konnte. Sie griff zu und hielt ihn fest. Der Junge versuchte sich zu wehren, aber es war aussichtslos für ihn. Madison hielt ihn eisern umklammert. „So hilf mir doch endlich, Cati. Wo bleibst du denn?" 

Vollkommen aus der Puste hielt Catlen vor ihrer Freundin an. „Ich bin erledigt. Du kannst mich sofort wieder nach Hause fahren und-" 

„Nichts da, du bleibst hier! So, Tony, jetzt zu dir." 

Der Junge sah schuldbewusst zu Boden. 

„Was hast du dir nur dabei gedacht einfach so davonzulaufen? Als Strafe gibt es eine weitere Seite für den Aufsatz. Und jetzt komm mit." Sie packte den Jungen an den Schultern, drehte ihn Richtung Schulhaus und schob ihn darauf zu. „Übrigens, Cati, möchte ich, dass du Tony nach Hause bringst. Ich will nicht, dass er seiner Mutter etwas vorschwindelt." 

„Ja, Miss. Ich werde alles tun was Sie von mir verlangen." 

Catlen lächelte schelmisch und trabte neben den beiden her. 

„Ich wusste ja gar nicht, dass Sie so schnell laufen können, Miss Stuart." 

Tony sah seine Lehrerin bewundernd an. Ob er wohl einen Teil seines Schadens wieder gut machen wollte? 

Catlen musste sich mit aller Macht ein Lachen verkneifen. „Wenn du wüsstest, Tony..." Sie öffnete die Tür der Schule und sie alle schlüpften hindurch. „Miss Stuart war früher die schnellste Läuferin-" 

„Es reicht, Cati." Madison warf Catlen May einen warnenden Blick zu und sah dann zu Tony herunter. „Du darfst mich niemals unterschätzen, kleiner Mann. Und jetzt ab mit dir an deine Arbeit." 

Stöhnend ließ sich Tony auf seinen Platz fallen und begann mit seinem Aufsatz.

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Die Sonne berührte schon die Wipfel der Bäume und hüllte den Klassenraum in ein herrlich schönes Orangefarbenes Licht. Tony warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. Drei Seiten hatte er schon fast beendet. Jetzt drehte er seinen schwarzen Lockenkopf zu ihr und sah sie mit einem flehenden Blick an. „Bitte, Miss Gillwater, kann ich die anderen beiden Seiten nicht morgen schreiben? Ich will spielen." 

Strengschüttelte Catlen May den Kopf. „Nein, das darfst du nicht. Morgen wirst du noch weniger Lust haben."  

Der Junge sackte in sich zusammen. Er ballte seine rechte Hand zu einer Faust, knallte sie auf den Tisch und stützte dann sein Kinn darauf. „Das ist doch so unnötig. Ich werde mir nie wieder diesen Aufsatz durchlesen. Was nützt er mir also? Schule braucht doch keiner." 

Wieder schüttelte Catlen den Kopf, doch dieses Mal war es über den Jungen. „Doch, Schule und Bildung sind sehr wichtig." 

„Find ich nicht." 

„Es ist aber so." 

„Nein." 

„Doch." 

„Nein." 

„Schreib weiter, Tony Karp." Sie klang unerweichlich und ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. 

So fügte sich der Schüler und stellte seine Strafarbeit, nach einer weiteren Stunde, fertig. „Fertig!", verkündete er strahlenden Angesichts. 

Dem Himmel sei Dank. Catlen atmete erleichtert auf und klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. „Schön. Gib mir die Seiten und ich werde sie dann Miss Stuart geben." 

Der Junge gehorchte und Cati überflog kurz die Blätter, ob auch wirklich jede Seite vollbeschrieben war. „Du hast wohl deine größte Schrift gewählt, was?" Sie sah den Jungenstreng an, aber lächelte sofort wieder. Tony öffnete seinen Mund, um sich zurechtfertigen, doch Catlen fiel ihm ins Wort. „Das hätte ich auch gemacht." Sie hatte den Aufsatz zu einer Rolle zusammengerollt und tippte ihm damit jetzt spielerisch auf den Kopf. Die beiden grinsten sich spitzbübisch an. 

„Na dann wollen wir mal, oder? Deine Eltern warten sicher schon auf dich." 

Es sah so aus, als würde dem Rabauken jetzt erst bewusst, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand. „Hoffentlich werden sie nicht sehr böse sein." 

Catlen May legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn aus der Schule. „Glaub mir: Sie sind es schon gewohnt, dass ihre Söhne Unfug machen." 

Er sah zu ihr auf. „Echt? Von wem denn?" 

„Das kannst du deinen großen Bruder fragen." 

Sie hatten das Schulgebäude schon weit hinter sich gelassen, da fragte Tony: „Was wollten Sie vorhin sagen, als Miss Stuart sie unterbrochen hatte?" 

Catlen zögerte. Es wäre Maddie nicht recht, wenn sie einem ihrer Schüler erzählen würde, dass ihre Lehrerin genauso unbändig war wie sie. „Ach, das ist unwichtig. Wir sollten uns ein bisschen beeilen; es wird schon bald dunkel." 

Sie gingen schneller und schon bald kamen sie bei der Farm der Karps an. 

„Tony, du böser Junge!", rief Mrs Karp, als die Tür auf das Klopfen von Catlen öffnete. „Wo hast du nur gesteckt?" 

Beschämt sah der Junge auf seine Fußspitzen. 

„Sag es ihr, Tony!" Ermutigend drückte Cati ihm die Hand. 

„Ich musste eine Strafarbeit schreiben", gab er kleinlaut zu. 

Seine Mutter stemmte die Hände in die Hüfte. „Tony, wie oft sollen wir dir noch sagen, dass du dich benehmen sollst? Du treibst es beinah noch schlimmer als William." 

„Echt?" Jetzt sah Tony wieder auf und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den Cati nicht beschreiben konnte, aber der sie unwillkürlich lächeln ließ. 

„Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Mrs Karp und auch dir Tony." Leise fügte sie hinzu. „Benimm dich in Zukunft besser." 

Sie drehte sich um und ging schnellen Schrittes in Richtung ihrer Elterlichen Farm. Ein Rufen hinter ihr ließ sie anhalten und zurückschauen. William Karp eilte auf sie zu. 

„Cati, warte mal!" 

Sie tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Eigentlich hatte sie damit gerechnet schon längst zu Hause zu sein, aber Tony hatte viel zulange für seine Strafarbeit gebraucht und jetzt hielt auch noch sein großer Bruder sie auf. „Kann ich etwas für dich tun, Will?" 

Er blieb vor ihr stehen und sah sie ganz verwundert an. „Warum bringst du Tony nach Hause? Hat er bei euch auf der Farm Hühner geklaut oder ihnen die Federn ausgerupft?" 

Cati grinste breit und ihre Verstimmtheit verflog. „Nein, zum Glück nicht. Er ist zwar ein kleiner Unruhestifter, aber kein Verbrecher – im Gegensatz zu dir." Ihre Augen funkelten ihn schelmisch an. 

Er hingegen tat ganz ahnungslos und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß gar nicht was du meinst." Er grinste breit, wurde ab er schnell wieder ernst. „Sag schon: Warum hast du ihn nach Hause gebracht?" 

Catlen seufzte. „Bei deinem Bruder scheint Hopfen und Malz verloren zu sein, Will. Er musste eine Strafarbeit von vier Seiten schreiben und als er fortlaufen wollte, hat seine geliebte Lehrerin ihm noch eine weitere aufgebrummt." 

William schüttelte den Kopf. „Maddie könnte ruhig etwas sanfter mit ihm umgehen – Ich weiß wovon ich da spreche." 

Cati malte mit ihrem Schuh ein Muster in den Boden. „Dein Bruder könnte aber auch wenigstens ein Mal seine gute Seite zeigen." 

William seufzte frustriert und kratzte sich dann am Hinterkopf. „Das war eigentlich nicht der Grund warum ich mit dir reden wollte, Cati..." Er zögerte und Catlen merkte, dass er irgendwie angespannt war, ja beinahe nervös.

„Ja?", hackte sie nach und zog ermutigend die Augenbrauen hoch. 

Er räusperte sich und biss sich kurz auf die Unterlippe. Cati kannte diese Angewohnheit. Schon in der Schule hatte er sich immer auf dieselbe Art geräuspert und dann auf die Unterlippe gebissen, wenn er gleich einen Vortrag halten oder sich entschuldigen musste und vor allem, wenn er aufgeregt war. Sie musste unwillkürlich grinsen bei dieser Erinnerung. 

„Tja... ich wollte dich fragen, ob ich dich am Freitag vielleicht besuchen könnte?" 

Catlen May stockte der Atem. Ihr Lächeln verschwand. Ein geschocktes „Oh!" entfuhr ihr. Das hatte er gerade doch nicht wirklich gefragt, oder? Träumte sie? Sie kniff sich in den Oberarm und verzog vor Schmerz das Gesicht. Natürlich war sie wach, schon den ganzen Tag – leider... Aber jetzt lächelte sie wieder. Er wartete ja noch immer auf eine Antwort. „Gerne, Will. Ich werde um neunzehn Uhr auf dich warten." 

Er nickte strahlend. „Dann bis Freitag." 

„Ja, bis Freitag." Sie hob die Hand und wandte sich, immer noch lächelnd, zum Gehen. Wer hätte das gedacht, dass aus zwei Feinden irgendwann einmal Freunde wurden?

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