Kapitel 22
„Cati!" Madison rannte auf ihre beste Freundin zu und umarme sie so stürmisch, dass diese mit ihrem Gleichgewicht zu kämpfen hatte. „Endlich bist du da! Ich habe mich so gefreut, als dein Telegramm ankam." Maddie lies Cati los. „Wie war deine Reise?"
„Gut." Catlen May musterte ihre Freundin. Sie sah abgespannt aus. Unter ihren trüben Augen lagen dunkle Ringe und ihren Mund umspielten wehmütige Züge. Madison litt, das sah Catlen May auf den ersten Blick. Die Freundinnen nahmen die Reisetasche auf und gingen zum Wagen.
„Wieso bist du gekommen? Ich war ganz überrascht als ich das gelesen habe." Gemeinsam hievten sie die Tasche auf den Wagen und kletterten hinterher.
„Ich wollte bei dir sein."
Maddie knallte mit den Zügeln und die Pferde trabten los.
„Ich konnte es einfach nicht mit mir ausmachen dort zu bleiben, während es dir so schlecht geht."
Maddie wischte sich mit der Hand über die Augen. „Das ist sehr lieb von dir, Cati. Wie lange wirst du bleiben?"
„Vier Wochen. Ich habe selbst einiges zu verarbeiten und ich glaube du brauchst mich in den nächsten Wochen auf unterschiedlichste Weise."
Madison nickte und schwieg. Cati beobachtete ihre Freundin. Sie schein in ihre eigene Welt abgetaucht zu sein. Was sie wohl dachte? Was beschäftigte sie gerade? Cati beschloss zu warten. Maddie wusste, dass sie ihr zuhören würde und dass sie für sie da war. Wenn Maddie bereit dazu war, würde sie sprechen.
„Wie geht es Hailey?"
Cati lächelte unwillkürlich. „Sie hat beim Abschied einen Satz zu mir gesagt ohne zu stottern. Sie hat gesagt: 'Ich hab Sie lieb, Miss Cati'. Ich habe mich wie in einem Märchen gefühlt. Es war der erste Satz, den sie ohne zu stottern gesagt hat und er galt mir! Ich kann das gar nicht glauben. Es erscheint mir so unverdient. Es hätte ihr Vater sein sollen, dem sie das gesagt hat."
Madison schüttelte den Kopf. „Es war nicht ihr Vater, der ihr zugehört, ihren ganzen Schmerz aufgearbeitet hat und mit ihr die Schritte zur Heilung gegangen ist, sondern du warst es. Du hast es voll und ganz verdient. Schau dem geschenkten Gaul nicht ins Maul."
Cati nickte bedächtig. Nein, das würde sie nicht tun. Sie würde dieses einzigartige Geschenk dankbar annehmen und sich noch ganz lange daran erfreuen.
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Cati ging am Abend des nächsten Tages zu Madisons altem Haus. Sie stand da, wie vom Blitz getroffen, als sie die Ausmaße der Zerstörung erblickte. Sie konnte verstehen, dass ihre Freundin bei diesem Anblick zusammengebrochen war. Wenn sie nur wüsste, wie sie Maddie helfen könnte! Sie konnte ja nicht verhindern, dass sie Albträume hatte. Aber sie konnte verhindern, dass Madison sich von negativen Gedanken bestimmen ließ. Sie würde ihrer Freundin zuhören, ihr Mut zusprechen und sie wieder aufmuntern.
Aus diesem Grund versuchte Cati Maddie jeden Tag zu besuchen. Maddie erzählte ihr von ihren Albträumen und den Gedanken die ihr einredeten, dass sie verantwortungslos sei und deshalb auch eigentlich nicht dazu geeignet war Lehrerin zu sein. Sie machte sich Vorwürfe und hatte Angst, dass die Stadt ihr niemals wieder ein Haus zur Verfügung stellen würde. Sie hätte das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ausgenutzt und womöglich auch ihren guten Ruf zunichte gemacht. Cati war erstaunt welchen unsinnigen Gedanken ihre Freundin Glauben schenkte und deshalb gleichzeitig froh und dankbar ihr in diesem Gedankenchaos beistehen zu können. Ihr wurde bewusst, dass Madison innerlich genauso zerstört zu sein schien, wie ihr Haus. Es würde viel Kraft brauchen, dieses Haus wieder aufzubauen und es würde Cati und Maddie viel Kraft kosten, Maddies Innere wieder aufzurichten.
Doch auch Cati begann zu zweifeln, ob ihre Arbeit als Gouvernante wirklich eine dauerhafte Lösung war. Sie war sich von Anfang an bewusst gewesen, dass sie nicht für immer bei Hailey bleiben würde, aber sie hatte es verdrängt. Was würde geschehen, wenn die nächste Arbeitsstelle sie genauso wenig ausfüllen würde, wie die bei den Torres? Hatte sie den Sinn des Lebens doch nicht gefunden? Hatte sie selbst Monate lang den Lügen geglaubt, die ihr Kopf ihr zuflüsterte – oder war es eher die Sehnsucht, die sie verspürt hatte, die Sehnsucht endlich anzukommen? War sie die ganze Zeit in die falsche Richtung gelaufen und hatte am Ziel vorbeigelebt? Eine gähnende Leere breitete sich erneut in ihr aus – oder war sie die ganze Zeit da gewesen, nur sie hatte versucht sie zu verdrängen oder mit ihrer Aufgabe, die sie in Hailey fand zu füllen?
Catlen May war verwirrt. Sie haste diese Suche allmählich. Sie wollte ankommen. Sie wollte endlich am Ziel ankommen! Doch wo war dieses Ziel? So manches Mal kam ein stummer Schrei in ihr auf. Hilf mir! Bitte lass mich den Sinn des Lebens finden, bitte!
Nur: An wen war diese bitte gerichtet? Vielleicht an niemanden, vielleicht an Gott, aber Cati hatte das Gefühl, dass Gott sie nicht hören konnte. Für sie lebte er im Himmel und das Leben auf der Erde schien ihm relativ egal zu sein. In ihren Augen kümmerte er sich nur um die Guten, und dass sie definitiv nicht dazu gehörte, dessen war sie sich nur zu bewusst. Und so verhallte diese Bitte stets in ihr, ohne auch nur eine Antwort zu bekommen.
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Was Maddies innere Heilung betraf, so machte sie große Fortschritte. Dies verdankte sie nicht nur ihrer besten Freundin, sondern auch einer Person, die ganz plötzlich in ihr Leben getreten war und nun begann darin eine immer größer werdende Rolle zu spielen. Dieser jemand war niemand geringerer als Tristan Avens. Catlen May war dankbar, dass er da war, denn sie wusste, was er ihrer Freundin bedeutete. Sie ermutigte ihn sogar heimlich, Zeit mit ihrer besten Freundin zu verbringen. Dadurch würde Cati bei ihrer Freundin zwar sicher manches mal etwas zu kurz kommen, aber diese Stunden würden ihr hoffentlich guttun und ihr dabei helfen, um über das Geschehene hinwegzukommen.
Als Tristan dann allmählich begann Catis Aufmunterungen zu folgen und die Tipps, die sie ihm reichlich gab, zu beherzigen, stellte sich diese Theorie als erfolgreich heraus. Nicht nur Maddies Albträume verschwanden, sondern auch die Gedanken, die ihr Lügen über sich selbst einredeten und die alte Maddie kehrte wieder zurück.
Als Tristan Maddie dann eines Abends besuchen kommen wollte, konnten sich die beiden Freundinnen vor Aufregung gar nicht mehr beruhigen. Gleich am darauffolgenden Tag musste Maddie ihrer Freundin alles erzählen. Diese hatte von ihrer Mutter eine Aufgabe bekommen, bei der sie dringend Madisons Hilfe brauchte und so verknüpften sie das Eine mit dem Anderen.
So standen sie dann am Samstagmorgen auf der Veranda der Gillwaters. Die beiden jungen Frauen waren allein und konnten so offen über alles reden, nur das Cati im Moment nicht sehr nach reden zumute war.
Catlen May stemmte ihre Hände in die Hüften und musterte das Möbelstück genauer. Der Stuhl war im neuesten Jugendstil geschnitzt worden und Mutter hatte natürlich nicht widerstehen können das moderne Stück zu ergattern. Cati schüttelte den Kopf. Warum hatte Mutter ausgerechnet ihr die Einrichtung der Veranda überlassen? Sie hatte keine Ahnung wohin mit den vier Stühlen und schob sie von einer Ecke in die andere.
Madison Stuart stand lässig an dem Verandageländer gelehnt und starrte mit einem verträumten Blick auf die Haustür. Cati hatte sie um Hilfe gebeten, aber Maddie war mit ihren Gedanken weit, weit weg. „Ach, Catiechen, du weißt nicht wie aufregend das war. Ich bin das glücklichste Mädchen aus ganz Missouri." Sie stieß sich vom Geländer ab und begann hin und her zu gehen.
„Und ich das Hilfloseste und Verzweifelteste", murmelte Catlen und tippte mit dem Fuß auf den Boden. Am liebsten hätte sie alles stehen und liegen gelassen und wäre zur Blumenwiese am Stadtrand geflohen, doch das ging nicht.
Maddie hörte das Jammern ihrer Freundin nicht. Sie drehte sich euphorisch kichernd um die eigene Achse und hauchte dann mit theatralisch schwärmerischer Stimme: „Madison Avens." Mit einem imaginären Stift schrieb sie die Worte in die Luft. „Hört sich das nicht wie die reinste Melodie an?" Sie seufzte gedankenverloren.
Wütend wirbelte Cati zu ihrer Freundin herum. „Madison Stuart! Ich habe dich um Hilfe gebeten und du stehst nur da und träumst. Jetzt hilf mir doch endlich! Ich verzweifle hier an meinem kreativen Unvermögen und du starrst Löcher in die Luft."
Betroffen knetete Maddie ihre Unterlippe. „Es tut mir leid, aber du hast mir ja auch nicht zugehört. Ich habe dir mein Herz ausgeschüttet und du beschäftigst dich nur mit diesen dämlichen Stühlen. Deine Sorgen sind wirklich trivial, wenn man bedenkt, was ich gerade erlebe." Madisons Stimme verwandelte sich von aufgebracht zu sanfter Aufregung.
Cati musste schmunzeln und es sich gleichzeitig verkneifen ihre Augen zu verdrehen. „Ist schon gut. Ich habe dir ja zugehört - zum Teil jedenfalls. Lass uns jetzt bitte erst hier fertig werden und dann können wir uns unterhalten, ja?"
Maddie lächelte. „Einverstanden. Wir werden diese triste Veranda in Null Komma nichts zu einem idyllischen Ort machen, der es Wert sein wird gemalt zu werden."
Cati lachte und Maddie behielt mal wieder recht. Agil bewegten sich die beiden jungen Frauen nun über die Veranda. Zuerst rollten sie einen Teppich auf dem Boden aus und platzierten die Möbelstücke so, dass sie eine einladend gemütliche Atmosphäre ausstrahlten. Mit ein paar Kissen auf den Stühlen und einem Tisch mit einer blumengefüllten Vase, sah die Veranda heimelig aus.
Entzückt schlug Madison die Hände zusammen. „Es sieht so aus, als würde hier eine unsichtbare Teegesellschaft stattfinden."
Catlen May lachte. „Oh Maddie, du hast eine ausgeprägte Fantasie."
Madison grinste nur schief und ließ ein Glucksen hören. „Deine Mutter wird auf jeden Fall zufrieden sein."
„Das hoffe ich doch. Sie hat nicht gerade wenig für die Stühle bezahlt."
Mit einer Handbewegung wischte Madison Catis bedenken fort. „Sie wird schon nichts zu meckern finden. Deine Idee mit dem Teppich war einfach nur phänomenal, Liebste. Vielleicht hast du doch eine ganz zarte Ader von Kreativität. Du musst jetzt nur am Ball bleiben. Noch ist nicht aller Tage Abend." Sie zwinkerte Catlen zu, doch diese zuckte nur mit den Achseln. Das glaubte sie eher weniger.
Mutter liebte es leere Räume einzurichten, Handarbeiten zu machen und ihren Ideen für neue Dekorationsmöglichkeiten freien Lauf zu lassen. Cati seufzte. Wieso nur hatte sie so wenig von Mutter geerbt? Doch sie wollte sich nicht in Wünsche verlieren, die sich nie erfüllen würden. Sie straffte ihre Schultern und sah ihre beste Freundin mit funkelnden Augen an. „Ich mache uns jetzt Tee und hole uns Kekse. Dann kannst du mir alles berichten, was dir auf der Seele brennt."
Wenig später saßen die beiden jungen Frauen auf der Veranda und ließen sich Tee und Kekse schmecken, während Maddie in einem Fort redete und in immer schwärmerischen Tönen davon sprach ihren Beruf als Lehrerin aufzugeben und Hausfrau zu werden. Und Tristan Avens Ehefrau – obwohl sie sich erst einmal getroffen hatten und er ihr weder einen Antrag, noch sonst irgendwelche Andeutungen in diese Richtung gemacht hatte.
„Vielleicht ist das ja der Sinn des Lebens", beendete sie schließlich ihren langen Monolog.
Cati runzelte die Stirn. „Was meinst du genau?"
„Na, heiraten und dafür sorgen, dass das Leben hier auf der Erde weitergehen muss."
Catlen May rieb sich ihr Kinn. „Aber warum muss das Leben weitergehen?"
Maddie blies schnaubend die Luft aus. „Du nimmst mir jedes Mal, die Hoffnung, dass wir unser Ziel endlich erreicht haben."
„Tut mir leid, aber bisher war einfach keiner unserer Gedankengänge befriedigend für mich oder ergab auf lange Sicht Sinn. Ich habe als Gouvernante zuerst kläglich versagt und wer weiß, wie lange es noch dauert bis ich auch bei den Bradles überflüssig bin. Außerdem merke ich gerade, dass diese Arbeit mich doch nicht so sehr ausfüllt, wie ich geglaubt habe."
Maddie tätschelte aufmunternd ihre Hand. „Gib nicht so schnell auf, Catiechen. Irgendwo wird dein Platz sein und ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lange dauert bis dieses „Irgendwo" zu einem bestimmten Ort wird."
„Dein Wort in Gottes Ohr. Manchmal habe ich das Gefühl noch wahnsinnig zu werden, wenn unsere Suche nicht bald erfolgreich sein wird."
„Ich werde schon dafür sorgen, dass du alle Kaffeetassen im Dachstübchen beisammenhältst. Hab Geduld und warte ab. Alles hat seine Zeit und alles hat seinen Grund."
„Nur welchen?"
Maddie seufzte frustriert. „Jetzt lass all die dämlichen Fragen doch für kurze Zeit ruhen und genieße diesen herrlichen Augenblick: Das Zwitschern der Vögel, die leichte Brise, das Rascheln der Blätter, die frische Herbstluft und all diese Farben."
Cati schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Sie wollte einfach an nichts denken, sondern einfach nur die Dinge genießen, die Maddie ihr gerade vor Augen geführt hatte. Und während sie sich entspannte kam ihr eine zaghafte Erkenntnis. „Vielleicht gehört es zum Sinn des Lebens, dass wir die Schönheit der Natur und diese friedlichen Augenblicke und Momente mit unseren Liebsten genießen", murmelte sie.
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