Kapitel 2

Seit zwei Tagen lag Derecks Sarg jetzt schon unter der Erde. Keely hatte Dianne nach Hause geschickt und war jetzt mit Rachel allein. Sie weinte viel – eigentlich durchgängig. Der Trauerrand um ihr Herz war so dunkel und tief. Zudem kam noch die Sorge um Rachel. Sie war noch nicht bereit sich auch von ihr zu trennen. Sie überlegte hin und her, doch alle Pläne die sie sich zurechtlegte verwarf sie wieder. Es gab keinen Ausweg aus dieser Situation. Ich muss mit den Konsequenzen meiner Sünde leben. 

Heute Morgen, als sie Rachi wickelte wusste sie, dass es das letzte Mal war. Wenn sie Rachel nicht jetzt sofort weggab, würde sie es nie übers Herz bringen. Also packte sie nach dem Frühstück Rachels Sachen zusammen, bereitete Verpflegung für die Fahrt vor, spannte die graue Stute vor den Einspänner, legte Rachel in einen mit Decken ausgelegten Korb, stellte diesen zu ihren Füßen auf den Einspänner und fuhr los.

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Das Waisenhaus war viel zu riesig, für Keelys Geschmack. Es wirkte wie ein überdimensionales Monstrum aus Backstein in einer, für dieses Waisenhaus, viel zu kleinen Stadt. Die Leute gingen daran vorbei ohne sich Gedanken darüber zumachen, dass hinter diesen Mauern Kinder lebten, die keine Eltern mehr hatten. Wie viele es wohl waren? Die Größe sprach für sich. Kamen die Kinder hier her und verlebten ihre besten Jahre hinter diesen Mauern? Ohne Familie? Rachel gehörte hier nicht hin, aber was sollte es schon? Es gab keinen anderen Ausweg. Keely hielt den Einspänner vor dem Meterhohen Zaun. Jemand kam und öffnete und winkte ihr hineinzufahren. Keely folgte der Aufforderung und fuhr durch das Tor. Vor ihr schlängelte sich ein Sandweg zu dem Doppeltürigen Eingang. Links und rechts von dem Weg umgaben Grünflächen das große Gebäude. Auch Blumenbeete entdeckte Keely. Auf den Fensterbänken im Erdgeschoss standen schmale Blumenkübel in die Hyazinthen und Veilchen gepflanzt waren. Sie ließen das Monstrum freundlicher erscheinen und Keely hatte das Gefühl, dass Rachi hier vielleicht doch glücklich werden könnte. Auf jeden Fall glücklicher als bei mir. Sie kletterte vom Kutschbock, langte nach dem Korb in dem Rachel lag und nach dem Koffer in der ihre Kleider verstaut waren. Schweren Herzens schritt sie auf das Haus zu. Vier dicke hohe Säulen stützten einen schmalen Balkon, der die Treppenstufen und die Haustüren überschattete. 

Auf Keelys Klopfen öffnete ein junges Mädchen mit einer weißen Haube die Tür. „Sie wünschen?" 

Keely schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Kann ich bitte mit Mr Callum Gillis oder seiner Frau sprechen?" Rachel regte sich in dem Korb. Bitte, bitte wach nicht auf. 

„Natürlich, Ma'am. Kommen Sie rein." Mit einem freundlichen Lächeln trat das Mädchen zur Seite und ließ Keely eintreten. 

Die Eingangshalle war lang, aber schmal. Ein Bronzefarbener Kronleuchter hing von der Decke. Die Wände waren mit hellbraunen Tapeten tapeziert und ließen das Waisenhaus seriös wirken. Das junge Mädchen führte Keely den Flur entlang zu einer Tür. An dieser prangte ein Schritt mit der Aufschrift: Büro Mr C. Gillis. Das Mädchen klopfte. Auf ein tiefes „Herein" öffnete sie die Tür, nickte Keely zu und verschloss die Tür wieder, als diese eingetreten war. 

„Keely!" Der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch erhob sich. „Was in aller Welt machst du hier?" Er kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Keely stellte den Koffer ab und schüttelte seine Hände. Callum Gillis war ein alter Freund aus Kindertagen. Er hatte lange Zeit in der Schule hinter ihr gesessen und zusammen mit Dereck so manchen Streich ausgeheckt. Später waren die beiden Jungen so unzertrennlich geworden, dass er auch Derecks Trauzeuge wurde. Sie hatten sich immer gut verstanden. Jetzt war er ein Mitarbeiter in diesem Waisenhaus. 

„Hallo, Callum. Ich-" „Wie geht es euch, Keely", unterbrach er sie und strich sich eine vorwitzige blonde Strähne aus seiner Stirn. „Dereck hat auf meinen letzten Brief noch nicht geantwortet, ich habe also lange nichts mehr von euch gehört." 

Keely biss sich kurz auf die Unterlippe. Sie beschwor sich, nicht in Tränen auszubrechen und sagte leise: „Dereck ist tot, Callum. Vor zwei Tagen haben wir ihn beerdigt." 

Callum taumelte, als hätten ihre Worte ihn geschlagen, zurück. Er starrte sie aus seinen braunen Augen an. Dann schien er zu begreifen. Er sah auf ihr schwarzes Kleid, dann wieder in ihre Augen. „Ich habe gar nicht bemerkt... Ich wusste gar nicht... Mein Beileid, Keely." Er raufte sich seinen blonden Haarschopf und ging unsicher zu seinem Stuhl zurück. Mit einer Hand deutete er auf den Stuhl ihm gegenüber. Keely setzte sich. Rachel begann in ihrem Korb zu wimmern und Keely hob sie heraus und drückte sie an sich. Knapp und mit zittriger Stimme erzählte sie Callum von den Geschehnissen der letzten Tage. Schließlich schien die Nachricht bei ihm angekommen zu sein. Er starrte lange vor sich hin. Keely schien es, als hätte er vergessen, dass sie da waren. In diesem Moment begann Rachi zu weinen. Keely stand auf, wippte sie auf ihrem Arm hin und her und summte vor sich hin. 

Callum sah auf. „Tut mir leid, Keely." Wieder fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Seine unbändige Mähne steckte nun in alle Richtungen. „Und warum bist du jetzt hier?" 

Keely setzte sich wieder. Sie suchte nach Worten. Sag es einfach gerade heraus. „Ich will Rachel zur Adoption freigeben." Stockend kam der Satz über ihre Lippen und sie konnte Callum dabei nicht in die Augen schauen. Sie heftete ihren Blick auf die Tischplatte, als hinge ihr Leben davon ab. 

Callum schnappte erschrocken nach Luft. „Ist das dein Ernst? Du willst freiwillig dein Kind weggeben, Keely? Derecks und dein Kind?" 

Keely starrte ihn an. In seinen Augen sah sie, dass er sie nicht verstand, ja ganz und gar entsetzt von ihrem Vorhaben war. Sie nickte nur schwach. „Ich habe nachgedacht und halte das für das Beste. Dereck hat hohe Schulden beim Bauen des Hauses gemacht. Er wollte sie mit der Ernte dieses Jahres abbezahlen. Es ist auch schon gesät... Jedenfalls muss ich arbeiten gehen, um die Schulden zu bezahlen. Außerdem braucht Rachel einen Vater. Ich bin noch zu jung, als dass ich sie allein erziehen könnte. Mit Dereck zusammen könnte ich es schaffen, aber allein..." Gegen ihren Willen liefen Tränen über ihre Wangen. „Bitte, C-Callum", schluchzte sie, „nimm Rachi hier auf. Gib sie in eine christliche und Gottesfürchtige Familie. Ich kann sie nicht behalten. Es geht einfach nicht." 

Sie erinnert mich zu sehr an Dereck. Außerdem bin ich zu unfähig, um sie zu erziehen. Und ich habe Angst sie weiterhin zu lieben und dann auch noch mit anzusehen wie sie stirbt. Doch das alles behielt sie für sich. 

Callum atmete tief durch. Er beugte sich vor und stützte die Unterarme auf den Tisch. Fest sah er sie an. „Keely, keines dieser Kinder ist freiwillig hier. Keines von ihnen ist wirklich glücklich, weil sie immer wieder daran erinnert werden, dass sie keine Eltern mehr haben, weil diese gestorben sind oder sie nicht mehr wollten. Weißt du was das für ein Gefühl ist? Weißt du wie diese Kinder leiden?" 

„Hör auf!" Keelys Stimme war lauter als sie wollte. Rachel erschreckte sich und begann wieder zu weinen. Keely drückte sie fest an sich, während weitere Tränen über ihr Gesicht strömten. „Ich habe meine Gründe, Callum. Bitte nimm sie und gib ihr die größte Liebe, die ein Patenonkel seinem Patenkind nur geben kann, ja?" Ihre Stimme war von Tränen erstickt. 

Callum sah sie nachdenklich an. Er stäubte sich dagegen ihrem Flehen nachzugeben und das machte es Keely nicht gerade leichter. Sie tat so als würde sie es nicht bemerken und beugte sich zu dem Koffer runter und stellte ihn auf den Tisch. „Hier habe ich ein paar Sachen für sie. Sie ist ein sehr pflegeleichtes Kind und wird euch nicht viele Schwierigkeiten machen." Sie sah ihn schüchtern an. Was würde er jetzt tun? „Muss ich noch irgendein Formular ausfüllen?" 

Er nickte und kramte in einer Schublade. Er reichte ihr einen Papierbogen, erklärte ihr einiges und schwieg, damit sie alles in Ruhe durchlesen konnte. Als sie alles unterschrieben hatte, gab sie ihm das Papier zurück. 

Er zögerte. „Ich kann das nicht unterschreiben, Keely. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?" 

Sie schüttelte entschlossen den Kopf. 

Er seufzte. „Na gut, wie du willst." Er beugte sich über das Formular und kritzelte seine Unterschrift darauf. 

Ein Stich ging durch Keelys Herz. Sie brachte nicht mehr als ein schwaches „Vorbei?" heraus. Callum nickte. Keely drückte Rachel fest an sich und flüsterte so leise, dass Callum es nicht hören konnte. „Ich liebe dich, mein Schatz und ich werde dich immer lieben. Es tut mir so unendlich leid. Auf Wiedersehen." Sie wischte sich mit der Hand über die Wangen, aber es nützte nichts, die Tränen flossen unaufhaltsam und benetzten erneut ihre Haut.

Callum war um den Tisch herumgekommen und drückte freundschaftlich ihren Arm. Sie drückte ihm Rachel in die Arme und sah bittend zu ihm auf. „Versprich mir, dass du sie in eine gottesfürchtige Familie gibst, Callum. Pass auf sie auf, ja?" 

„Ich verspreche es." Es war wohl das schrecklichste Versprechen, das er jemals getan hatte. 

„Und wenn sie hier groß wird, dann erzähle ihr nichts von mir. Außer dass ich sie aus Liebe hergab." Er nickte wieder. „Danke, Callum. Für alles." Sie beugte sich noch einmal über Rachel und küsste sie. „Gott beschütze dich immer, Rachi", murmelte sie. 

Dann drehte sie sich um und floh mit den Worten: „Auf Wiedersehen, Callum." aus dem Zimmer.

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