Kapitel 19


Keely

Sie schloss sie Augen und faltete die Hände in ihrem Schoß. Die angenehme Stimme des Pastors, die über gesunde Beziehungen und wie diese mit Nächstenliebe zusammenhängen sprach, war das einzige Geräusch, dass zu hören war. Obwohl? Ein leises „Mama" erklang von der letzten Reihe. 

Keely lächelte. Die Stimme ihres Enkels Finnley war unverkennbar. Und das „Pscht", das nun folgte kam eindeutig von Amilia. 

Keelys lächeln vertiefte sich. Finn war in ihren Augen viel zu niedlich, als dass sie ihm irgendetwas verbieten könnte. Sie verwöhnte ihre beiden Enkelkinder. Amilia schimpfte sie zwar manchmal deshalb, aber Keely empfand es als ihre Pflicht diesen beiden Jungen ihre ganze Liebe zu geben und ihnen das zu geben was sie wollten – natürlich nur wenn sie keinen Schaden davontrugen. Amilia war nach ihrem Geschmack etwas zu streng und zu ernst in dem Umgang mit ihren Kindern. Doch nichtsdestotrotz war sie eine wundervolle Mutter. Keely hatte nur das Gefühl an ihren Enkeln das gut machen zu müssen, was sie an Rachel versäumt hatte. Sie hätte Rachel zwar niemals verwöhnt, aber dass sie das bei ihren Enkeln tat befriedigte sie irgendwie. 

Keely öffnete wieder ihre Augen. Sie musste sich auf die Predigt konzentrieren. „Gibt es jemanden, von dem du dir wünschst, dass er gerade in diesem Moment neben dir hier im Gottesdienst sitzt? Gibt es eine Person, die du sehr stark vermisst? Jemand, der dich verlassen hat, der sich ohne dich ein Leben aufbauen wollte oder musste. Vielleicht möchte dieser jemand keinen Kontakt mehr mit dir haben oder er möchte einfach nicht in die Kirche, weil er nicht an Gott glaubt. Vielleicht bist du mit jemanden zerstritten. Bring diese Person jetzt im Gebet vor Gott und bitte Jesus um Vergebung, wenn du wütend auf diese Person warst. Wenn es dir möglich ist, dann schließe noch heute mit dieser Person Frieden. Besuche diese Person oder schreibe ihr ein Telegramm oder einen Brief. Es ist egal, wie du es machst nur: Lass zu, dass Jesus Frieden und Liebe in deinem Herzen wieder herstellen kann. Wir werden jetzt beten und wenn jemand möchte, dass man für ihn betet, dass er Liebe für andere Menschen in seinem Herzen bekommt, dann kann er ruhig hier nach vorne kommen." 

Keely glitt auf ihre Knie, schloss die Augen, faltete die Hände und begann zu beten. „Jesus, du weißt wo Rachel sich befindet. Du kennst sie. Du kennst sie besser als ich." 

Eine Träne rollte über ihre Wange und sie schniefte. Abbie, die neben ihr kniete legte ihre Hand auf die gefalteten Hände ihrer Adoptivmutter. 

„Ich bitte dich, Herr, breite deine Hände über sie aus. Beschütze und segne sie, wo auch immer sie heute ist. Gib ihr Kraft, Frieden und Liebe. Lass sie deine Liebe spüren, Herr und wenn sie jemandem zürnt, dann schenke ihr die Kraft dieser Person heute zu vergeben." 

Sie holte ein paar Mal tief Luft. Die betenden Stimmen um sie herum gaben ihr auf geheimnisvolle Weise Kraft weiter zu beten. 

„Stelle deine Engel um sie, Herr. Offenbare dich ihr, als ihr himmlischer Vater und heile jeden Schmerz in ihrem Herzen." 

Ganz langsam, ganz leise, machte sich ein Gedanke in ihr breit. Eine innerliche Stimme sprach immer lauter und deutlicher: Vergebe dir. Vergebe dir! 

„Oh, Gott! Ich habe dich schon so oft um Vergebung gebeten und ich habe es mir schon so oft gewünscht Rachi um Vergebung bitten zu können, aber mir selbst kann ich nicht vergeben. Es war ein Fehler. Ein unbeschreiblich großer Fehler!" 

Vergebe dir, Keely! Ich habe dir vergeben. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ich liebe dich, Keely und deshalb möchte ich nicht, dass du diese Schuld mit dir herumträgst. Werde frei. Hier und jetzt kannst du frei von dieser Schuld werden, wenn du dir nur selbst vergibst. 

Doch sie konnte nicht. Sie konnte nicht auf die Stimme Gottes hören, die so deutlich zu ihr sprach wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie konnte sich nicht vergeben, dass sie sich selbst so viel Schmerz und Leid angetan hatte. Laut aufschluchzend brach sie zusammen und fiel in die Arme ihrer Tochter.

Rachel

„Miss Gillwater, kommen Sie doch bitte einmal her." 

Cati zögerte und drehte sich nur langsam in die Richtung des Büros. Ihr Arbeitgeber hatte sie noch nie in sein Büro gerufen. Die ganze Woche über war er sehr schweigsam gewesen und hatte nichts zu dem Vorfall gesagt, der sich am See ereignet hatte. Auch der Besuch hatte, zu ihrer maßlosen Erleichterung, nichts davon mitbekommen. Zudem hatte er noch vor wenigen Wochen gemeint sie mache ihre Arbeit gut. Vielleicht war es auch etwas anderes. Sie musste nicht sofort alles so schwarz sehen. 

„Ja, Mr Torres?" Sie hörte sich an wie ein ängstliches Kätzchen. 

Beruhige dich, Cati. Er wird dich schon nicht erschießen. Auch wenn er die Möglichkeit dazu hätte, denn direkt neben seinem wuchtigen Schreibtisch lehnte ein Gewehr an der Wand. 

„Setzen Sie ich, Miss Gillwater." Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Sie gehorchte mechanisch. „Miss Gillwater, ich möchte gleich zur Sache kommen. Anfangs dachte ich Sie würden sich schnell eingewöhnen, aber als ich merkte, dass sie es einfach nicht schaffen und auch die Kinder nicht unter Kontrolle haben, wurde mir bewusst, dass ich sie nicht behalten kann. Vor allem seit Montag. Es tut mir leid für Sie Miss Gillwater, aber ich habe mich schon nach einer neuen Gouvernante für meine Kinder umgesehen, die schon Ende nächster Woche anfangen wird. Nächsten Freitag können Sie gehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft." 

Sie wollte widersprechen, wollte ihm sagen, dass sie sich sehr wohl hier eingelebt hatte und dass sie die Kinder über alles liebte, aber es hatte keinen Zweck. Sie hasste die schwüle Hitze im Sommer und den übermäßig kalten, windigen Winter. Und sie hatte die Kinder wirklich nicht unter Kontrolle, auch wenn sie sie auf eine seltsame Art und Weise gernhatte. Ihr Platz war nicht hier. 

„Ich danke Ihnen, dass Sie mir eine Chance gegeben haben. Ich verdanke Ihnen sehr viel." 

Er nickte. Sein Gesicht zeigte keine Regung. „Ich danke Ihnen ebenfalls. Jetzt können Sie gehen. Den Kindern können Sie es nächste Woche selbst sagen." 

Cati erhob sich. „Natürlich." 

Damit wäre ihre Blamage also komplett. Großartig gemacht, Catlen May!

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Weihnachten im Zug. Davon träumt doch sicher jedes Kind, dachte Catlen May zynisch als sie vom sanften rütteln des Zuges erwachte. Jetzt, wo sie im Zug durch die verschneite Landschaft fuhr, wurden ihr die Ausmaße dieser Blamage immer stärker bewusst. Es war demütigend gewesen Logan und Tillie davon zu erzählen, dass sie nun wieder gehen würde. Sie hatte die Freude und den Triumph in ihren Augen gesehen und sich in diesem Augenblick gewünscht, dass ihre nächste Gouvernante noch schrecklicher werden wird, als sie es war. Dieser Wunsch war durch und durch falsch, das wusste sie, aber es wäre eine Genugtuung für sie. Natürlich würde sie nie erfahren, was aus den beiden Kindern werden wird, da war dieser Wunsch doch das mindeste, was sie sich für ihre Zukunft vorstellen konnte, oder? 

Außerdem wurde ihr ihr Versagen immer deutlicher. Sie hatte die Kinder ablenken, sie mit Liebe überschütten und ihnen Grund zur Freude geben gewollt. Sie hatte gehofft ihr fröhliches Wesen würde auf sie abfärben und sie glücklich machen, doch stattdessen hatte sie das Gegenteil getan und nun eine große Niederlage zu verzeichnen. Mutter, Vater und Maddie werden grenzenlos enttäuscht sein

Maddie würde sie mit Sicherheit ein Stück weit verstehen, aber sie wäre auch enttäuscht. Maddie war eine gute Lehrerin. Mutter hatte ihr geschrieben, dass alle Eltern der Stadt sehr zufrieden mit ihr seien. Wenn sie doch nur ein Stück von diesem Talent ihrer Freundin hätte, dann säße sie jetzt nicht hier! Dann müsste sie Mutter nicht so gedemütigt unter die Augen treten und noch mal von ihr ihr Versagen vorgehalten bekommen. Das würde ganz sicher passieren, dessen war Catlen May sich sicher. Sie war noch nicht bereit dazu Mutter oder irgendjemandem von den Ereignissen der letzten Wochen zu erzählen, auch wenn sie schon einen Brief an Maddie geschrieben hatte. Gut, dass der Antwortbrief noch vor ihrer Abreise gekommen war. Maddie hatte mit Verständnis, Humor und Liebe geantwortet und auch ein paar Tipps hatte sie ihrer besten Freundin gegeben und sie ermahnt. Cati hatte sich in den letzten zwei Wochen auch jede erdenkliche Mühe gegeben, doch es hatte nichts daran geändert, dass sie jetzt gehen musste. 

Sie würde heute nicht umsteigen. Sie würde diesen Zug verlassen und in der Stadt übernachten. Dann hätte sie auch Zeit in Ruhe über alles nachzudenken und die Ereignisse der letzten Tage - und eigentlich auch Monate - aufzuarbeiten. Morgen, am 25. Dezember, würde sie dann zu Hause sein und es ihren Eltern somit ersparen, dass ein Schatten der Enttäuschung auf das Fest fiel.

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„Cati? Was machst du denn hier?" Mutter zog sie in ihre Arme noch bevor sie die Tür hinter ihrer Tochter schloss. 

Catlen May lächelte tapfer und löste sich aus der Umarmung. „Ich habe Urlaub und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch keine Arbeit mehr, aber das kann ich Vater und dir später erzählen. Wo ist Vater denn?" 

„Er wollte noch mal nach den Pferden sehen. Einige von ihnen haben schwere Koliken hinter sich und er macht sich noch sorgen um sie." 

Catlen nickte verstehend. Vater hatten seine Tiere schon immer nah am Herzen gelegen. Manchmal fragte sie sich, wie er sich früher in der gehobenen Gesellschaft Albertas gefühlt haben musste. Es passte einfach nicht zu ihm in Anzug und mit Fliege ganz herausgeputzt durch schöne Villen zu gehen. Für sie war Vater ein hart arbeitender Mann, der die Feldarbeit und seine Tiere liebte. Vielleicht hatte er nur Mutter zuliebe sich ihrem Willen gebeugt und nur für sie... gelebt. 

„Was stehst du denn da im Eingang und starrst vor dich hin, Kind? Komm herein und leg deine nassen Sachen ab, sonst erkältest du dich noch. Du hättest uns schreiben sollen, dann hätte Vater dich doch mit dem Wagen abgeholt." 

„Der Spaziergang hat nach dem langen Sitzen im Zug gutgetan." 

Außerdem war sie zu stolz gewesen die Hilfe ihrer Eltern in Anspruch zu nehmen. Es war zwar unsinnig, aber dadurch, dass sie zu Fuß hier her gekommen war fühlte sie sich nicht mehr allzu sehr wie eine Versagerin. Mechanisch wickelte sie jetzt ihren Schal ab und schälte sich aus ihrem Mantel, den Handschuhen und ihren Stiefeln. Ein zarter Kerzenduft lag in der Luft, in der Küche hörte sie Lou herumhantieren und aus dem Wohnzimmer drang das Knistern des Kamins zu ihr herüber. All diese Geräusche und Düfte vermittelten ihr, dass sie wieder zu Hause war. 

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