Kapitel 15
Sommer 1897 Rachel
Ungeduldig trat Cati von einem Fuß auf den anderen. Sie hasste die Unpünktlichkeit der Züge und rügte sich dafür, sich für diesen Fall nicht ein Buch mitgenommen zu haben. Die Luftflimmerte von der Hitze, die von der Mittagssonne ausging und bereitete der Wartenden Kopfschmerzen. Sie sehnte sich nach einem kühlen Fleckchen oder nacheinem Windstoß, doch diese Erleichterung blieb aus. Die Blätter der Bäume, die neben dem Bahnhofgebäude wuchsen, hingen leblos herab, als hätten auch sie keine Kraft mehr der Hitze standzuhalten. Cati zog ein weißes Taschentuch aus ihrer Ridikül, um sich Schweißperlen von ihrer Stirn zu wischen. Danach zückte sie ihren cremefarbenen Fächer, der mit braunen Rauten bedruckt war, und fächelte sich Luft zu.
Bitte Maddie, komm endlich! Ich möchte aus dieser Hitze raus!
Ein leises Rattern und Brummen aus der Ferne ließ ein Lächelnder Erleichterung über Catis Gesicht huschen. Nun würde der Zug endlich kommen, sie würde ihre liebste Freundin wieder in die Arme schließen und dann nach Hause fahren können, wo es Fluchtmöglichkeiten vor der Hitze gab. Das Geräusch wurde immer lauter und der Zug kam in Sicht. Cati ließ den Wagen stehen und näherte sich dem Bahnsteig. Zischend und dampfend kam der Zug zum Stehen und ließ eine letzte Rauchwolke gen Himmel steigen, ehe sich die Türen öffneten und die Passagiere, einer nach dem anderen, aus den stickigen Abteilen stolperten. Eine junge Frau, groß und von anmutiger Gestalt, raffte den grauen Rock ihres Reisekostüms zusammen und rückte ihren Knallroten Kentucky Derby Hut zurecht, der in einem schiefen Winkel keck auf ihrem Kopf thronte. Suchend glitt ihr Blick über die Menge der wartenden Leute. Cati konnte ein kichern nicht unterdrücken und eilte auf Maddie zu, während sie ihren Fächer zusammenschob und zurück in ihre Ridikül steckte.
„Maddie!"
Die junge Frau drehte sich in ihre Richtung und ein strahlendes Lächeln erhellte ihre Gesichtszüge. Diebeiden Freundinnen fielen sich in die Arme. „Willkommen zu Hause, Maddiechen!"
„Danke." Madison löste sich aus der Umarmung ihrer Freundin. Cati musste erneut kichern.
„Dieser Hut war sicher eine Extraanfertigung für dich, hab ich recht?"
Madison verzog das Gesicht. „Gefällt er dir nicht?"
Catis Grinsen vertiefte sich. „Ich selbst würde ihn nicht aufsetzten, aber zu dir passt er, wie die Faust aufs Auge. Du hast ihn gut in Szene gesetzt in Kombination mit deinem Kleid."
„Danke, meine Liebe. So jetzt muss ich meine Koffer in diesem Gewusel finden. Du ahnst ja nicht, wie sparsam ich gelebt habe, um mir die schönsten Stoffe kaufen zu können. Mutter und ich werden noch viel zu tun haben, in den nächsten Wochen."
Cati lachte und begleitete Madison zum Gepäckwagon. „Ich habe, dank deinen ausführlichen Briefen, eine leise Vorstellung. Ich hoffe nur, du hast deine Mutter vorgewarnt."
Maddie zog eine Grimasse. „Natürlich, ich möchte nicht riskieren, dass sie einen Schlaganfall bekommt."
Cati lachte erneut. „Ach Maddie, wie habe ich es nur ein Jahr lang ohne dein verrücktes Gerede ausgehalten?"
„Du hattest doch meine Briefe." Maddie griff nach ihrem Koffer.
„So wie du dein Gesicht verziehst, muss der Koffer ganz schön schwer sein", stellte Cati schmunzelnd fest.
„Hör auf mich auszulachen und nimm lieberden anderen Koffer."
Cati runzelte die Stirn. „Maddie, ich habe dich doch nur mit einem Koffer zum Bahnhof gebracht."
Schulterzuckend schob Madison sich an ihrer Freundin vorbei, die jetzt nach dem anderen Koffer griff. „Der zweite war nach einiger Zeit einfach von Nöten."
„Natürlich..."
Schweigend gingen die beiden zum Wagen und hievten die Koffer auf die Ladefläche. Nachdem sie auf den Kutschbock geklettert waren ergriff Cati die Zügel und lenkte die Pferde aus dem Gewimmel des Bahnhofs heraus auf die Landstraße, die zur Farm der Stuarts führte.
„Das vergangene Jahr kommt mir vor, wie ein ganzes Leben", unterbrach Maddie schließlich die Stille.
„Mhm. Es ist gut, dass du jetzt wieder da bist."
Maddie schob ihre Beine von sich und lehnte sich etwas zurück.
„Wenn ich das vor den Augen meiner Mutter täte, dann würde ich als Strafe auf ein Internat geschickt werden, wo man Manieren lernt", neckte Cati ihre Freundin.
Madison wischte ihren Einwand mit einer Wegwerfenden Handbewegung weg. „Ich saß stundenlang in diesem stickigen Zug, habe vor mich hin geschwitzt und musste mich immer kleiner zusammenkrümmen, da halb Amerika sich plötzlich dazu entschlossen zuhaben schien ausgerechnet heute mit diesem Zug fahren zu wollen."
Cati schmunzelte. „Maddie, du übertreibst maßlos."
„Auf jeden Fall möchte ich einfach nur noch ein erfrischendes Bad einnehmen und ein Nickerchen machen."
„Dafür ist mit Sicherheit schon gesorgt."
„Habe ich dir übrigens geschrieben, dass Tristan Avens sich dazu entschlossen hat sich für einige Monate in Eighford niederzulassen?" Das freudige Strahlen in Madisons Augen ließ Cati lächeln.
„Aus welchem Grund?"
Maddie setzte sich aufrecht hin, als ein anderer Wagen auf dem Weg erschien und ihnen entgegen rollte. Die beiden grüßten die Insassen des anderen Gefährts knapp und Madison nahm das Gespräch wieder auf. „Er möchte sich zum einen erholen und zum anderen sich nach einem Ort umsehen, in dem es noch keine Anwaltskanzlei gibt. Womöglich wird er sich hier etablieren."
„Entschuldige Maddie, wenn ich dir – wie mir scheint – die sehr freudige Aussicht darauf nehme, dass dies geschieht, aber ein Anwalt in Eighford? In meinen Augen haben wir einen Anwalt in unserer friedlichen Stadt gar nicht nötig. Die kleinen Auseinandersetzungen, die hin und wieder vorkommen, sind doch spätestens nach paar Wochen aus dem Weg geräumt und alles ist wieder in Butter."
Maddie seufzte, die Worte ihrer Freundin einsehend. „Du hast recht, Liebste, aber wäre das nicht brillant? Außerdem erscheint mir Eighford zurzeit wie ein Dorf, indem ein Haufen von Hinterwäldlern lebt und das es einfach nicht schafft sich in die Zivilisation zu kämpfen."
Empört blickte Cati ihre Freundin an. „Aber Maddie! Eighford ist eine verhältnismäßig moderne Farmstadt. Es erscheint dir jetzt alles nur recht primitiv, weil du frisch aus der Stadt kommst, aber in paar Wochen wirst du dich an das einfache Leben hier wieder gewöhnt haben." Doch leise murmelte sie: „Das hoffe ich zumindest."
„Wie sieht es mit deiner Suche nach einer Stelle als Gouvernante für dich aus? Hat sich schon jemand auf die Anzeigen in den Zeitungen gemeldet?"
„O ja. Vorgestern kam ein Brief in dem ich für nächsten Samstag zu einem Vorstellungsgespräch geladen wurde. Ich hoffe nur, dass sie mich annehmen wollen."
„Nächsten Samstag schon? Ich dachte wir könnten die Ferien noch gemeinsam verbringen, bis du auf Nimmerwiedersehen das Weite suchst." Maddie sah grenzenlos enttäuscht aus und ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. „Ich hoffe nur, dass diese Ferien schnell vergehen."
„Und schon wieder übertreibst du, Maddie. Ich werde nicht einfach so verschwinden. Vielleicht wollen sie mich ja gar nicht. Und vielleicht wollen sie das ich erst mit Beginn des neuen Schuljahrs meine Stelle antrete. Mal nicht jetzt schon den Teufel an die Wand."
„Wo ist diese Stelle denn überhaupt?"
Cati zögerte mit ihrer Antwort. Maddie wäre gar nicht begeistert zu erfahren, dass ihre Stellunggar nicht so nah wäre, wie sie es sich wünschten. „Oh nein, sag nicht es ist in Washington oder Carolina oder sonst noch wo weit weg."
„Es ist in Texas."
Madisons Mund öffnete sich und schloss sich wieder. „Texas... Wenn ich recht überlege ist es gar nicht so weit weg. Nur Oklahoma liegt dazwischen."
„Es ist aber weit weg genug, um ständige Heimreisen zu verhindern. Ich kann mir nicht ständig ein Zugticket kaufen oder mir frei nehmen."
„Da hast du dir aber ein hartes Joch gebaut... Hast du denn in deiner Anzeige nicht geschrieben, dass du aus Missouri kommst?"
„Doch, aber ich habe auch geschrieben, dass ich flexibel sei und-"
„Meine Güte, Cati! Ist dir bewusst wie weit entfernt du von zu Hause sein wirst und wie gefährlich es werden könnte, wenn du irgendwohin reist, wo du niemanden kennst, nicht maldeinen zukünftigen Arbeitgeber und dann entpuppt sich alles als ein Trick... Ich will mir gar nicht ausmalen, was alles mit dir geschehen könnte."
„Dann tu's auch nicht. Außerdem habe ich schon mit meinen Eltern gesprochen und sie haben gesagt, dass du und Lou mich begleiten sollen."
„Das hört sich vernünftig an. Texas scheint nicht ganz ungefährlich zu sein, wie ich in den letzten Monaten gehört habe."
Cati zuckte mit den Schultern. „Wenn ich dort nur den Sinn meines Lebens finde, bin ich schon glücklich. Ein bisschen Gefahr kann ja auch ganz spannend sein."
„Ich werde dich nach deinem ersten Nervenzusammenbruch dahinten daran erinnern."
Cati schnaubte nur. Sie hatte schon gründlich über alles nachgedacht und alle möglichen Wahrscheinlichkeiten abgewogen. Sie musste gehen und neues ausprobieren, um zu erfahren wohin sie wirklich gehörte und wenn Gefahr zu diesem Abenteuer dazugehörte, dann war es eben so. Sie würde es überstehen. Überstehen müssen. Um zu Leben.
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