Kapitel 13
1896 Rachel
27.07.1896
Mein liebstes Catiechen,
Die Stadt ist riesig! Ich werde nicht in hundert Jahren jeden ihrer Winkel kennen. Wenn ich hier spazieren gehe, komme ich mir verloren, winzig und bedeutungslos vor. Ein ganzes Jahr soll ich hier verbringen und habe jetzt schon grausames Heimweh. Mein Pensionszimmer finde ich inzwischen ganz passabel. Hingegen wird mir meine Wirtin immer unsympathischer. Sie ist furchtbar akribisch in allen Dingen, lächelt immer schrecklich affektiert und kocht so miserabel, dass mir von dem Geruch schon ganz schlecht wird. Menschen mit einem zähen Magen, können ihr Essen vertragen, aber ich zartes Geschöpf doch nicht... Ich nehme von allem immer nur einen kleinen Bissen und sättige meinen restlichen Hunger in einem billigen Restaurant um die Ecke. Mutter findet es nicht in Ordnung, weil es unhöflich ist und Vater, weil die Pension teuer und dennoch nicht so komfortabel ist, wie versprochen. Wir werden sehen, ob wir den Preis etwas herunterhandeln können.
Etwas ganz Besonderes habe ich hier schon entdeckt: Drei Bekleidungsgeschäfte! Drei Geschäfte, die nur Stoff und Kleider verkaufen, kannst Du Dir das vorstellen, Cati?! Einer davon hat es mir ganz besonders angetan, weil dort herrliche Farben verkauft werden. Ich habe Vater schon nach einer Summe Geld gefragt, damit ich hier tüchtig Stoff einkaufen kann. Hoffentlich ist er bereit dazu... Es wäre wirklich schade um den schönen Stoff, wenn ich keinen einzigen davon ergattern könnte. Zwar hat Mutter meine Garderobe ordentlich aufgefrischt, damit ich in der großen Stadt nicht wie eine Hinterwäldlerin wirke, aber jetzt wünschte ich, sie hätte damit ein paar Monate gewartet.
Was ich Dir auch unbedingt noch erzählen muss, Liebste, ist, dass ich hier eine ganz lustige Bekanntschaft gemacht habe. Gestern traf ich auf einen jungen Mann namens Tristan Avens. Wir kamen so ins Gespräch und da erzählte er mir, dass es als Kind seine Lieblingsbeschäftigung war tote Fliegen zu sammeln und zu vergraben. Ist das nicht exorbitant abartig? Mir wurde bei dieser Vorstellung so schlecht, dass ich beinahe mein ganzes Abendessen wieder von mir gegeben hätte. Mutter würde zu viel kriegen, wenn meine Geschwister oder ich uns so etwas degoutantes ausdenken würden.
Ach Cati, ich vermisse Dich so sehr. In dieser Stadt leben tausend Menschen und keiner von ihnen kann mir meine liebste Freundin ersetzen. Ich habe niemanden, dem ich meine Gedanken mitteilen kann und du weißt ja, dass ich pro Sekunde gefühlt zehntausend Gedanken habe, die ich aussprechen muss. Briefe schreiben ersetzt das keines Wegs. Ich glaube, ich habe Tristan deshalb gestern ein wenig eingeschüchtert und abgeschreckt, aber ich konnte meinen Mund einfach nicht wieder schließen, nachdem ich ihn einmal geöffnet hatte... Ich vermisse auch die Zeit in der wir noch klein und frei waren. Die Zeit in der Will und wir beide so unglaublich viel Unsinn angestellt haben. Tristan würde mit seinen toten Fliegen wirklich gut in unser seltsames Trio passen, findest Du nicht? Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages William Karp vermissen werde, aber das tue ich! Bitte, grüß ihn von mir.
Wenn ich zu Weihnachten nach Hause komme, werden wir beide auf jeden Fall etwas ganz Verrücktes machen, ja? Wir werden uns zur Blumenwiese schleichen und heimlich Schneeengel machen und wieder über die weite Fläche tanzen. Ach, wenn es doch nur schon Winter wäre... Aber stattdessen sind draußen mindestens dreißig Grad im Schatten, der Himmel ist strahlend blau, kein Schneeflöckchen tanzt zur Erde und ich sitze in dieser öden Pension. Dennoch macht das Studieren spaß. Ich freue mich schon unbändig aufs unterrichten – gebe Gott, dass ich es gut beherrschen werde und ich keine ungezogenen Schüler habe.
Tut mir leid, dass der Brief so lang geworden ist, Liebste. Die Einsamkeit ist daran schuld. Genieß noch deinen Tag!
Es umarmt Dich ganz herzlich deine
Maddie
Catlen konnte nicht aufhören zu grinsen, wie ein Honigkuchenpferd. Madison war einfach unverbesserlich in ihrer ekstatischen, unverblümten Art. Wie sehr vermisste Cati sie und ihre Kindheit... Ich verstehe dich, Maddie... Oh wie gut ich dich verstehe. Madison hatte allerdings, jedenfalls Catis Meinung nach, das bessere Los gezogen. Sie studiert, sieht etwas von der Welt, macht neue, aufregende Erfahrungen und lernt neue Leute kennen. Ich hingegen muss noch ein Jahr die Schule, die gar keinen Spaß macht, besuchen und werde die nächsten Jahre eintönig und monoton dahinfristen. Seufzend warf sie sich mit dem Brief in der Hand aufs Bett. Wenn doch nur wenigstens etwas Spannendes oder Unvorhergesehenes geschehen würde, etwas, dass ihr Leben aufregender und Lebenswerter machte, aber stattdessen blieb alles beim Alten.
---
Cati schlug die Decke beiseite und streifte ihren Morgenmantel über. Seit einer knappen Stunde lag sie nun hellwach im Bett. Eine tiefe Unruhe und ein Gefühl der Leere nagten an ihr und hielten sie wach. Vielleicht würde sie einschlafen können, wenn sie ein Glas Wasser trank. Leise, um ihre Eltern nicht zu wecken, huschte sie die Treppen hinunter. Sie hatte gerade das Ende der Treppe erreicht, als sie Stimmen und Licht aus dem Salon vernahm. Normalerweise wäre Cati jetzt einfach in die Küche gegangen und hätte ihre Eltern nicht gestört, aber sie hörte, wie ihr Name fiel und wurde hellhörig. Sie schob sich nah an der Wand näher zur Tür des Salons, die sich neben der Treppe befand und spitzte die Ohren.
„Ich weiß nicht, ob es auf Dauer das Beste für sie ist, Ernest." Das war die Stimme ihre Mutter. Cati konnte sich vorstellen, wie sie leicht zurückgelehnt in ihrem Lieblingssessel saß, ihr Kleid glattgestrichen, ihre hübschen Augen fragend auf ihren Mann gerichtet, der es sich bestimmt auf dem langen Sofa bequem gemacht hatte. Ihre Handarbeit lag wahrscheinlich sauber zusammengefaltet auf dem Tischchen neben ihr oder auf ihrem Schoss und sie strich immer wieder über den weichen Stoff.
„Sie wird nicht wissen, wie sie damit umgehen soll. Am besten alles bleibt so, wie es ist" Vaters Stimme war zuversichtlicher, als die Stimme von Mutter.
„Und wenn sie es eines Tages doch erfährt? Sie wird uns Böse sein und wer weiß, was sie dann tut."
„Es weiß doch niemand etwas davon, Virginia. Wer sollte es ihr sagen?"
Mutter seufzte und bewegte sich in ihrem Sessel. „Du hast recht, Ernest. Es ist unmöglich, dass jemand etwas bemerkt."
„Siehst du, es besteht kein Grund zur Sorge." Vater lächelte und hörte sich erleichtert an.
„Diesbezüglich nicht, aber ich mache mir Sorgen um Catis Zukunft. Mir ist es manchmal unerträglich sie hier in diesem abgelegenen Winkel der Welt zu sehen, anstatt in unserem großen Haus, in feinen Kleidern und gehobener Gesellschaft."
„Ach Virginia", seufzte Vater, „unsere Cati würde doch gar nicht in die Großstadt passen. Sie ist keine feine Dame, die in prächtigen Kleidern und wertvollem Schmuck von einem Ball zum anderen zieht und vornehme Gesellschaften gibt. Sie gehört hier aufs Land."
„Das ist es ja, was mich so beunruhigt, Ernest.", Mutter klang ungehalten, „Sie macht sich keinerlei Gedanken um ihr Äußeres oder um ihre Stellung in der Gesellschaft. Sie ist so ganz anders als ich. Das kann noch gefährlich werden."
„Cati hat ihr Herz am rechten Fleck und ist glücklich hier. Du musst endlich aufhören sie formen zu wollen."
„Ich habe doch immer gehofft, dass sie es noch weit bringen wird. Dass sie es vielleicht schafft sich einen Namen zu machen, uns wieder in die gehobenere Gesellschaftsschicht zurückbringt."
„Ist das nicht ein wenig eigensinnig, Schatz? Cati würde sich in einer Villa niemals wohlfühlen. Zudem ist es für eine Frau praktisch unmöglich sich hochzuarbeiten. "
Mutter seufzte wieder. „Außerdem fehlt ihr der nötige Ehrgeiz."
Es herrschte eine lange Stille, sodass Cati sich langsam zur Treppe wandte, um nach oben zu gehen. Doch die leise, kaum hörbare Stimme ihrer Mutter hielt sie erneut zurück. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass es ein Fehler war-" Cati strengte sich an die letzten Worte des Satzes zu hören, doch ihre Mutter wurde immer leiser, bis es nur noch ein murmeln war.
„Das reicht jetzt, Virginia! Ich will nie wieder so etwas hören." Die Wut in Vaters Stimme und die Lautstärke ließen Catlen May zusammenfahren. Was hatte Mutter gesagt, dass ihn so aufregte?
„In meinen Augen ist es gut, so wie es ist." Er war nun etwas ruhiger. Cati hörte wie er sich erhob und seine Schritte ließen sie vermuten, dass er auf Mutter zu ging. „Wir müssen aufhören uns unser altes Leben und unser Vermögen zurückzuwünschen, Virginia."
„Ich weiß, Ernest. Ich werde es versuchen."
In der darauffolgenden Stille wagte Cati es, sich etwas vorzulehnen und einen kurzen Blick in das Zimmer zu werfen. Vater kniete vor Mutter auf dem Boden und hatte sie in seine Arme gezogen. Schnell, bevor ihre Eltern etwas merkten, schlich sie sich wieder zurück die Treppe rauf und in ihr Zimmer. Vor Erschütterung zitternd schälte sie sich aus ihrem Morgenmantel und kroch ins Bett. Das Gespräch zog noch einmal an ihr vorbei und gleichzeitig stiegen eine Menge Fragen in ihr auf. Hatten ihre Eltern schon im ersten Teil ihres Gespräches über sie gesprochen? Und wenn ja, was durfte sie dann nicht erfahren? War ihre Mutter hier in Eighford unglücklich und machte sie Cati dafür verantwortlich, dass sie niemals wieder die Aussicht auf ein luxuriöseres Leben hatte? Und vor allem: Was war in den Augen ihrer Mutter ein großer Fehler, den sie – vermutlich zusammen mit Vater – begangen hatte? Und warum regte Vater es so auf, dass Mutter sich in dieser einen Sache unsicher war? Verwirrung und Angst machten sich in Catlen May breit und vertrieben auch den letzten Funken Hoffnung darauf, dass sie heute noch mal einschlief. Sie schlüpfte erneut aus ihrem Bett und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie musste Maddie einen Brief schreiben, um ihr alles zu erzählen. Dieses Gespräch und die Fragen, die es in ihr aufgeworfen hatte, konnte sie einfach nicht für sich behalten.
Liebe Maddie,
Meine Eltern haben ein Geheimnis und ich glaube es hat etwas mit mir zu tun. Vielleicht bin ich eine schlechte Tochter, weil ich gelauscht habe, aber ich habe das Gefühl, dieses Gespräch ist für mein Leben von großer Wichtigkeit. ...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top