Kapitel 11

Rachel

Zaghaft klopfte Cati an die Tür von Mrs Spencers Haus. Als niemand öffnete oder sie hereinrief, wollte sie schon gehen, aber dann fiel ihr ein, dass Mrs Spencer vielleicht gar nicht in der Lage dazu war aufzustehen. Aber müsste dann nicht jemand bei ihr sein und sich um sie kümmern? Vielleicht war es doch nicht eine so gute Idee gewesen hierher zu kommen. Catlen überlegte kurz hin und her, doch dann probierte sie die Tür zu öffnen und tatsächlich war diese nicht abgeschlossen. 

Noch etwas unentschlossen betrat sie den Flur und ließ ihren Blick über die fast kahlen Wände, die Garderobe und den zerschlissenen Teppich gleiten. Wie konnte sie sich bemerkbar machen? Rufen oder einfach den Raum suchen in dem Mrs Spencer lag? Da Cati Letzteres für unhöflich fand rief sie leise und unsicher: „Mrs Spencer?" Nichts. 

Das hätte aber auch niemand hören können der direkt neben mir gestanden hätte. Stell dich nicht so an, Cati! Es ist nur eine liebe ältere Frau... Naja... in der Stadt sagen alle sie sei ein alter Grießgram, aber nur immer schön das Beste in den Menschen sehen, mahnte sie sich. 

„Mrs Spencer?" Diesmal war ihre Stimme schon sicherer und lauter. „Mrs Spencer, ich bin Catlen May Gillwater und würde Sie gerne besuchen." 

„Dann komm doch ins Zimmer, Kind." Der barsche Tonfall der älteren Dame schüchterte Cati enorm ein und sie fragte mit piepsiger Stimme: „Welches ist es denn?" 

„Das zweite von rechts." 

Catlen ging den schmalen Flur entlang und betrat das besagte Zimmer. Es war nicht sehr freundlich eingerichtet. Nur ein Bett, ein Nachtschränkchen mit einer Waschschüssel und Medizinflaschen drauf und eine Kommode waren in dem Zimmer vorhanden. Kein Teppich. Keine Tapeten. Keine Blumen, als Geschenk. Keine Farbe zur Aufmunterung. Nur ein wenig Licht drang durch die geschlossenen Fensterläden. Wie sollte Mrs Spencer denn hier gesund werden? 

„Steh doch nicht wie eine Statue in der Tür und begaff alles, Kind. Komm rein." 

Catlen bewegte sich, aber nicht zum Bett hin, sondern zum Fenster, um es zu öffnen und die Läden aufzustoßen. 

„Was machst du da?" 

Catlen vergaß ihre Zurückhaltung und war wieder ganz die Alte. „Hier drin riecht es muffiger als alte Socken und in der Dunkelheit kann ich Ihnen schlecht vorlesen, finden Sie nicht auch?" 

Verblüfft sah Mrs Spencer Catlen an. „Na, du bist mir ja eine. Erst kommst du hier ganz verschüchtert rein, als besuchtest du einen Wolf und dann versprühst du Gift wie eine Schlange." 

Catlen trat auf das Bett zu und musterte die alte Frau. Ihr Haar war, so wie es in Eighford erzählt wurde, wirklich ganz weiß, obwohl sie noch verhältnismäßig jung war. Mit ihren braunen Augen blickte sie verdrossen zu ihr auf. Catlen May konnte es nicht beschreiben, aber irgendetwas an dieser Frau zog sie an. Vielleicht hatten sie ja etwas gemeinsam, nur sie wussten es jetzt noch nicht. 

„Ich habe mich nur von meinem ersten Schock erholt, das ist alles. Ich hole mir jetzt einen Stuhl und dann lese ich Ihnen vor." Mit diesen Worten drehte Catlen sich um und ging in die Küche, die direkt gegenüber lag, und trug einen Stuhl herein. Sie positionierte ihn neben dem Bett so dass sie in Richtung von Mrs Spencer schaute, das Fenster schräg im Rücken hatte und die Tür im Augenwinkel. Jetzt nahm sie, dass Buch welches sie mitgenommen hatte, von dem Nachtschränkchen, auf dem sie es kurz abgelegt hatte, und blätterte darin herum. „Was für eine Geschichte möchten Sie hören Mrs Spencer? Eine traurige oder eine lustige?" 

Mrs Spencer sah sie an, als verstünde sie ihre Frage nicht, antwortete dann aber: „Such es dir selbst aus. Hauptsache kein Märchen." 

Catlen lächelte. „Ich werde eine nehmen, die gut zu dem heutigen Tag passt." Sie sah auf. „Schauen Sie dabei aus dem Fenster und stellen Sie sich dabei vor, dass sich das Erzählte direkt vor ihrem Haus auf der Wiese abspielt." 

Mrs Spencer schnaubte. „Machst du Witze?" 

Catlen legte den Kopf schief und klappte das Buch zu. „Nein, ich meine es ernst. Sie werden sehen, dass Ihre Wiese wirklich der perfekte Ort wäre, um diese Geschichte in Szene zu setzen. Immer wenn ich die Wiese sehe denke ich an diese Geschichte und umgekehrt." 

„Sag mal, Kind: Wie alt bist du eigentlich?" 

„Seit gestern vierzehn, Ma'am." 

„Soso... Vierzehn also." 

„Wieso fragen Sie?" 

„Nun, du kannst dich sehr gewählt ausdrücken." 

Catlen stieg die Röte ins Gesicht. „Das kommt davon, weil ich mit Madison Stuart befreundet bin. Sie ist sehr intelligent und redet so ganz anders, als die anderen Kinder in unserem Alter. Ich glaube ich habe mich an ihre Redensweise gewöhnt." 

„Aha. Hauptsache du plapperst ihr nicht immer alles nach." 

Catis Augen wurden zu schmalen Schlitzen und sprühten empörte Funken. Mutter hätte sie für so ein respektloses Verhalten ordentlich gerügt und Vater hätte ihr vielleicht sogar den einen oder anderen Klapps dafür gegeben. „Selbstverständlich nicht, Mrs Spencer. Ich denke eigenständig, sonst wäre ich wohl nicht hier." 

„Ach! Deine Mutter hat dich also nicht geschickt?" 

„Nein. Wie kommen Sie darauf?" 

Die Dame zuckte mit den Achseln. „Deine Mutter ist eine gute Frau. Sie hat mich schon oft besucht." Das liegt daran, dass sie so viel Langeweile hat. „Könnte ja sein, dass sie heute keine Zeit hat, aber weil Miss Kings, diese olle Klatschbase, bestimmt schon in der ganzen Stadt herumposaunt hat, dass ich morgen sterben werde, hat sie dich geschickt." 

Noch nie hatte es jemand gewagt die Lehrerin zu beleidigen. Catlen schnappte bei den Worten der Kranken erst nach Luft, zum Schluss blies sie frustriert die Luft aus. „Ich bin aus eigenem Antrieb hier, Mrs Spencer und wenn Sie es gestatten, dann würde ich Ihnen jetzt gerne die Geschichte vorlesen. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass Mutter von Miss Kings heute Morgen an unserem Gartenzaun davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass sie schon bald den Wanderstab beiseitelegen werden." 

Mannomann... So hätte selbst Maddie sich nicht ausgedrückt. Aber was solls. 

„Den Wanderstab habe ich schon lange abgelegt. Ich bin schon seit Monaten nicht mehr aus diesem elenden Bett aufgestanden. Mit einem Bein stehe ich im Grab und außerdem ist es mir egal wo und wie deine Mutter es erfahren hat. Tatsache ist, dass sie es von Miss Kings, dieser neugierigen und falschen Nudel, erfahren hat." 

Wieder blies Cati die Luft aus. „Sie wissen ganz genau, wie ich das mit dem Wanderstab meinte, Ma'am." 

„Jaja. Lies jetzt. So viel geredet habe ich in den letzten fünf Wochen nicht." 

Das glaube ich Ihnen gern. Das muss daran liegen, dass sie niemanden zum Reden haben, weil sich jeder vor Ihnen fürchtet. Catlen May öffnete wieder das Buch und blätterte erneut darin herum, bis sie die Geschichte fand, die sie der Kranken vorlesen wollte und begann zu lesen.

 Sie war gerade bei der Hälfte der Geschichte angelangt, als Mrs Spencer stöhnte, sich die Schläfenrieb und fauchte: „Hör auf zu lesen, Kind, es strengt mich an. Tränke den Lappen dort mit der braunen Flüssigkeit aus der kleinen Flasche und reib mir damit die Stirn und Schläfen ein." 

Catlen gehorchte. Ganz sanft massierte sie mit dem Lappen den oberen Teil des Gesichts der Kranken. Diese schloss wohlig die Augen und ließ alles geduldig über sich ergehen. „Das reicht." Ihre Stimme hörte sich etwas sanfter an als gewöhnlich und sie gähnte. „Schließe das Fenster und die Läden und dann kannst du gehen." 

Cati tat wieder was die alte Frau ihr sagte und fragte noch bevor sie ging: „Brauchen Sie sonst noch etwas?" 

„Nein. Wenn du willst, kannst du ein Schild an der Tür aufhängen auf dem steht, dass ich heute nicht mehr gestört werden möchte." Mrs Spencer hatte ihre Augen noch immer geschlossen und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck den Catlen May nicht deuten konnte. Dieser klappte kurz das Kinn runter, aber dann fing sie sich. „Aber Mrs Spencer! Ich bin mir sicher, dass einige der Frauen sehr besorgt um Sie sind; zum Beispiel meine Mutter." 

„Das interessiert mich nicht. Außerdem kann ich mir das sehr schlecht vorstellen. Die meisten kommen doch nur, um mich zu bemitleiden, ihre christliche Pflicht zu erledigen und um ein Thema zum tratschen zu haben. Nein, das ist mir zu lästig und jetzt geh endlich, bevor mir der Kopfzerplatzt." 

Catlen May seufzte. „Ich werde morgen wiederkommen und Ihnen das Ende der Geschichte vorlesen." 

Die Augenlider der alten Dame klappten nach oben. „Das wirst du ganz sicher nicht. Morgen ist Sonntag und da möchte ich nicht eine Geschichte, sondern eine Predigt vorgelesen bekommen. Beschaffe dir eine. Sie soll aber nicht zu lang sein, sonst kann ich mich nicht mehrkonzentrieren." 

Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen und durchbohrten Cati schier. „In Ordnung, Ma'am. Ich werde sehen was sich machen lässt. Schlafen Sie gut." 

„Ich werd's versuchen." 

Kopfschüttelnd verließ Catlen das Haus. Mrs Spencer war freilich keine einfache Person, aber trotzdem mochte Catlen May sie und war entschlossen die Dame ein wenig aufzupäppeln.

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