Kapitel 1
1880
Keely
Unruhig schritt Keely Brownan von einem Ende des Zimmers zum anderen. Ihr Blick wanderte dabei immer wieder zu der geschlossenen Tür des gegenüberliegenden Zimmers. Unendlich lange - so schien es ihr - war diese schon geschlossen. Vor dem Fenster blieb sie stehen und blickte hinaus. Vor einer Stunde hatte sie dasselbe getan und ihn dabei erblickt. Von zwei Nachbarn gestützt hatte man ihn hergebracht. Sie hatte sofort gesehen, dass etwas schreckliches geschehen war. Er hatte eine Platzwunde am Hinterkopf gehabt, sein rechtes Hosenbein war von Blut durchtränkt und sein Gesicht übersät von Schrammen gewesen. Kurz darauf war der Arzt erschienen, den ein Freund gerufen hatte, und sie wurde aus seinem Zimmer geschickt. Jetzt nahm sie ihren Gang durchs Zimmer wieder auf.
„Keely, ich bitte dich, setz dich hin. Du machst dich nur verrückt", unterbrach eine sanfte Stimme die Stille. Keely drehte sich zu einer jungen Frau um, die Kerzengerade auf einer Chaiselongue saß, die Hände im Schoß gefaltet. Sie war ganz blass und fixierte Keely mit einem sanften und gleichzeitig scharfen Blick.
„Ich kann nicht, Di. Wenn ich mich hinsetzte, dann werde ich verrückt. Warum braucht der Doktor nur so lange?"
Sie knetete nervös ihre Hände und warf einen Blick in eine Wiege, die nahe an einem Fenster stand. Sie war aus feinem Akazienholz geschnitzt und barg ein kleines, zartes Mädchen. Dieses schlief seelenruhig und bekam von all der Aufregung nichts mit. Ein liebevoller Zug glitt über Keelys Gesicht. Es war ein Blick mit dem nur eine Mutter ihr Kind ansehen kann. Sie trat auf die Wiege zu und strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange. Nicht das leiseste Zucken gab zu erkennen, ob das Baby die Berührung gespürt hatte, so tief schlief es.
„Der Doktor weiß was er tut", fuhr die Freundin beharrlich fort. „Er ist sicher nur so lange bei ihm, weil er alt und nicht mehr der Schnellste ist."
Keely drehte sich zu ihrer Freundin um. „Ich kann aber nicht mehr lange warten. Ich will Dereck jetzt sehen."
Di schüttelte den Kopf. „Du stures, liebes Ding."
Da öffnete sich die Tür des anderen Zimmers und kaum war der Doktor auf den Flur getreten, da flog Keely auf die grauhaarige vom Alter ein wenig gebeugte Gestalt zu. „Und? Wie geht es ihm Doktor?"
Dieser schüttelte nur den Kopf. „Ich kann nichts mehr für ihn tun, Mrs. Brownan. Er hat zu viel Blut verloren."
Verständnislos starrte Keely den Mann an. Dianne war hinter sie getreten und legte ihr tröstend eine Hand auf die schmale Schulter. „Wie, sie können nichts mehr für ihn tun? Sie müssen doch etwas tun können, sie sind doch Arzt!"
Betroffen sah der Doktor zu Boden und schüttelte den Kopf. „Hier gibt es nichts mehr zu können, Mrs. Brownan." Er hob den Kopf und sah sie mitleidig an. „Ihr Mann ist tot."
Nein.
Dianne schnappte nach Luft. Keelys Herz zog sich zusammen und riss dann entzwei. Sie stürmte an dem Mediziner vorbei, riss die Tür zum Krankenzimmer auf und lief zu dem Bett auf dem der Leichnam ihres Mannes lag. Seine Augen waren geschlossen, die Hände lagen gefaltet auf seiner Brust. Er sah friedlich aus, aber für Keely war das kein Trost. Sie warf die Arme um den reglosen Körper und wollte schreien, wollte ihn irgendwie dazu bringen wieder aufzuwachen, aber kein Ton kam aus ihrem Mund. Sie keuchte. Sie konnte nicht weinen. Der Schmerz schien viel zu groß und zu schwer. „Bitte, Dereck, öffne noch einmal deine lieben Augen. Nur noch einmal!", jammerte sie nun leise. Oh Gott, nein! Das darfst du nicht machen!
In diesem Moment erwachte Rachel und begann zu weinen. Keely konnte nicht aufstehen und zu ihrer Tochter gehen. Sie fühlte sich wie aus Stein gemeißelt. Dianne nahm sich der Kleinen an und stand wenig später, mit ihr im Arm, in der Tür. Ihr blasses Gesicht war Tränenüberströmt. Keely löste sich von ihrem Mann und sah zu ihrer Freundin auf. Als sie Rachel in ihren Armen liegen sah, war es, als würde ein Zweischneidiges Schwert durch sie hindurchfahren. Sie hat keinen Vater mehr. Arme, arme Rachel. Wenn doch nur endlich Tränen fließen würden! Wenn sie ihrem Schmerz doch nur irgendwie Luft machen könnte.
Sie sprang auf. „Ich kann hier nicht bleiben, Di. Pass bitte auf Rachi auf, ich muss hier raus." Sie zwängte sich an der verblüfften Dianne vorbei, raffte ihren Rock hoch und stolperte die Treppen hinab.
„Keely, warte! Wo willst du denn hin?" Dis Stimme war Tränenerstickt.
Keely antwortete nicht. Sie riss die breite Haustür auf, warf diese unsanft hinter sich ins Schloss, sprang die Treppenstufen hinunter, lief zur Gartentür hinaus, ohne sich die Mühe zu machen sie zu schließen und rannte dann die Straße entlang. Nur weit, weit weg von diesem Bild des Todes, diesem Schmerz.
Es begegneten ihr nur wenige Menschen, da sie weit außerhalb des kleinen Städtchens wohnte, aber sie alle sahen sie mit großen, erstaunten Augen an. Sie hatte keinen Blick für diese Menschen. Sie wollte einfach nur weg. Derecks Bild schwebte ihr so lebendig vor Augen und seine Stimme hallte so realistisch in ihrem Ohr, dass ihr Herz noch mehr wehtat. Endlich hatte sie die letzten Häuser hinter sich gelassen. Weit und breit erstreckten sich Felder an der einsamen Landstraße bis zum Horizont. Dort berührten sie einen strahlendblauen Maihimmel, der im starken Kontrast zu Keelys dunkler Stimmung stand. Sie bekam Seitenstechen und musste anhalten. Schnaufend lehnte sie sich gegen den massiven Stamm einer alten Buche. Ob jetzt endlich die Tränen fließen würden? Ihr rasender Herzschlag beruhigte sich allmählich. Erschöpft stützte sie ihre Hände auf die Knie und kniff die Augen zusammen. Hilf mir, Jesus. Hilf mir, schrie es in ihr.
Wohin nur mit dem Schmerz? Ihr Herz würde gleich auseinanderspringen, wenn sie ihrer Trauer nicht Luft machen könnte. Sie öffnete die Augen und sah zum Himmel. Aus voller Kehle begann sie zu schreien. Der Druck auf ihrem Herzen war wie eine Kraftquelle dazu. Ein paar erschrockene Raben flogen auf und ließen empört ihr Krächzen hören. Mit wildschlagenden Flügeln flatterten sie davon. Erst als Keelys Stimmbänder schmerzten und ihr Herz ein wenig leichter war, verstummte sie. Der letzte verzweifelte Schrei hallte noch von den Hügeln wider. Keuchend und nun gänzlich erschöpft glitt sie zu Boden. Das Gesicht bedeckte sie mit ihren Händen. Ihre Frisur hatte sich beim Laufen gelockert und vereinzelte Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ungelenk schob sie sie hinter ihre Ohren.
„Ich bin neunzehn Jahre alt und Witwe! Ist das gerecht, Gott? Ist das deine Strafe für unseren ungehorsam?"
Sie spürte wie sich die Tränen anstauten, aber sie wollten und wollten nicht fließen. Kopfschüttelnd lehnte sich Keely zurück. Wieder schloss sie die Augen und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. „Was soll nur aus mir werden, Herr? Ich kann mich doch nicht alleine um Rachel kümmern. Was soll ich nur tun? Hilf mir, bitte hilf mir. Zeige mir den Weg, den ich gehen soll!" Doch wollte sie überhaupt weitergehen? Ohne Dereck? Wie sollte das funktionieren? „Es muss. Irgendwie muss es gehen. Ich bin nicht die erste Witwe auf dieser Welt."
Witwe. Was für ein hässliches Wort. Nie hätte sie es sich träumen lassen so früh eine zu werden und jetzt war es mit einem Schlag über sie gekommen.
„Ich muss mit den Konsequenzen meiner Fehler jetzt leben. Aber warum ich ganz allein? War nur ich schuld? Dereck hat doch auch seinen Teil dazu getan. War sein Unfall die Vergeltung für seine Schuld, Herr? Dann hatte er die bessere Partie. Ich bin so schlecht, so unglaublich schlecht. Vergib mir, Jesus, vergib mir." „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen, aus lauter Güte." (Jeremia 31, 3). Diese Worte erklangen nun in ihrem Herzen. „Ach, Jesus, du bist doch unbegreiflich. Erst lässt du es zu, dass uns schlimmes geschieht und dann tröstest du uns."
Sie musste an den letzten Sonntag denken. Der Pastor hatte gesagt: „Gott denkt Gedanken der Liebe über uns. Er ist gut. Manchmal ist das Leben hart und schlimme Dinge geschehen, aber er ist auch dann immer an unserer Seite." Bei den letzten Worten hatte sein Blick aus Zufall Keely, Dereck und Rachel getroffen. Sie saßen auf der letzten Bank, Keely hielt ihre Tochter im Arm und Derecks rechter Arm lag hinter ihr auf der Rückenlehne. Damals dachte sie dass es Zufall war, dass sein Blick sie traf, heute war es ihr, als hätte Gott sie darauf vorbereiten wollen, was in dieser Woche auf sie zukommen würde und dass sie das nicht alleine durchstehen musste, sondern mit ihm. Das war vor zwei Tagen. Keely hatte zustimmend zu den Worten des Pastors genickt. Konnte sie das jetzt auch?
„Ja, du bist gut, Gott. An dich will ich mich halten." Sie stand auf, jetzt etwas ruhiger als zuvor. Ruckartig brachte sie ihre Hochsteckfrisur in Ordnung, strich ihr Kleid glatt und ging ruhigeren, aber immer noch schnellen Schrittes nach Hause.
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Die Ereignisse der nächsten Tage nahm Keely wie durch einen Nebelschleier wahr. Sie begrüßte Trauergäste, nahm Beileidsbekundungen entgegen, schrieb einen Brief an Derecks und einen an ihre Eltern, weitere Briefe gingen an weggezogene Freunde, sie kümmerte sich um Rachel und organisierte die Beerdigung ihres Mannes. Nach außen wirkte sie ruhig und gefasst, aber innerlich tobte in ihr ein Sturm. Um ihr Herz baute sich eine hohe Mauer der Trauer und Verzweiflung auf. Immer wieder rang sie die Hände und tat einen zittrigen Atemzug, wenn der Schmerzensstein in ihrem Herzen ihr die Luft abdrücken wollte. Jedes Mal betete sie dann die gleichen Worte: Hilf mir, Herr.
Dianne stand ihr in diesen Tagen treu zur Seite. Sie übernachtete bei ihr und nahm ihr zwischendurch Rachel ab, wenn Keely von mehreren Aufgaben gleichzeitig überrollt wurde.
Endlich kam der Tag der Beerdigung. Keely hatte am Abend zuvor lang nicht einschlafen können. Ohne dass Dianne es bemerkt hatte, war sie unruhig in ihrem Zimmer auf- und abgegangen. Ihr stand eine schwierige Entscheidung bevor und diese musste sie alleine Treffen. Die ganze Zeit über, sprach sie mit Gott. Alle Argumente für und gegen diese Entscheidung breitete sie vor ihm aus. Als sie sich sicher war, was sie tun sollte, war sie neben Rachels Wiege getreten hatte ihrem Kind über die Wange gestrichen und geflüstert: „Arme, arme Rachi." Doch sie war sich nicht sicher wer ihr mehr leidtat – ihr Kind oder sie selbst?
Jetzt saß sie mit der schlafenden Rachel auf dem Arm in der Kirche. Sie hätte Rachel auch gut mit einem jungen Mädchen zu Hause lassen können, aber das hatte sie nicht übers Herz gebracht. Rachel war in diesen Tagen ihr ganzer Trost. Innig drückte sie sie an ihr Herz und lauschte Halbherzig der Lesung des Lebenslaufes ihres Mannes. Als sie erwähnt wurde, senkte sie unwillkürlich den Kopf. Ihr ungehorsam wurde selbstverständlich nicht erzählt, aber Keely musste daran denken. Wie hätte sie es auch nicht tun können? Für sie war Derecks Tod eindeutig die Strafe dafür. Endlich stiegen ihr schwere Tränen in die Augen. Still flossen sie ihr über die Wangen und erlösten ihr Herz, von dem schweren Druck der auf diesem gelastet hatte, seit sie Dereck verletzt auf das Haus hatte zukommen sehen. Dianne legte einen Arm um sie und flüsterte etwas in ihr Ohr, was Keely nicht verstand. Sie fragte aber nicht weiter nach. Im Moment war ihr sowieso alles gleichgültig.
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