Kapitel 9
»Sie war da, ich schwöre es euch, sie war da«, stieß Collin keuchend aus und stolperte über Landons Teppich. Diese verdammte Ecke schaute schon immer in die Höhe, wie eine Latte, die am Morgen einfach nicht erschlaffen wollte. Verdammtes Scheißding.
Ich rutschte auf dem Sessel hin und her. Hinter mir befand sich das Fenster. Landon zog die Gardinen zu. Ich fand das nicht so schlimm, im Gegenteil, sogar gut, da ich manchmal das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Es klopfte an der Tür, die Collin vor kurzem geschlossen hatte. Vor Schreck zuckte er zusammen. Dawson ging hin und nahm die Burgerlieferung entgegen. Dass unser schreckhafter Freund sich fast in die Hose geschissen hatte, war eher nebensächlich. Selbst der fettige Geruch der Burger, der mir in die Nase stieg, brachte keinen Appetit in mir auf, den ich eigentlich haben sollte. Stattdessen bekam ich Gänsehaut.
Ich schaute nach links und rechts neben mir und drehte mich auch um. Doch da war nichts. Und dennoch drehte sich mein Magen um, sodass ich unangenehme Bauchkrämpfe bekam.
»Wer war wo?«, fragte Landon mit einer autoritären Stimme. Sobald er eine Form von Ärger witterte, übernahm er auch die Kontrolle, auch wenn er selbst nicht involviert war. Collin antwortete ihm nicht direkt, da er abwesend wirkte. Seine Augen wirkten Fern von der Realität. Zu sein; es war, als hätte er einen Geist gesehen. Auf seinem blassen Gesicht war reines Entsetzen zu erkennen.
Wenn ich mich nicht täuschte, wirkte er sogar wie damals, als er Magendarm hatte und sich beim Sportfest in die Hose geschissen hatte. Dawson musste eine Meile nach Hause joggen, um ihm eine zu leihen. Gut, es blieb nicht kommentarlos und nicht ohne Gelächter, aber Collin konnte seine Visage wahren, ohne sich vor der ganzen Schule zu blamieren. Seitdem aß er auch nicht mehr bei Subway, wenn eine Aushilfe keine Ahnung hatte, wie lange die Mortadella schon da stand.
»Sie...«, seine Unterlippe zitterte, »sie war... Elin war da. Am Fenster...vor dem Restaurant. Ich schwöre es euch, sie war da. Am Fenster...ihr Anhänger von der Tasche«, stammelte er noch entsetzt und von seinen Gedanken zerfressen.
Das mulmige Gefühl in meinem Bauch bewahrheitete sich. Collin begann herumzuspringen. Es musste soweit kommen, dass einer von seinen Schuldgefühlen geplagt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von uns dem Wahnsinn erlag. Collin war der Erste, obwohl ich immer geglaubt hatte, dass ich es sein würde.
Nur war es bei mir die Reue. Die unglaubliche Reue...Reue, sie kennengelernt zu haben. Reue, davor darauf gehört zu haben, anstatt dem Spiel ein Ende zu bereiten, wie es ein Mann tun würde. Nur war ich alles andere als das.
Ich war ein elendes Arschloch, dass noch um seine ehemals süchtige Mutter bettelte und seinem leiblichen Vater, der noch immer nichts von mir wusste, hinterherstalkte. Ich war schlimmer als jeder verdammte Weise, der von einer Familie träumte, denn die waren kleine Kinder. Man könnte meinen, dass ich es als Erwachsener besser wissen und reifer sein sollte. Im Gegenteil. Ich war ein armseliger Mistkerl, der aus Langeweile und Geilheit ein nettes Mädchen, das es gut mit mir meinte, in die Scheiße geritten hatte.
»Das kann nicht sein, diese Schlampe liegt im Koma. Die Ärzte können sich doch nicht verarschen lassen«, schmatzte Dawson ungläubig und nibbelte an seinem mit Fett triefenden Burger. Schon allein bei dem Anblick verzog ich das Gesicht.
Landon starrte in die Luft und sein Blick verriet mir, dass er am Grübeln war. In seiner linken Hand hielt er sein goldenes Feuerzeug. Er versuchte sich das Rauchen abzugewöhnen und deshalb fummelte er nervös mit dem kleinen Lichtbringer herum. Dennoch bemerkte ich heimlich, wie er manchmal heimlich hinter einem Gebüsch qualmte, manchmal sogar eine halbe Packung. Er war was die Heimlichtuerei anging, nicht gerade subtil.
»Das bildest du dir nur ein. Dein Verstand spielt dir nur einen Streich, weil du gerade so viel um die Ohren hast. Deine Eltern lassen dich Tag für Tag im Restaurant aushelfen und gönnen dir seit dem Abschluss keine Ruhe«, murmelte Landon ungeniert. Er dachte weiterhin nach. Wenn es nicht dieses auftauchende Problem war, dann war es der Moment, in dem seine Lippen wieder an der Kippe zogen, bis seine Lunge sich tiefschwarz verfärbte, wenn es das nicht schon war.
»Ich habe sie mir NICHT EINGEBILDET«, brüllte Collin weiterhin überzeugt. Panikschweiß trat aus seinen Gesichtsporen. Sein Hemd, welches er manchmal beim Kellnern trug und das auch einen Soßenfleck hatte, war durchnässt vom Schweiß.
Landon schloss die Kappe seines Metallfeuerzeugs geräuschvoll. Sein Mund formte sich sehnsüchtig nach einer Zigarette, die Finger seiner rechten Hand waren schon bereit, die Kippe sinnlich zu befummeln, als würde er eine ältere Frau liebkosen.
»Hör auf, alle in Panik zu versetzen, nur weil du nicht schlafen kannst. Dieses Mädchen liegt im Koma. Ende. Wir können nur hoffen, dass sie Hirntot ist und auf ewig schweigt. Du musst einfach dein verfluchtes Maul halten, sonst werde ich gezwungen sein, ihn dir zu stopfen, Collin«, zischte Landon mit einem stechenden Blick.
Ich konnte nichts dazu sagen. Elin war schon länger im Koma und ich konnte einfach kein Wort dazu herausbringen. Mein Gewissen war eine der Dinge, die ich in unserem Spiel immer mehr verloren hatte. Zumindest redete ich es mir ein. Ich hatte eher die Fähigkeit zu sprechen verloren. Meine Meinung zu äußern. Zu empfinden... oder so ähnlich.
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