8) Nur ein Katzensprung
Als die Lichter wieder angehen, weiß ich nicht, was ich in den vergangenen Minuten gesehen und gehört habe. Das passiert mir manchmal, wenn ich ganz in Gedanken versunken bin. Dann könnte eine Blaskapelle um mich herumtanzen und ich würde es nicht mitbekommen. Wie mechanisch folge ich Narcisse zum Ausgang. Erst als wir draußen vor dem Theater stehen, komme ich langsam wieder zu mir. Ein feiner Nieselregen tränkt die Luft und überzieht die Dächer mit einem feuchten Glanz. Die Reifen und Räder der vorbeifahrenden Kutschen und Voiturettes erzeugen ein nasses Rauschen auf dem Straßenpflaster.
Fröstelnd schlinge ich die Arme um den Körper. Ich weiß nicht, warum, aber das Wetter löst eine Erinnerung bei mir aus. Sie ist nicht mehr als ein Aufblitzen in meinen Gedanken. Nur eine kurze Abfolge einzelner, zusammenhangloser Bilder aus meiner Kindheit. Ich alleine in einer dunklen Gasse. Auf der Suche nach meiner Mutter. Das Glitzern verschwommener Lichter, das Rauschen eines Flusses. Der Geruch von Orangen.
»Ich hoffe, das Stück hat Ihnen gefallen«, bemerkt Narcisse.
»Es war sehr unterhaltsam«, antworte ich mit einem zurückhaltenden Lächeln.
Narcisse sieht den anderen Gästen nach, die das Theater verlassen und zu ihren Transportmitteln strömen. Ein Mann läuft auf die Straße, um eine überdachte Droschke anzuhalten. Kichernde Frauen in bodenlangen Roben drücken sich an den Häusern entlang, um nicht nass zu werden. »Also ... ich vermute, Sie werden meinen Auftrag annehmen.«
Ich nicke. »Ja ... ja, das werde ich.« Hinter dem Rücken überkreuze ich Zeige- und Mittelfinger. Nur, um ganz sicher zu gehen, dass ich mich nicht versündigen werde.
»Gut.« Narcisse stützt sich mit beiden Händen auf einen versilberten Gehstock. »Und wie ist das weitere Vorgehen?«
»Ich werde Sie morgen besuchen«, antworte ich. »Entweder bei Ihnen zu Hause oder in Ihrem Büro. Ganz wie Sie wollen.«
Narcisse' Mundwinkel zucken. Vielleicht findet er die Vorstellung, eine unverheiratete Frau zu sich einzuladen, provozierend. »Und dann?«
»Dann werde ich Ihnen eine ganze Reihe Fragen stellen, auf die ich ehrliche Antworten erwarte.« Ich sehe Narcisse direkt ins Gesicht. »Nur, wenn Sie vollkommen ehrlich zu mir sind, werde ich Ihnen helfen können.«
»Das werde ich, wenn Sie mir versichern, dass Sie meine Aussagen vertraulich behandeln.«
»Aber natürlich.«
Narcisse nickt. »Na gut. Sie können mich morgen in meinem Anwesen besuchen. Das liegt an der Malvenallee. Sie können es gar nicht ver-« Er hält inne.
Schnell habe ich den Grund für sein Zögern ausgemacht. Étienne und die Dame in Schwarz kommen die Stufen hinunter. Sie hat sich bei ihm eingehakt und bewältigt die Treppe trotz ihres langen und unhandlichen Kleides mit einer stoischen Eleganz. Dabei lauscht sie Étienne, der mit einer Hand gestikulierend auf sie einredet. Anscheinend hat ihn das Stück inspiriert.
Mein Blick wandert von ihm zurück zu Narcisse, dem der Anflug eines angewiderten Nasekräuselns anzusehen ist. Eine seltene Regung unter seiner zuvorkommenden Maske.
»Kennen Sie Étienne Romarin?«, erkundige ich mich.
»Kennen ist zu viel gesagt«, brummt Narcisse. Er scheint sich mit Gewalt von Étiennes Anblick losreißen zu müssen. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Frau Pommier. Halten Sie sich von diesem Individuum fern.«
»Das klingt ... bedrohlich. Ist er gefährlich?«
»Er hat keinen guten Ruf«, erwidert Narcisse. »In seinem Haus treiben sich seltsame Gestalten herum.«
»Aber er befindet sich in Gesellschaft von Adeline de Cinc Estrellia, oder nicht? Sie hat das Corps geleitet und kann daher wohl nur schwerlich als seltsame Gestalt bezeichnet werden.«
Narcisse lächelt steif. »Man merkt, dass Sie nicht von hier kommen.«
»Das heißt?«
»Das heißt, dass Madame de Cinc Estrellia eine Verbrecherin ist.«
»Wirklich?«, entweicht es mir. »Aber wieso ist sie dann nicht im Gefängnis?«
»Wie Sie schon sagten: Sie hat das Corps geleitet.«
Ich verstehe nicht, was Narcisse damit andeuten will. Hat sie das Amt vor dem Gefängnis bewahrt? Oder hat sie ihre Verbindungen ausgenutzt, um der Gerichtsbarkeit zu entgehen? Ich bin mir nicht sicher, ob Narcisse die Antwort auf diese Frage kennt.
»Was hat sie denn für ein Verbrechen begangen?«
»Sie hat ihren Mann umgebracht.« Narcisse räuspert sich. »Das erzählt man sich jedenfalls. Seine Leiche ist nie gefunden worden.« Er presst die Lippen zusammen und deutet zur anderen Straßenseite hinüber. »Da vorne ist Ihre Voiturette. Der Fahrer wird Sie zurück zum Hotel bringen.« Seine Züge werden wieder weicher. »In diesem Kleid sollten Sie nicht zu Fuß unterwegs sein.«
Ich bedanke mich höflich für die Einladung, das Kleid und die angenehme Gesellschaft. Dann warte ich eine Lücke im Verkehr ab und überquere die Straße. Auf halbem Weg wirbelt mir der Wind die Haare ins Gesicht. Ich drehe den Kopf weg und werde prompt von den Karbidlampen einer heranrasenden Voiturette geblendet.
Eilig trippele ich zu meinem bereitstehenden Fahrzeug und klettere auf die Sitzbank. Das faltbare Verdeck schirmt mich vor Wind und Regen ab. Ich lasse mich zurücksinken und schließe die Augen. Aus einem Grund, der mir in diesem Moment nicht ganz klar ist, klopft mir das Herz bis zum Hals. Kommt das wirklich nur von dem kurzen Sprint? Oder ist es mein Instinkt, der sich zu Wort meldet? Irgendetwas wegen Narcisse? Was es auch ist, ich komme nicht darauf.
Frustriert knete ich meine Nasenwurzel. Meine Schwester hat mir mal gesagt, dass ich davon Falten bekommen würde, aber das ist mir ziemlich egal.
Mein Fahrer hat dieses Mal kein Interesse daran, mit mir zu plaudern, was mir ganz recht ist. Ich fühle mich müde und ausgelaugt – und ich habe Hunger. Oder vielmehr: das Druden-Äquivalent von Hunger. Es fühlt sich an wie ein Loch hinter dem Bauchnabel. Wenn ich mir nicht bald jemanden zum Drücken suche, werden die Beschwerden sich ausweiten.
Auf der Fahrt zum Hotel überlege ich, wie ich damit umgehen soll. Ich könnte ganz altmodisch auf die Jagd gehen. So wie früher. Einfach ziellos herumlaufen und in Schlafzimmer spähen, bis ich eine lohnende Beute entdecke. Doch Tournesol und seine Bewohner sind mir fremd und ein solches Vorgehen birgt Gefahren. Alternativ könnte ich das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden und mir Narcisse vornehmen. Dann hätte ich bereits einen ersten Eindruck seines Problems, bevor ich morgen meine Wunderheiler-Nummer abziehe.
Hin und her gerissen zwischen meinen Optionen, lasse ich die Stadt und ihre Lichter an mir vorbeiziehen. Alles verschwimmt vor meinen Augen zu einem Flackern und Flirren. Erneut wallen Erinnerungen in mir auf. Eine eigenständige Welt in meinen Gedanken, in der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart miteinander vermischt sind, wie die Lichtreflexe der Laternen auf dem feuchten Straßenpflaster. In diese Welt gibt es kein Hinaus. Nur ein Hinein. Es ist ein Labyrinth, von dem ich mich fernhalten sollte.
Nach kurzer Fahrt bin ich zurück am Hotel. Der Portier kommt die Treppe herunter, um mich mit einem Schirm in Empfang zu nehmen. Höflich geleitet er mich ins Foyer. Ich bedanke mich und spaziere zur Rezeption, wo ich mich bei dem jungen, etwas gelangweilt aussehenden Concierge nach der Malvenallee erkundige. Er beschreibt mir den Weg und bietet mir an, einen Fahrer zu organisieren, aber ich lehne höflich ab, bedanke mich und kehre auf mein Zimmer zurück. Dort schäle ich mich vorsichtig aus dem teuren Kleid und schlüpfe in bequemere Klamotten: ein locker sitzendes Hemd, das ich in den Bund einer weit geschnittenen Männerhose stopfen kann, flache Stiefeletten, eine grobe Wolljacke und eine Schiebermütze, die meine blonde Mähne verbirgt. Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie mich so sehen könnte, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, die Toten als die Lebenden zu verärgern.
Derart verkleidet, trete ich ans Fenster und werfe einen Blick hinaus. In der Ferne kann ich den Ozean erahnen. Eine wabernde, gestaltlose Schwärze, die sich mit der Nacht und den Regenwolken zu vereinen scheint. Nebel hängt in der Luft. Dick und schwer umgarnt er die Straßenlaternen.
Das Hotel liegt am Hang einer kleinen, der Bucht zugeneigten Anhöhe. Im Osten – in der Nähe des Lufthafens – ist das Terrain eher flach, bis es an den Kreideklippen steil abfällt. Im Nordwesten verläuft das Land dagegen buckelig wie ein Teekränzchen beim Kriegsversehrtenbund, bevor es schließlich an die Chenilles grenzt, eine kleine Bergkette vulkanischen Ursprungs. Wenn ich den Concierge richtig verstanden habe, befindet sich das Anwesen von Roland Narcisse etwa eine halbe Stunde Fußmarsch vom Hotel entfernt in nördlicher Richtung, auf einer die Perle genannten Erhebung. Ich habe nicht unbedingt vor, ihn noch in dieser Nacht zu drücken, aber ein kleiner Spaziergang kann mir nicht schaden. Und wer weiß ... vielleicht finde ich ja unterwegs ein passendes Opfer?
Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, schiebe ich das Fenster auf und verkeile es mit einem Buch. Dann atme ich tief ein und suche nach meiner Mitte, um mich zu entspannen. Mich in Staub zu verwandeln, käme mir bei diesem Wetter nicht in den Sinn (generell ist das bei Sturm oder Regen eine riskante Angelegenheit), aber ich habe noch ein paar andere Tricks auf Lager. Dass ich mich in Tiere verwandeln kann, habe ich per Zufall herausgefunden. So wie fast alles in Bezug auf meinen Fluch.
Im Grunde hat meine Verwandlungskarriere damit angefangen, dass ich mich auf der Suche nach einem Opfer in ein Herbergszimmer verirrt hatte. Damals waren die Menschen in der Gegend bereits alarmiert. Eine Hexe würde umgehen oder eine Nachtalbin, hieß es. Und als dann die eilig zusammengetrommelte Bürgerwehr auf der Suche nach einer Frau, die nicht in ihrem Bett lag, die Herberge stürmte, war mir nichts anderes übriggeblieben als mich zu verwandeln. Wenn ich heute daran zurückdenke, erscheint mir meine erste Verwandlung wie ein Hustenreflex. Eine unkontrollierbare Reaktion des Körpers, um ein Ersticken zu verhindern. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich wusste nicht, was mit mir passierte. Jedenfalls nicht, bis die mit Knüppeln, Äxten und Mistgabeln bewaffneten Männer an mir vorbeirannten und mein Körper durch den entstehenden Luftzug in die hinterste Ecke des Zimmers geweht wurde.
Seitdem habe ich viel herumexperimentiert. Schnell lernte ich, meinen Körper in die Form unbelebter Objekte zu pressen. Staub, Federn, eine Brille, eine Packung Zündhölzer ... alles, was im Allgemeinen keinen Verdacht erregt, wenn es im Schlafzimmer gefunden wird.
Mit lebenden Geschöpfen tat ich mich dagegen deutlich schwerer – bis zu dem Tag, als ich beim Eindringen in ein fremdes Schlafzimmer in die Fänge eines neugierigen Katers geriet. Bis heute kann ich mir nicht genau erklären, wieso mein Körper ausgerechnet auf diese Weise reagierte. Manchmal ist es fast, als besäße ich einen zweiten Verstand. Einen, der viel älter und urtümlicher ist als mein eigener Verstand und die ganze Welt aus seiner verqueren Perspektive betrachtet. Wie auch immer, ich habe damals gelernt, mich in eine Katze zu verwandeln. Und manchmal gelingt mir auch eine Maus, aber das ist ein unsicheres Ergebnis.
In Katzengestalt klettere ich aus dem Fenster und springe auf das darunterliegende Gesims. Da ich keine echte Katze, sondern nur ein Mensch im Körper einer Katze bin, glaube ich nicht, dass ich im Falle eines Falles (haha) immer auf den Füßen landen würde. Daher taste ich mich vorsichtig über den Mauervorsprung bis ich auf ein niedrigeres Dach springen kann. Von dort suche ich mir einen Weg hinab zur Straße und verwandele mich wieder zurück.
Froh, wieder auf zwei Beinen zu stehen, ziehe ich mir die Wolljacke enger um den Körper und lasse meinen Blick schweifen, bis ich die Umrisse der alten Königsburg oben auf der Anhöhe entdecke. Dadurch weiß ich, in welche Richtung ich gehen muss. Die Hände in die Jackentaschen gestopft und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, marschiere ich los.
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