69) Unter dem Elfmond

Auf der anderen Seite erwartet mich nicht direkt der Anblick, den ich erwartet hätte.

Étienne sitzt halbnackt am Fußende eines breiten Doppelbettes, hat die Ellenbogen auf die Knie und das Gesicht in die Hände gestützt. Hinter ihm liegt Camille ausgestreckt zwischen den seidenen Laken. Durch das Fenster dringt der hellrote Schein des Elfmondes herein, der sich in den vergangenen Minuten aus dem Schatten des Mondes gewagt haben muss.

»Étienne ...?«, hauche ich.

Langsam hebt Étienne den Kopf. Sein Gesicht sieht irgendwie verändert aus, auch wenn ich nicht sagen kann, was der Grund dafür ist. Schweiß glänzt auf seiner Stirn.

»Ist alles in Ordnung?«, frage ich, während ich ins Zimmer komme und dabei über seine am Boden liegende Anzugjacke hinwegsteige.

Zu meiner Erleichterung nickt Étienne. »Ja ...« Er wirft einen kurzen Blick auf Camille. »Sie ist eingeschlafen.«

Ich ignoriere Camille, gehe zu Étienne und will ihn küssen, als könnte ich damit die vergangenen Minuten ungeschehen machen, aber er wehrt mich ab. »Nicht.«

Das Wort schneidet wie ein Messer in mein Fleisch. »Was ist denn los?«

Étienne sieht aus dem Fenster. Sein Kehlkopf wandert auf und ab. »Isabel ist ...?«

»Unten bei Faucon«, vervollständige ich seinen Satz. Mir dämmert so langsam, was das Problem ist. »Kannst du dich noch ein bisschen zusammenreißen?«

»Das muss ich wohl«, antwortet Étienne mit einem schwachen Lächeln.

Ich trete noch näher an ihn heran und ziehe seinen Kopf an meine Brust.

Er vergräbt die Nase in meinem Dekolleté und nuschelt: »Und schon geht's mir besser.«

»Du bist wirklich einfach gestrickt«, kommentiere ich süffisant.

Étienne sieht zu mir auf. »Tut mir leid, dass du das alles mitansehen musstest.«

»Ich werde es verkraften.«

Mein Blick wandert zu Camille. Ihr Dekolleté ist verrutscht, ihr Rock hochgeschoben und sie scheint friedlich zu schlafen. Als wäre sie mittendrin einfach eingenickt.

»Sie verträgt wirklich nicht viel«, sagt Étienne, der meinen Blick bemerkt haben muss.

»Du hast deine Arbeit erledigt«, erwidere ich. »Jetzt ist es an der Zeit, dass ich tue, was nötig ist.«

Ich löse mich von Étienne, raffe meinen Rock zusammen und klettere aufs Bett. Der Schein des Elfmonds fällt auf meine nackten Oberarme und verleiht meiner Haut einen rötlichen Schimmer. Ich spüre den Hunger in mir aufwallen, als hätte sich tief in meinem Innern ein Tor zu einem fremden und bösen Ort geöffnet. Normalerweise hasse ich dieses Gefühl, doch heute kommt es mir ganz gelegen. Nicht, dass ich Camille tatsächlich essen wollte, aber ich freue mich schon darauf, ihr einen richtig schlimmen Albtraum zu bescheren. Gleichzeitig mache ich mir Sorgen darüber, was mich in ihrem Traum erwarten könnte.

Unter Étiennes neugierigen Blicken zupfe ich Camilles Kleid zurecht, schwinge ein Bein über ihren Körper und setze mich auf ihre Brust. Camilles Lider flattern, aber sie wacht nicht auf. Wie die steinerne Göttin Vika auf dem Dach des Parlaments sehe ich auf sie herab. Meine Position gibt mir ein Gefühl von Macht. Der Schlaf ist meine Welt und Camille wird schon sehen, worauf sie sich eingelassen hat.

»Soll ich rausgehen?«, fragt Étienne.

»Nein«, antworte ich. »Es wird nicht lange dauern.« Noch während ich das sage, beuge ich mich vor, presse meine Lippen auf Camilles Mund und -

- finde mich schon im nächsten Moment an einem vollkommen fremden Ort wider.

Ein Haus. Nein, ein Anwesen. Endlose Flure mit einem dunklen Dielenboden, die nach Staub und Bohnerwachs riechen. Weiße Gardinen, die in einem warmen Wind wehen. Das Rauschen des Ozeans. Das Kratzen von Kreide auf Schiefertafeln. Der gedämpfte Klang von Kinderstimmen und kleinen Füßen auf schwerem Holz.

Ich befinde mich in einer Schule.

Langsam setze ich mich in Bewegung und spähe in die Türen, die links und rechts vom Flur abzweigen. Kinder sitzen artig an ihren Pulten und kritzeln in ihre Hefte. Lehrer stehen an der Tafel und diktieren Texte oder zeigen mit dem Stock auf Zeichnungen und Formeln. Alles fast genau so wie ich es aus meiner eigenen Kindheit erinnere.

Ein leises Klatschen und Wimmern lässt mich aufhorchen.

Ich folge den Geräuschen. Der Flur um mich herum verdunkelt sich. Die Wände scheinen näher zusammenzurücken.

Und dann sehe ich, was die Geräusche verursacht.

In einem der Klassenzimmer wird ein kleiner, eher dicklicher und rotwangiger Junge vom Lehrer übers Knie gelegt und kriegt mit einem Rohrstock den Hintern versohlt. Er strampelt mit den Beinen, weint und ruft nach seiner Mutter. Die anderen Kinder sind nur gesichtslose Schemen, die das Geschehen teilnahmslos beobachten – bis auf ein kleines Mädchen, das unter dem Fenster kauert, ihr Gesicht in den Händen verbirgt und bei jedem Klatschen des Rohrstocks erschrocken zusammenzuckt. Sie trägt ein hübsches, weißes Spitzenkleid und ihre goldbraunen Haare werden von Spangen mit kleinen Seidenrosen zurückgehalten. Als der Lehrer kurz innehält, linst sie zwischen ihren Fingern hindurch, sodass ich ihre faszinierenden opalblauen Augen erkennen kann. Ohne Zweifel. Ich habe es mit Camille Cerisier zu tun. Der kleine Junge, der soeben den Hintern versohlt bekommt, ist vermutlich ihr Bruder Vernon.

Ich will ihn mir gerade genauer ansehen, da springt das Mädchen auf, hetzt an der mit Joumon-Schriftzeichen beschmierten Tafel entlang und stürzt an mir vorbei zur Tür hinaus.

Der Lehrer lässt von Vernon ab, schiebt ihn mit einer ruppigen Bewegung von seinem Schoß und richtet sich mit erhobenem Rohrstock auf, um Camilles Verfolgung aufzunehmen. Dabei bemerke ich, dass er ganz eindeutig jouyanstämmig ist.

»Kamilla!«, ruft er mit einem starken Joumin-Akzent und seine Stimme hallt auf unheimliche Weise von den Wänden des Flurs wider.

Camille rennt, als ginge es um ihr Leben. Sie atmet schwer und Tränen laufen ihr über die Wangen.

Im Traum fliege ich neben ihr her. Wir gleiten durch die Finsternis. Die Wände um uns herum verändern sich. Scheinen auseinanderzufallen und sich wieder neu aufzubauen. Ich erhasche einen Blick auf dicke, grobe Steinmauern. In den Ritzen wachsen Moose und Pilze. Feuchtigkeit tropft von der Decke und sammelt sich in Pfützen auf dem Boden. Ich kann den Lärm einer Stadt vernehmen, doch es klingt weit weg und gedämpft, als würde ich mich unter der Erde befinden.

Camille rennt immer weiter und ich kann erahnen, dass wir verfolgt werden. Der Joumin-Lehrer ist nicht mehr alleine. Er scheint eine ganze Armee aus Schatten anzuführen, die Jagd auf uns machen. Wie eine wild gewordene Meute hetzen sie uns nach und rufen dabei immer wieder etwas, das ich nicht verstehen kann. Irgendetwas auf Joumon.

Irgendwann stürzt Camille und schürft sich das Knie auf. Mit einem leisen Wimmern kommt sie wieder auf die Beine und flüchtet durch eine Tür mit einem vergitterten Fenster in einen winzigen, quadratischen Raum. Dort schnappt sie sich etwas Metallisches, das auf einer Holzbank in der Mitte des Raumes steht, und kauert sich damit an der hinteren Wand zusammen.

Kurz darauf brandet die Flutwelle unserer Verfolger gegen die Tür. Mit Fäusten und Stöcken versuchen die Joumin, sich Zutritt zu verschaffen. Camille drückt den Gegenstand, den sie hier unten gefunden hat, fest an sich und schließt die Augen.

Ich trete näher an sie heran. Sie zittert in buchstäblicher Todesangst. Mein Interesse gilt jedoch nicht ihr, sondern dem seltsamen Objekt, das sie mit beiden Armen umschlungen hält. Dank der Zeichnungen von Hubert Samedi erkenne ich die magische Maschine. Sie ist jedoch viel kleiner als ich sie aus Narcisse' Traum in Erinnerung habe. Und sie wirkt auch gar nicht mehr so bedrohlich. Mehr wie ein Spielzeug als wie ein Tötungsinstrument.

Kaum habe ich das gedacht, bricht die Tür hinter mir auf und die Schatten strömen herein, um Camille mit Klauen und Zähnen zu zerreißen.

Doch auch ich komme nicht unbeschadet davon. Ich werde gepackt und -

- schwungvoll aus ihrem Albtraum katapultiert.

Mitten hinein ins Chaos.


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