64) Vom Mutigsein

»Seid ihr sicher, dass ihr bereit seid?«, fragt Adeline, während sie unsere schicke Leihvoiturette durch die Nacht nach Holting steuert.

»Keine Sorge«, erwidert Étienne und zupft seine Manschettenknöpfe zurecht. »Ich habe einen Plan.«

»Ach ja?« Adeline klingt skeptisch.

»Ja«, bestätigt Étienne ohne weitere Erklärungen.

Adeline wirft einen kurzen Blick über ihre Schulter.

»Ich habe keine Ahnung, wovon er redet«, sage ich rasch und beuge mich zu Étienne, um seine dunkelrot glänzende Fliege zu richten.

Den ganzen Tag haben wir bangend auf gute Neuigkeiten gewartet, doch die magische Maschine ist trotz aller Bemühungen, sie zu finden, verschollen geblieben.

Sicherlich hätten wir bei unserer Suche bessere Aussichten auf Erfolg gehabt, wenn nicht viele Kräfte durch den Besuch aus Jouyan gebunden gewesen wären. Aus diesem Grund haben Adeline und Faucon nur größere Gebäude und zentrale Knotenpunkte der Stadt durchsuchen lassen können. Darunter das Hotel der Joumin-Delegation, das Parlament, das Lou-Tan-Theater, den Muscheltempel, die alte Befestigungsanlage, zwei Kaufhäuser, die Gendarmerie sowie mehrere Ämter und Behörden. Nirgendwo eine Spur der Maschine.

»Hoffentlich weißt du, was du tust«, seufzt Adeline.

Étienne lächelt. »Hab ich dir je Anlass gegeben, mir zu misstrauen?«

»Ich habe schon das eine oder andere Mal an deinem gesunden Menschenverstand gezweifelt, ja«, erwidert Adeline. »Aber meistens hat sich am Ende alles in Wohlgefallen aufgelöst.«

»Na siehst du?« Étienne lehnt sich zurück und legt mir den Arm um die Schultern.

Ich bin jedoch viel zu nervös, um mich zu entspannen. Der Fahrtwind kühlt mein Gesicht und brennt mir in den Augen. Meine Gedanken kreisen um die Katastrophe, die uns bevorstehen könnte. Immer wieder sehe ich Narcisse' Albtraum vor mir. Das magische Gewitter, den Sturm, die Blitze. Ich höre die Schreie der Elfen und das Krachen und Donnern, mit dem ihre Stadt untergeht. Vor lauter Aufregung bekomme ich schon Magenprobleme.

»Die Maschine könnte sich im Cerisier-Anwesen oder in der Schule befinden«, sagt Adeline.

»In der Schule? Bei den Kindern?«, frage ich beunruhigt.

Adeline seufzt schwer. »Wir können es nicht ausschließen. Ihr müsst bei eurer Suche gründlich vorgehen.«

»Das werden wir«, verspreche ich.

Étienne legt den Kopf in den Nacken. Dichte, dunkle Wolken verbergen den Himmel. Vielleicht wird es später noch regnen.

»Der Trick mit den Kopien war übrigens wahnsinnig gut«, wechsle ich das Thema. Ich muss mich irgendwie beschäftigen, wenn ich vor Sorge nicht verrückt werden will.

»Welcher Trick mit den Kopien?«, fragt Adeline.

»Na ja, das mit diesem Verfahren. Wie hieß das doch gleich?«

»Melastypie?«, kommt mir Étienne zu Hilfe.

Adeline lacht. »Ach das!«

»Wieso lachst du?«

»Weil ich mir das ausgedacht habe.«

Ich kann es nicht glauben. »Wirklich? Das war nur ein Bluff?«

»Alle bekannten Kopierverfahren benötigen mehrere Tage, um ein Bild oder einen Text zu vervielfältigen«, erwidert Adeline. »Also musste ich ein bisschen kreativ werden.«

»Wieso hast du uns das nicht gesagt?«, fragt Étienne.

»Manche Täuschungen funktionieren nun einmal besser, wenn die Beteiligten nicht eingeweiht sind.«

»Mensch ...«, murmele ich kopfschüttelnd. »Dich will ich wirklich nicht zum Feind haben.«

»Das wirst du auch nicht, Betty.«

Mir wird bewusst, dass Adeline mich zum ersten Mal beim Vornamen genannt hat und die Düsternis in meinem Innern klart für einen kurzen Moment auf, bevor sie sich beim Anblick der vorausliegenden Hügellandschaft erneut verdunkelt.

Holting ist eine ehemalige westragonische Enklave, die sich in den vergangenen Jahren zu einem schicken Städtchen gemausert hat. Laut Étienne haben viele wohlhabende Inselbewohner ihren zentralen Wohnsitz inzwischen nach Holting verlegt. Wegen der zunehmenden Motorisierung und dem Ausbau des Fernsprechernetzes ist das keine allzu große Umstellung. Die Stadt liegt am Rand einer kleinen Hügelkette am östlichen Ende der Chenilles. Die Küste ist auf dieser Seite der Insel flach und von einem feinen, weißen Sand bedeckt. Am Straßenrand wachsen exotische Palmen, Heckenrosen und blühende Sanzi-Kiefern. Viele der Häuser bestehen aus weißem Holz und besitzen weitläufige Veranden und Terrassen, die es den Bewohnern ermöglichen, die wundervolle Aussicht zu genießen. Einige Häuser sind auch ganz nah am Ozean errichtet worden und ragen auf hölzernen Stelzen aus dem Sandstrand heraus.

Als wir den Stadtrand erreichen, können wir bereits das Cerisier-Anwesen erkennen, das in den Hügeln liegt und von vielen Lichtern hell erleuchtet wird. Die Straßen von Holting sind mit Wimpeln und Girlanden geschmückt. Überall hängen Plakate mit Schriftzügen auf Joumon. Étienne erklärt uns, dass es sich um Willkommensgrüße handelt. Vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der wohlhabenden Inselpopulation es vorzieht, seine Blutlinie frei von Joumin-Einflüssen zu halten, finde ich diese Grüße eine regelrechte Anmaßung.

Adeline reiht sich in eine lange Schlange von Voiturettes ein, die sich im Schneckentempo den Hügel hinaufquälen. Ein paar Wagen vor uns kann ich Seymour und Isabel erkennen, die sich kurz vor uns auf den Weg nach Holting gemacht haben.

Entlang der Straße stehen Schaulustige, die Jouyan-Fahnen schwenken und versuchen, einen Blick ins Innere der Fahrzeuge zu erhaschen.

»Ich habe gehört, es würden einige Berühmtheiten erwartet«, sagt Étienne.

»Ach ja?«, frage ich, während ich nervös an den losen Haarsträhnen herumzupfe, die mein Gesicht umspielen.

Die persönliche Friseurin des Präsidenten hat mich vor unserer Abfahrt zurechtgemacht. Auch das beeindruckende hellblaue, mit Pailletten und Perlen bestickte Kleid und die dazu passenden Riemchenschuhe sind mir gestellt worden. Unter anderen Umständen hätte ich mich darüber sicher gefreut, doch in Anbetracht der Herausforderungen, die noch vor uns liegen, ist mir meine Kleidung vollkommen egal. Sie ist nur ein Mittel zum Zweck, damit ich bei den Feierlichkeiten nicht unangenehm auffalle.

Étienne ist ebenfalls hübsch zurechtgemacht und natürlich habe ich bemerkt, wie gut er aussieht, wenn er sich in Schale schmeißt, aber auch dafür habe ich im Moment keinen Blick.

»Ach, na ja.« Étienne macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ein paar Schauspieler, Sängerinnen und Radiomoderatoren. Das Übliche eben.«

Ich atme langgezogen aus und reibe mit den Händen über meine Knie. Die Nervosität frisst mir noch ein Loch in den Magen.

»Hey ...« Étienne angelt nach meiner Hand und drückt sie fest. »Es wird alles gut werden.«

»Das sagst du so einfach.«

»Zäh wie Schuhleder, schon vergessen?«

Ich nicke zögerlich. »Ja ... ja, das hab ich gesagt.«

»Du hast das damals überlebt und du wirst auch heute überleben. Wir alle werden das.« Étienne stößt mich kumpelhaft mit der Schulter an. »Du wirst sehen, in ein paar Jahren lachen wir darüber.«

»Vielleicht«, murmele ich und knabbere an meiner Unterlippe herum. »Weißt du was?«

»Was?«

»Ich mache das für Narcisse und Andrea.«

Étienne schmunzelt. »Ich weiß.«

»Faucon hat sie getötet und dafür muss er bestraft werden, aber wer auch immer die Maschine gestohlen hat, trägt eine Mitschuld an ihrem Tod, oder?«

»Palmier hätte Faucon nicht befohlen, sie zu töten, wenn die Maschine nicht geklaut worden wäre.«

Ich nicke. »Ja ...«

»Sieh dir doch an, wie weit du gekommen bist, Betty«, sagt Étienne. »Du arbeitest mit Elfen zusammen, um die Welt vor ein paar Verrückten zu retten. Hättest du dir das träumen lassen, als wir damals durch die Tür miteinander gesprochen haben?«

»Nein«, gebe ich zu.

»Du kannst stolz auf dich sein. Und was auch immer jetzt noch auf uns zukommt, du wirst es genauso bewältigen, wie alles andere, das du schon überwunden hast.«

»Wenn es nur so einfach wäre, mutig zu sein.«

»Mit Mut hat das nicht viel zu tun«, sagt Adeline und fasst das Lenkrad fester. »Ich sage dir mal was: Die meisten Menschen sind nicht mutig. Sie wollen einfach nur in Ruhe leben und laufen nicht herum und begehen Heldentaten. Sie kämpfen nicht mit wilden Stieren, springen nicht von hohen Brücken und legen sich auch nicht mit der Eisenkreuzbewegung an. Glaub mir, Betty, nur sehr wenige Menschen sind so mutig, dass sie sich das trauen würden. Echter Heldenmut ist bloß ein paar Menschen auf der ganzen Welt gegeben. Was wir Anderen tun, ist viel simpler. Wir tun nämlich einfach nur das, was notwendig ist. Und wenn man tut, was notwendig ist, Schritt für Schritt, wird man merken, dass man in einem Maße über sich hinauswächst, das man nicht vorhergesehen hat.«

»Und das heißt?«

»Niemand ist mutig, Betty. Wir haben alle eine Heidenangst. Lass die Dinge auf dich zukommen und vertraue darauf, dass du im entscheidenden Moment das Richtige tun wirst.«

Vielleicht hat Adeline Recht. Ich war nie besonders mutig oder habe mich in einem außergewöhnlichen Maße für andere Menschen eingesetzt. Doch jetzt mache ich, was ich machen muss. Und ich mache es, weil ich Menthe und die Menschen, die hier leben, meine Freunde, die Joumin-Gemeinschaft und sogar eine kleine Elfe beschützen will. Und natürlich weil ich nicht zulassen möchte, dass Narcisse und Andrea umsonst gestorben sind. Ihr Tod muss einen Sinn gehabt haben. Andernfalls könnte ich nicht mehr in den Spiegel sehen.


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