62) Politisch verwickelt
Auf dem Weg zurück zur Kommandozentrale komme ich an Seymour und Isabel vorbei, die sich im Flur niedergelassen haben. Seymour schreibt auf einen Notizblock, während Isabel diktiert und gleichzeitig das Feuervogelei in eine Pelzjacke einwickelt.
»Hey, Betty«, sagt Isabel, als sie mich bemerkt.
»Hey«, erwidere ich und gehe vor den beiden in die Hocke. »Was macht ihr hier?«
»Ich helfe Momo beim Erinnern und erzähle ihm alles, was ich über ihn weiß«, antwortet Isabel.
»Offenbar sind meine anderen Notizbücher in einem großen Feuer verbrannt«, sagt Seymour mit Grabesstimme.
Ich presse die Lippen zusammen. »Tut mir leid.«
»Wie gut, dass er nicht vergessen hat, wie man schreibt«, bemerkt Isabel.
»So etwas vergesse ich nicht«, brummt Seymour.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben.«
»Ich habe mal einen Medizinstudenten von der Universität in Kliewer gedrückt«, berichte ich und erdulde stoisch Seymours genervte Blicke. Offenbar hat er auch nicht vergessen, wie man ein herablassender Fiesling ist. »Jedenfalls hat er von einer Prüfung geträumt und eine der Fragen lautete, wie man die unterschiedlichen Teile des Gedächtnisses nennt. Also ... vielleicht verlierst du immer nur einen Teil deiner Erinnerungen, weil nicht dein ganzes Gedächtnis vom Fluch betroffen ist.«
»Vielen Dank, Mademoiselle Pot... Pommier«, erwidert Seymour mit einem bissigen Lächeln. »Das war sehr erhellend.«
Ich wende mich an Isabel. »Was passiert jetzt mit Mae?«
»Ach ...« Isabel zieht die Schultern hoch. »Wir machen es ihr schön warm und kuschelig und in ein paar Tagen bricht die Schale auf und sie schlüpft.«
»Und dann?«
»Dann ziehen wir sie groß«, erklärt Isabel. »Aber das geht schnell. Nächste Woche um diese Zeit ist sie wieder die alte Mae.«
»Das ist ...« Furchtbar, denke ich. »... schön.«
Isabel nickt. »Ja. Und wir haben dafür gesorgt, dass sie Theo herbringen.«
»Prima«, sage ich, auch wenn ich in Gedanken noch immer bei Mae bin. Wie furchtbar muss es sein, jeden Tag mit dieser schrecklichen Last zu leben? Die Kontrolle zu verlieren, sich in einem Flammeninferno aufzulösen und danach vollkommen hilflos zu sein?
Andererseits ... Momo hat es auch nicht leicht.
»Was ich über deine Familie gesagt habe«, beginne ich langsam. »Das war die Wahrheit.«
Seymour seufzt. »Mag sein. Nur leider kann ich mich an überhaupt nichts davon erinnern.«
»Irgendwann wirst du dich erinnern«, sagt Isabel mit ihrer ganzen kindlichen Überzeugung und tätschelt sein Knie. »Das verspreche ich dir.«
»Und du?«, wechsle ich das Thema. »Wie geht es dir, Isabel?«
Isabel sieht mich an, als hätte ich eine sehr dumme Frage gestellt. »Gut. Ich bin viel robuster als ihr Menschen.«
»Faucon hat dir doch keine Angst gemacht, oder?«
»Nein.« Isabel schüttelt so heftig den Kopf, dass ihr die hellbraunen Haare ins Gesicht fallen. »Er tut mir nur leid. Die Magie sagt, dass ich ihm auch helfen muss.«
»Du sollst ihm helfen?«, wiederhole ich ungläubig. »Wobei?«
»Den Weg zu finden.«
Darauf weiß ich erstmal nichts zu sagen. Anscheinend haben die beiden grundlegend unterschiedliche Auffassungen von dem, was die Magie möchte oder wo ihr Weg hinführt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass sie überhaupt einen eigenen Willen besitzt. Für derart abstrakte Dinge fehlt mir die Fantasie.
»Na schön«, murmele ich. »Ich gehe dann mal wieder rein und sehe, wie ich Adeline helfen kann. Ihr meldet euch, wenn ihr etwas braucht.«
»Da wäre tatsächlich etwas«, sagt Seymour.
»Was denn?«
»Isabel hat mir gesagt, dass ich immer ein aktuelles Notizbuch bei mir tragen würde. Irgendjemand muss mir das Buch abgenommen haben.«
»Ich kümmere mich darum«, verspreche ich, richte mich wieder auf und kehre in die Kommandozentrale zurück.
Dort suche ich Adeline und Faucon, aber als ich sie nicht finden kann, mache ich da weiter, wo ich vor Étiennes Überfall aufgehört habe. Vielleicht finde ich irgendetwas in den Bauplänen, das mir den Standort der Maschine verraten könnte. Konzentriert blättere ich durch die Seiten und betrachte jede Skizze, lese jede noch so kleine Anmerkung. Obwohl ich nicht viel davon verstehe, bin ich schon bald vollkommen in meine Arbeit versunken.
Deshalb bemerke ich die vielen hereinströmenden Gendarmen und Bediensteten auch erst, als sie sich schon um mich herum versammelt haben. Ihre Aufmerksamkeit gilt jedoch nicht mir, sondern Adeline und Faucon, die vor der Pinnwand Aufstellung bezogen haben.
»Ruhe. Ruhe bitte«, sagt Adeline und klopft mit einem Schlagstock, wie sie die meisten Gendarmen am Gürtel tragen, gegen die Wand. Das Gemurmel im Raum verstummt. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir unsere ersten Ergebnisse zusammentragen und unser weiteres Vorgehen besprechen.«
Ich setze mich auf und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. An der Rückseite des Raumes sitzen Präsident Palmier, Étienne, Isabel, Seymour und ein paar Männer, die ich nicht kenne, aber anhand ihrer Kleidung für Politiker der Regierungsfraktion halte. Sie sehen aus, als wären sie ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen worden. Der Präsident balanciert einen kleinen Jungen, der in eine dicke Daunendecke eingewickelt ist, auf dem Schoß. Im Radio habe ich gehört, dass er seit der Trennung von seiner Frau, die ihn ziemlich skandalträchtig für einen bekannten Theaterschauspieler verlassen hat, mit seinem vierjährigen Sohn alleine lebt.
»Zunächst einmal zu den Fakten«, erklärt Adeline. »Die Maschine, die wir suchen, war im Keller der Königsburg, abseits des Publikumsverkehrs, untergebracht. Sie wurde vermutlich über einen der unterirdischen Tunnel gestohlen. Ein paar Tage später gab es ein Bekennerschreiben der Eisenkreuzbewegung.« Adeline klopft mit dem Schlagstock auf einen Zettel, der an der Pinnwand befestigt ist. »Darin verlangen sie, dass die beigelegten Gesetzesentwürfe zur Troisan dem Unterhaus zur Abstimmung vorgelegt werden – und dass alle möglichen Bemühungen unternommen werden, sie zum Beschluss zu bringen.« Adeline fasst den Stock mit beiden Händen. »Diese Entwürfe sehen zum einen den Abbruch aller politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Jouyan und zum anderen die umfassende Unterdrückung der bereits im Land lebenden Joumin vor. Natürlich dürfen sie unter keinen Umständen beschlossen werden, doch da die Troisan erst in ein paar Wochen stattfindet und die Frist der Erpresser schon morgen abläuft, sollten wir zumindest so tun, als würden wir auf ihre Forderungen eingehen.«
»Wir sollen uns also erpressbar machen?«, fragt einer der Politiker von hinten.
»Zum Schein und um Schlimmeres zu vermeiden«, antwortet Adeline.
»Aber das ist unmöglich«, wendet der Präsident ein. »Diese Entwürfe in das benötigte Format zu bringen und alle notwendigen Unterlagen, Versicherungen und Unterschriften beizubringen, würde mehrere Wochen dauern. Man kann nicht einfach einen Zettel beim Troisan-Amt einreichen. Nicht einmal, wenn man der Präsident ist. Das muss alles durch verschiedene Ausschüsse geprüft und bewertet werden. Es braucht Mehrheiten und Fürsprecher.«
Deswegen war Narcisse wohl auch so erbost, als du seine Rede einfach verschieben wolltest, denke ich.
»Und morgen endet nicht nur die Frist der Erpresser, sondern auch die Frist für die Einreichung von Gesetzesentwürfen«, setzt der Präsident nach.
Adeline pocht noch einmal mit dem Ende ihres Schlagstocks gegen das Erpresserschreiben. »Die Eisenkreuzer verlangen von uns einen Durchschlag der Eingangsbestätigung ihrer Entwürfe beim Troisan-Amt. Wenn wir ihnen das vorlegen, würden sie bis zur Troisan davon absehen, die Maschine zu benutzen.«
»Das Troisan-Amt ist eine unabhängige Kommission«, erklärt Palmier. »Ich kann sie nicht dazu zwingen, mir diese Eingangsbestätigung auszustellen.«
Adeline verdreht die Augen und wendet sich an Faucon, der wie eine Marmorstatue neben ihr steht und auf seinen Einsatz zu warten scheint. »Capitaine?«
»Das sollte kein Problem sein«, erwidert Faucon, ohne die Miene zu verziehen.
»Gut«, sagt Adeline. »Die Eingangsbestätigung sollen wir morgen Abend an einem Bahnwärterhaus draußen in Jambon ablegen.« Sie nickt Haricot zu. »Auch das sollte wohl kein Problem darstellen.«
»Aber was, wenn die Eisenkreuzer herausfinden, dass wir sie betrogen haben?«, meldet sich einer der Politiker von hinten zu Wort.
»Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen.«
»Und was, wenn die ganze Sache herauskommt? Was, wenn die Zeitungen aufschnappen, dass wir mit der Eisenkreuzbewegung verhandeln und jouminfeindliche Gesetze auf den Weg bringen wollen?«
»Dann werden Sie das wie Männer tragen«, erwidert Adeline sichtlich genervt. »Oder wollen Sie, dass diese Verrückten die Maschine benutzen? Von Mademoiselle Pommier wissen wir, was dann passieren wird.«
Alle Augen richten sich auf mich und ich wünsche mir, mich unter dem Tisch verstecken zu können.
»Sie könnten die ganze Insel auslöschen«, fährt Adeline fort. »Und sie würden auf Generationen hinaus schreckliches Leid über ihre Nachkommen – vielleicht sogar über uns alle – bringen.« Sie schnaubt. »Ich denke, vor diesem Hintergrund sollten wir alle bereit sein, das eine oder andere Opfer zu bringen.«
»Wissen die Eisenkreuzer denn überhaupt, wie man die Maschine bedient?«, erkundigt sich Seymour, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander.
»Schwer zu sagen«, seufzt Adeline. »Aber wir müssen im Zweifel davon ausgehen, dass sie es wissen, auch wenn ich nicht wüsste, woher sie das wissen sollten.« Sie wendet sich wieder der Pinnwand zu. »Da das nun geklärt ist, kommen wir zur anderen Seite unseres Vorhabens. Und damit meine ich, dass wir die Maschine finden müssen. Am besten noch heute. Nur, für den Fall, dass die Eisenkreuzer unseren Bluff durchschauen oder die Maschine trotzdem einsetzen wollen.« Sie deutet mit ihrem Stock auf das Poster für die Neujahrsfeierlichkeiten. »Der Prinz und die Joumin-Delegation befinden sich zurzeit in ihrem Hotel gleich hier um die Ecke.«
Mein Hotel, denke ich.
»Aber morgen haben sie ein straffes Programm vor sich. Sie werden der Einweihung eines neuen Handelsschiffs, der Königin des Nordens, beiwohnen. Anschließend werden sie mit dem Präsidenten und der Regierungsfraktion zu Mittag essen. Am Nachmittag wird der Prinz sein allererstes Radio-Interview geben. Danach möchte er den traditionellen Nachmittagstee mit einigen ausgewählten Sprechern der Jouyan-Gemeinde im Foyer des Lou-Tan-Theaters einnehmen und kurz darauf wird er im Muscheltempel zum Gebet erwartet. Am Abend stehen dann die Neujahrsfeierlichkeiten in Holting auf dem Programm.« Adeline wendet sich wieder den Versammelten zu. »Ich habe bereits mit dem Prinzen, seinen Ministern und Unterhändlern gesprochen und sie über die Gefahren in Kenntnis gesetzt.«
»Sie haben was?«, keucht der Präsident. Auch die Politiker neben ihm wirken empört.
»Keine Sorge«, erwidert Adeline beschwichtigend. »Ich habe keine Details verraten.«
»Aber Ihr Vorgehen könnte trotzdem zu politischen Verwicklungen führen.«
»Wir sind längst politisch verwickelt«, bemerkt Adeline. »Falls Ihnen das nicht aufgefallen sein sollte.«
Ich schmunzele. Dabei fällt mein Blick auf eine Seite der alten Baupläne, die inzwischen ganz oben auf dem Stapel liegt und das Lächeln erstarrt auf meinen Lippen.
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