61) Drück mich

Der Rest der Nacht vergeht wie in einem Rausch. Die Gendarmen geleiten Adeline und mich zum Regierungspalast, der schräg gegenüber dem Parlament zu finden ist. Dort beziehen wir nach kurzer Diskussion mit Wachpersonal und Hauswirtschafterinnen mehrere Räumlichkeiten unter dem Dach. Während ich mich auf die Suche nach jemandem mache, den ich drücken kann, veranlasst Adeline alle erforderlichen Maßnahmen zur Ergreifung der Übeltäter.

Als ich von meinem kurzen Druden-Stelldichein zurückkehre, herrscht im Palast ein ziemliches Gewusel und Gewimmel. Offenbar haben Adeline und Faucon alle Gendarmen in ganz Tournesol zusammengetrommelt. An einer großen Pinnwand haben sie den Verlauf der Erpressung mit den wichtigsten Örtlichkeiten und Eckdaten skizziert. Daneben hängt ein großes Poster mit dem Programm der Neujahrsfeierlichkeiten. Überall hat Adeline Anmerkungen hinterlassen, die ich jedoch weder richtig entziffern noch vollständig verstehen kann.

Auf dem Tisch im Zentrum unserer Kommandozentrale liegen die Baupläne ausgebreitet. Mir fällt auf, dass es sich um zwei Stapel mit Plänen handelt, die unterschiedlichen Alters zu sein scheinen. Auch das Papier unterscheidet sich. Nur die Handschrift ist jeweils identisch.

Während Gendarmen, Lieferanten und Boten um mich herumwuseln und die Fernsprechgeräte im Nebenraum heißlaufen, ziehe ich mir einen Stuhl heran und blättere durch die Notizen von Hubert Samedi. Es ist nicht so, dass ich nach etwas Bestimmtem suchen würde, aber auf diese Weise habe ich wenigstens ein bisschen Ruhe, um meine Gedanken und Gefühle zu sortieren.

Allerdings werde ich schon nach wenigen Minuten unterbrochen.

»Hier, Mademoiselle Pommier«, sagt Adeline und schiebt mir einen Teller mit Zuckergebäck und Weintrauben unter die Nase. »Bedienen Sie sich. Sie brauchen die Energie.«

»Danke«, murmele ich und nehme mir einen Keks.

Adeline zieht an einer Pfeife und lässt ihren Blick über die ausgebreiteten Pläne schweifen. »Suchen Sie nach etwas Konkretem?«

»Nein«, antworte ich und fahre mit dem Finger die Linien einer Skizze nach. Offenbar eine frühe Skizze, denn die Zeichnung hat nicht viel mit der Maschine aus meinem Traum zu tun. Vielleicht sind die Veränderungen aber auch auf Narcisse' Fantasie zurückzuführen. »Was ist der Unterschied zwischen diesen Plänen?«, frage ich und deute auf die beiden Papierstapel.

»Es ist Ihnen aufgefallen.« Adeline schmunzelt. Ihr Pfeifenrauch riecht aromatisch und ein bisschen süßlich, nach Mandel oder Vanille. Er erinnert mich an meinen Vater, der seine Pfeife aufgrund der horrenden Tabakkosten immer nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank gekramt hat. »Diese Unterlagen sind die Pläne, die wir aus dem Geldhaus gestohlen haben«, sagt Adeline und deutet mit dem Stiel ihrer Pfeife auf den linken der beiden Stapel. »Narcisse muss sie in Ellyrien von den Elfen bekommen haben, die sie vermutlich von Hubert Samedi haben. Die anderen Pläne sind älter und schon vor Samedis Abreise nach Ellyrien entstanden. Schwer zu sagen, welche die Maschine besser abbilden.«

Die Tür öffnet sich und Haricot stürmt herein. Seine Hände sind mit Mullbinden umwickelt und seine abgeflammten Augenbrauen verleihen ihm ein eher wildes und unheimliches Aussehen. Mit schnellen Schritten durchquert er den Raum.

Adeline entschuldigt sich und läuft ihm nach. Die beiden verschwinden im Nebenraum mit den Fernsprechern und schließen die Tür hinter sich.

Ich will mich gerade wieder den Plänen widmen, da öffnet sich die Tür erneut. Diesmal ist es Étienne, der im Türrahmen erscheint. Mit einer Kopfbewegung fordert er mich dazu auf, ihm zu folgen. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

Wir laufen einen langen Flur mit holzvertäfelten Wänden hinunter. An den Wänden hängen goldgerahmte Ölgemälde ehemaliger Präsidenten und in den Wandnischen zwischen den Türen und marmornen Blendsäulen stehen immergrüne Topfpflanzen mit federförmigen Blättern.

»Was ist?«, frage ich beim Laufen. »Wie geht es dir? Was ist mit deiner Wunde?«

Doch Étienne antwortet nicht. Stattdessen rüttelt er an den Türgriffen, aber die meisten Türen scheinen abgeschlossen zu sein. Erst ganz am Ende des Korridors werden wir fündig.

»Hier«, haucht Étienne, fasst mich am Arm und zieht mich in eines der abzweigenden Zimmer.

»Was hast du-«

Étienne presst mich an die Wand und küsst mich fest auf den Mund.

Zuerst bin ich überrumpelt, aber dann lasse ich mich darauf ein, schlinge die Arme um seinen Hals und erwidere den Kuss. Étienne riecht, als ob er frisch gebadet hätte, und seine Kleidung sitzt nicht richtig. Langsam lasse ich meine Hände über seine breite Brust abwärts gleiten und vergewissere mich, dass ich unter seinem Hemd einen Verband spüren kann.

»Du musst dir keine Sorgen machen«, flüstert Étienne und lässt die Lippen an meinem Hals entlangwandern. Seine Küsse brennen auf meiner Haut.

»Natürlich mache ich mir Sorgen«, erwidere ich.

»Ich hab doch gesagt ... nur eine Fleischwunde.« Étiennes Lippen erreichen mein Dekolleté und ich kann mir ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Doch so sehr ich Étienne auch will, muss ich gestehen, dass ich Anbetracht der zurückliegenden Ereignisse nicht richtig in Stimmung bin.

Étienne scheint das auch zu spüren. »Was ist los?«

»Nichts.« Ich lächle und streiche ihm die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Sanft streichele ich seine stoppeligen Wangen. »Aber ich glaube, ich will jetzt erst einmal diese Maschine finden.«

»Na, ich natürlich auch«, erwidert Étienne.

Ich spitze spöttisch die Lippen. »Ja?«

»Und wie.«

Étienne stützt sich über mir mit dem Arm an der Wand ab. Ich komme nicht umhin, seine reine, übermächtige Körperlichkeit zu bewundern. Vielleicht liegt es daran, dass ich von seinem Fluch weiß, aber aus irgendeinem Grund haben seine Bewegungen manchmal etwas Animalisches an sich. Nicht wie Faucon, der mich an eine Eidechse oder eine Schlange erinnert, sondern eher wie ein großes, kraftvolles Tier. Ein Bär oder ein Tiger. Und ich muss auch gestehen, dass ich diese wilde Seite von ihm durchaus anziehend finde.

»Woran denkst du gerade?«, will Étienne wissen.

Ich merke, wie mir eine leichte Hitze ins Gesicht steigt. »Nichts.«

»Nichts«, wiederholt Étienne und streichelt meine Wange. Seine dunklen Augen funkeln belustigt. »Ich dachte, du könntest vielleicht jemanden zum Drücken gebrauchen.«

»Danke, aber das habe ich schon hinter mich gebracht.«

Étienne zieht die Augenbrauen hoch. »Ach, wirklich?«

»Ja, wieso?«

»Nichts«, sagt Étienne schnell. Nach kurzem Schweigen setzt er hinterher: »Und wen hast du gedrückt?«

Mir kommt ein Verdacht. »Jetzt sag nicht, dass du eifersüchtig bist.«

»Nicht doch.«

»Hört sich aber so an.«

»Nun ... na ja ...« Étienne kratzt sich am Kopf. »Ich muss mich vielleicht einfach erst daran gewöhnen, dass du nachts in die Betten fremder Menschen kletterst.«

»Das ist keine körperliche Sache, das weißt du, oder?«

»Sicher.«

»Und es ist auch nicht angenehm. Für keinen der Beteiligten.«

Étienne zuckt mit den Schultern.

»Was soll das denn heißen?«, hake ich nach.

»Ach«, macht Étienne.

Ich lege den Kopf schief. »Was?«

»Von einer schönen Frau gedrückt zu werden ... da kann ich mir wirklich Schlimmeres vorstellen.«

»Du möchtest also wirklich, dass ich dich jede Nacht drücke?«

Étienne löst sich von der Wand und deutet eine Verneigung an. »Es wäre mir eine Ehre und ein persönliches Vergnügen.«

Ich muss lachen. »Du Spinner! Der Schlafmangel un die Albträume würden dich über kurz oder lang verrückt machen.«

»Das Risiko würde ich eingehen.«

»Nein«, sage ich kopfschüttelnd. »Das kommt gar nicht in Frage. Ich habe das schon einmal jemandem angetan und musste die Konsequenzen spüren. Noch einmal mache ich das nicht.«

»Du redest von deiner Schwester?«

»Ich habe dir doch schon erzählt, was ich ihr angetan habe«, erwidere ich. »Es wurde so schlimm, dass meine Eltern darauf aufmerksam geworden sind. Ich habe ihnen alles gebeichtet und nur zwei Wochen später hat meine Mutter mich weggebracht.«

Étienne lehnt sich neben mich an die Wand. Im Halbdunkeln sind die Konturen seines Gesichts weicher und weniger herb. Man könnte ihn fast für hübsch halten, auch wenn ich eigentlich ganz froh bin, dass er kein so ein Milchgesicht hat wie Rémy Matisse. »Wohin hat sie dich gebracht?«

»Weg«, antworte ich schulterzuckend. »Weit weg. Sie wollte wohl, dass ich nie wieder nach Hause finde.« Ich lächle schwach. »Aber ich bin zäher als ich aussehe.«

Étienne erwidert mein Lächeln. »Das stimmt. Du bist zäh wie Schuhleder.«

Er lässt seinen Blick durch das dunkle Zimmer wandern. Die Konturen der Möbel deuten auf ein Büro hin. Durch das Fenster am anderen Ende des Raumes sind die Umrisse der hell erleuchteten Kuranlage zu erkennen. Obwohl wir uns mitten im Stadtzentrum befinden, ist es angenehm still.

»Aber ...«, sagt Étienne nach einer Weile. »... du musst keine Angst davor haben, dass ich dich irgendwann irgendwo aussetzen werde.«

Mein erster Impuls ist es, ihm zu widersprechen. Ich weiß, dass Étienne das niemals tun würde. Aber letztendlich hat er vielleicht nicht ganz Unrecht. Da ist diese Angst in mir. Diese Angst davor, nicht nur verlassen, sondern auf brutalste Weise im Stich gelassen zu werden. Vielleicht dauert es deshalb so lange, bis ich mich anderen Menschen öffnen kann. Ich denke, wenn ich Albträume hätte, würde ich vom Alleinsein träumen – und von Orangenbäumen.

»Ich weiß«, sage ich  und taste nach Étiennes Hand. Wir verschränken die Finger ineinander. »Aber ich will dich trotzdem nicht jede Nacht drücken. Jedenfalls nicht ...« Ich drücke seine Hand. »... auf Druden-Art.«

»Ach ja?« Étiennes Mundwinkel zucken. »Die Nicht-Druden-Art des Drückens interessiert mich sehr.«

»Kann ich mir vorstellen.« Ich entziehe Étienne meine Hand, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn auf die Wange. »Wenn wir die Maschine gefunden haben, zeige ich dir, was ich damit meine.«

Étiennes Augen funkeln vergnügt. Ich genieße das Begehren in seinem Blick, während ich zur Tür hinausschlüpfe und den Weg zurücklaufe, den wir gekommen sind.


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